von Andreas Richter
"Er steckt hinter allem" – unter dieser Überschrift veröffentlicht Spiegel Online eine Rezension des Buchs "Der Weg in die Unfreiheit" des US-amerikanischen Historikers Timothy Snyder. Um es vorwegzunehmen: Der Rezensent ist begeistert, es handle sich um eine "aufwühlende Lektüre, die Angst macht".
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Snyder gibt vor, in seinem Buch den Niedergang der westlichen Demokratien zu untersuchen, und der Schