Das ukrainische Staatsoberhaupt mischt sich in innere Kirchenangelegenheiten ein und wird dabei von der "westlichen Wertegemeinschaft" unterstützt. Derweil nehmen Angriffe auf Gotteshäuser der ukrainisch-orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats durch nationalistische, antirussische Aktivisten immer stärker zu.
Jim Jatras ist ein in Washington ansässiger Anwalt, politischer Analyst und Spezialist für Medien- und Regierungsangelegenheiten und hat sich den Vorgang der von Präsident Petro Poroschenko angestrebten "religiösen Unabhängigkeit der Ukraine" genauer angesehen.
von Jim Jatras
Eine der umstrittensten und bedeutendsten Kontroversen in der heutigen Welt ist gleichzeitig eine, die am wenigsten verstanden wird. Zum Teil liegt das daran, dass es sich um Fragen des Glaubens und der Kirchenführung handelt, deren Bedeutung insbesondere von Menschen mit einem weltlichen Selbstverständnis unterschätzt wird, die "Religion" an sich missbilligen.
Das ist ein Fehler - vor allem in Bezug auf den Sturm, der kurz davor zu stehen scheint, die Ukraine in einen neuen Zyklus der Gewalt zu stürzen. Dieser Sturm könnte losbrechen, wenn der Ökumenische Patriarch Bartholomäus von Konstantinopel eine "autokephale" (eigenständig regierende) orthodoxe Kirche in der Ukraine gegen die Einwände der russisch-orthodoxen Kirche anerkennt, zu der die ukrainische Kirche gehört.
Diese Angelegenheit wird in den westlichen Medien oft fälschlicherweise derart dargestellt, als habe Konstantinopel lediglich der Bitte der ukrainisch-orthodoxen Kirche um eine Autokephalie stattgegeben. Das ist ungenau. Die einzige Körperschaft der ukrainisch-orthodoxen Kirche, der vom Rest der orthodoxen christlichen Welt als kanonisch anerkannt wird - sogar unter Einbeziehung Konstantinopels - ist der autonome Teil der russisch-orthodoxen Kirche unter der Autorität des Metropoliten von Kiew, Onufrij, der keine Autokephalie fordert.
Wer stellt also einen solchen Antrag auf Autokephalie? Es waren Menschen, die dazu keine Befugnis haben. In erster Linie handelt es sich um ukrainische Politiker – angefangen bei Präsident Petro Poroschenko (dessen eigene orthodoxe Zugehörigkeit in Frage gestellt wird), der offensichtlich darauf spekuliert, dass sich seine Chance zur Widerwahl im nächsten Jahr verbessern, wenn er die Gründung einer unabhängigen ukrainischen Nationalkirche vorantreibt, die vollständig von Russland getrennt ist. Nicht zu vergessen Poroschenkos politische Rivalin Julia Timoschenko, die ebenfalls für einen solchen Schritt ist. Die Befürwortung der Autokephalie durch die beiden Politiker zeigt explizit, dass ihre Ziele politischer Natur sind. "In Kürze werden wir eine unabhängige ukrainische Kirche als Teil einer unabhängigen Ukraine haben. Dies wird eine spirituelle Unabhängigkeit von Russland schaffen", sagte Poroschenko der Washington Post.
Auch der so genannte "Patriarch Filaret" Denisenko und seine angeblich ukrainisch-orthodoxe Kirche des "Kiewer Patriarchats", die von niemandem als kanonisch anerkannt wird, fordern die Autokephalie. Denisenko, der 1997 von der russisch-orthodoxen Kirche exkommuniziert wurde, hofft, dass sich das bald ändern wird. Patriarch Bartholomäus hat zwei Gesandte ("Exarchen") aus den USA und Kanada in die Ukraine geschickt, um sich mit Denisenko zu treffen und möglicherweise sogar dessen "Bischöfe" zu weihen, um ihnen damit einen angeblich gültigen Status zu verleihen.
Leider kommt es in dieser Frage auch zu Einmischungen aus einer anderen Richtung, die rein politischer Natur ist. Westliche Regierungen sehen eine geopolitische Chance, die kirchliche Krise in der Ukraine zu verschärfen und Konstantinopel gegen Moskau in Stellung zu bringen. Sie erhoffen sich, dass dadurch die geopolitische "Soft Power" Russlands untergraben wird und sich Russen und Ukrainer weiter voneinander entfremden.
Mehr zum Thema - Orthodoxie ist kurz vor Spaltung: Patriarch Bartholomeos will Kiew Autokephalie gewähren
Valeria Z. Nollan, emeritierte Professorin für Russian Studies am Rhodes College, erklärte dazu:
Das eigentliche Ziel bei der Suche nach Autokephalie der ukrainisch-orthodoxen Kirche ist ein De-facto-Putsch: Ein politischer Putsch, der die Beziehungen zwischen der (West-)Ukraine und Russland vergiftete, fand bereits 2014 statt. Und eine weitere Art von Putsch - ein religiöser - soll nun die kanonischen Beziehungen zwischen der ukrainisch-orthodoxen Kirche und Moskau untergraben.
Die westlichen Befürworter dieser Spaltung sind in Bezug auf die politischen Aspekte genauso offenherzig wie die ukrainischen Politiker. Der deutsche Botschafter in Kiew, der bislang nicht durch einen besonderen theologischen Scharfsinn aufgefallen ist, meinte im Juli, dass die Autokephalie die ukrainische Staatlichkeit stärken würde. Der extrem russophobe Think Tank Atlantic Council, der Denisenko kürzlich in Washington empfing, stellte fest:
Da die russisch-orthodoxe Kirche die letzte Quelle von Putins Soft Power ist, ist die Bewegung der Ukraine aus Russlands Umlaufbahn heraus unumkehrbar.
Das US-Außenministerium, das zunächst angemessen erklärt hatte, dass "jede Entscheidung über die Autozephalie eine interne kirchliche Angelegenheit ist", verabschiedete sich Ende September von dieser Position in einer Erklärung:
Die Vereinigten Staaten respektieren die Fähigkeit der ukrainisch-orthodoxen religiösen Führer und Anhänger, die Autokephalie gemäß ihrem Glauben zu verfolgen. Wir respektieren den Ökumenischen Patriarchen als Stimme der religiösen Toleranz und des interreligiösen Dialogs.
Ohne sich direkt für eine Autokephalie auszusprechen, vermittelt diese Aussage unverkennbar den Eindruck ihrer Befürwortung. So fassten es auch die Medien auf, die beispielsweise berichteten: "Die USA unterstützen die Anfrage der ukrainischen Kirche nach Autokephalie". Das Lob des US-Außenministeriums für das Ökumenische Patriarchat unterstreicht diesen eindeutig beabsichtigten Eindruck.
An der Position des US-Außenministeriums ist vielleicht mehr dran, als auf den ersten Blick ersichtlich. Laut einem unbestätigten Bericht, der von Mitgliedern der russisch-orthodoxen Kirche außerhalb Russlands (einer autonomen, in New York ansässigen Gerichtsbarkeit des Moskauer Patriarchats) stammt, sollen Beamte des US-Außenministeriums - möglicherweise sogar US-Außenminister Mike Pompeo selbst - das griechisch-orthodoxe Erzbistum (ebenfalls mit Sitz in New York, aber Teil des Ökumenischen Patriarchats) gewarnt haben, dass die US-Regierung Kenntnis habe über den Diebstahl eines großen Geldbetrages in Höhe von rund zehn Millionen US-Dollar aus dem Budget für den Bau der griechisch-orthodoxen Kirche des Heiligen Nikolaus in New York (Dies wird weiter unten erläutert).
Dem Bericht zufolge ging die Warnung einher mit der Information, wonach US-Staatsanwälte im Besitz von Beweisen seien, die den Abzug dieser Gelder ins Ausland auf Befehl des Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus belegen würden. Es wurde demnach vorgeschlagen, dass Minister Pompeo die Augen vor diesem Diebstahl "verschließen" würde, wenn sich das Patriarchat von Konstantinopel im Austausch zugunsten der ukrainischen Autokephalie entscheiden würde - was dazu beigetragen haben soll, Patriarch Bartholomäus auf seinen derzeitigen Kurs zu bringen.
Nochmals, es muss betont werden, dass dieser Bericht unbestätigt ist. In der offiziellen Erklärung des griechischen Erzbistums wird zwar kein Wort über ein persönliches Einzelgespräch zwischen Pompeo und Erzbischof Demetrios verloren, doch der Austausch hätte auch zwischen untergeordneten Mitarbeitern auf beiden Seiten stattfinden können.
Was dem Bericht jedoch einen Hauch von Glaubwürdigkeit verleiht, ist die Tiefe des Skandals, auf den er sich bezieht. Kaum jemand außerhalb der orthodoxen christlichen Gemeinschaft wird sich daran erinnern, dass bei den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nur ein einziges Gotteshaus einer Glaubensrichtung zerstört wurde, das zugleich das einzige Gebäude außerhalb des World Trade Center-Komplexes war, das vollständig zerstört wurde.
Die Rede ist von der griechisch-orthodoxen Kirche des Heiligen Nikolaus in New York – eine kleine städtische Pfarrkirche, die am Ende des Ersten Weltkriegs errichtet wurde und dem Heiligen Nikolaus dem Wundertätigen gewidmet war, der bei den Griechen als Schutzpatron der Seeleute sehr beliebt ist. In der bescheidenen kleinen Kirche sollen sich Ikonen und Reliquien befunden haben, die der Pfarrei vom letzten russischen Zaren Nikolaus II. geschenkt worden waren, von denen nach der Zerstörung keine geborgen werden konnte.
Nach dem Angriff vom 11. September und nach einem langen Rechtsstreit mit der Hafenbehörde, die sich dem Wiederaufbau der Kirche widersetzte, startete das Erzbistum im Jahr 2011 eine umfangreiche Kampagne, um Mittel für den Wiederaufbau nach einem brillanten, innovativen Entwurf des renommierten spanischen Architekten Santiago Calatrava auf der Grundlage traditioneller byzantinischer Formen, einzusammeln. Sowohl wohlhabende als auch bescheidene Spender trugen mit Begeisterung zu den Bemühungen bei. Eine wichtige Rolle spielte dabei die erzbischöfliche Frauenorganisation, die Ladies Philoptochos, die die Kampagne als "heilige Mission" unterstützte:
Lasst uns gemeinsam die Kirche von Heiligen Nikolaus für alle zukünftigen Generationen und für die vielen Millionen Menschen wieder aufbauen, die jedes Jahr das neue World Trade Center, das Nationale Gedenkmuseum vom 11. September und unser nationales Heiligtum, das einzige Gotteshaus am Ground Zero, besuchen werden.
Bis Ende 2017 wurden fast 37 Millionen US-Dollar eingesammelt und der Bau dieser einzigartigen christlich-orthodoxen Präsenz im Herzen New Yorks schreitet zügig voran. Doch dann wurde der Bau im Dezember 2017 plötzlich aus Geldmangel gestoppt. Die Wiederaufnahme der Arbeiten würde einen geschätzten Betrag von 2 Millionen US-Dollar erfordern. Trotz der Verpflichtung einer großen Wirtschaftsprüfungsgesellschaft durch das Erzbistums zur Überprüfung des Vorfalls gibt es bislang keine klare Antwort darauf, was mit dem Geld passiert ist. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch die staatlichen Behörden von New York ermitteln. Forderungen nach einem Rücktritt von Erzbischof Demetrios wurden laut.
Und hier kommen wir zurück zur Ukraine. Wenn das US-Außenministerium den richtigen Knopf finden wollte, um den Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus anzuspornen, sich mit der Frage der ukrainischen Autokephalie zu befassen, dann ist es das griechische Erzbistum in den USA. Dabei sollte bedacht werden, dass Patriarch Bartholomäus in seiner türkischen Heimat praktisch keine lokale Gemeinde hat - nur wenige hundert, meist ältere Griechen leben noch im Istanbuler Stadtteil Fener. Was auch immer das Patriarchat aus anderen Quellen bezieht - die griechische Regierung, der Vatikan, der Ökumenische Rat der Kirchen - so besteht seine finanzielle Lebensader aus den Zuwendungen von Griechen (zu denen auch der Autor dieses Artikels gehört), die an Orten leben wie den USA, Australien und Neuseeland, die immer noch malerisch als "Diaspora" bezeichnet werden. Unter diesen sind die griechisch-stämmigen US-Amerikaner die größten Geldgeber.
Deshalb kamen die Geldmittel – laut den Quellen des Autors bis zu acht Millionen US-Dollar – größtenteils aus den USA, als Patriarch Bartholomäus im Jahr 2016 zum orthodoxen "Achten Ökumenischen Rat" (der erste seit dem Jahr 787!) aufrief. Das als Modernisierung des orthodoxen "Vatikan II." vorgesehene Ereignis war aufgrund eines von Moskau organisierten Boykotts zum Scheitern verurteilt. Die russisch-orthodoxe Kirche sah darin einen Versuch des Patriarchen Bartholomäus, päpstliche oder sogar imperiale Vorrechte zu erlangen, wie sie nun leider in der Ukraine zum Tragen kommen.
Es ist eine offene Frage, wie stark das Ökumenische Patriarchat die Griechen in den USA für eine solche extravagante Geldverschwendung wie den "Achten Ökumenischen Rat" zahlen lässt, die zum finanziellen Chaos im Erzbistum in New York beitrug und wodurch das US-Außenministerium möglicherweise ein Druckmittel erhielt, um den Patriarchen Bartholomäus in der Ukraine-Frage auf die gewünschte Linie zu drängen.
Auch wenn es sich bei der Kontroverse in der Ukraine weitgehend um eine Agenda der Politik und einen Kampf um die Vorherrschaft zwischen Konstantinopel und Moskau handelt, kommt ihr auch eine moralische und spirituelle Bedeutung zu. Es sei darauf hingewiesen, dass zu den leidenschaftlichsten "orthodoxen" Befürwortern der ukrainischen Autozephalie US-Akademikergruppen gehören wie "Orthodoxy in Dialogue", die sich auf die LGBT- und "Genderqueer"-Ideologie beziehen, oder das kaum weniger revolutionäre "Orthodox Christian Studies Center" an der New Yorker Fordham University.
"Orthodoxy in Dialogue" verfasste kürzlich einen Aufruf an die Bischöfe aller orthodoxen Zuständigkeiten in den USA, bei dem ein orthodoxes Kreuz mit der LGBT-Regenbogensymbolik bildlich verknüpft wurde. Die Organisation rief die Geistlichen auf, ihr Engagement gegen Abtreibung zu verringern und homosexuelle Beziehungen und Transgender-Identitäten nicht mehr zu verurteilen.
Niemand - und schon gar nicht der Autor - sollte Patriarch Bartholomäus sowie die meisten ukrainischen Politiker oder gar den falschen Patriarchen Denisenko unterstellen, mit solchen anti-orthodoxen Werten zu sympathisieren. Befürworter der ukrainischen Autokephalie wie "Orthodoxy in Dialogue" wissen, dass sie ihre Ziele nicht erreichen können, wenn die konziliare und traditionelle Struktur der Orthodoxie intakt bleibt. Deshalb begrüßen sie die Bemühungen Konstantinopels, die Macht zu zentralisieren und gleichzeitig die Kirche in Zwietracht zu stürzen, insbesondere die russische Kirche, die in einigen westlichen Kreisen verunglimpft wird - gerade weil sie ein globales Leuchtfeuer des traditionellen christlichen moralischen Zeugnisses ist.
Dieser Aspekt weist auf einen weiteren Grund für westliche Regierungen hin, die Autokephalie als spirituelle Offensive gegen Russland und die Orthodoxie zu unterstützen. Die infolge der Maidan-Proteste an die Macht gelangte ukrainische Führung reitet weiter auf der Welle der "europäischen Wahl" herum, die das ukrainische Volk im Jahr 2014 angeblich getroffen hat, doch möchte das vom Westen auferlegte moralische Begleitgepäck nicht mittragen. Letzteres wird durch die "Schwulenmärsche" symbolisiert, die gegen christlich-orthodoxe Einwände in Städten wie Athen, Belgrad, Bukarest, Kiew, Odessa, Podgorica, Sofia und Tiflis organisiert werden. Selbst unter der Trump-Regierung bewegen sich die USA mit unseren Freunden in der Europäischen Union im Gleichschritt, indem sie die vom Kommunismus befreiten Länder unter Druck setzen, damit sie solche "europäischen Werte" annehmen.
Die Ukrainer müssen sich vor allem fragen, warum die westlichen Regierungen so glücklich damit sind, Entwicklungen zu unterstützen, die die orthodoxe Kirche in eine weltweite Spaltung und die Ukraine in eine weitere Runde innerer Gewalt stürzen könnten. Die unerfreulichen Machenschaften hinter den Kulissen, von denen viele Details unter Verschluss bleiben, sollten die Ukrainer ebenfalls zum Innehalten bewegen.
RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.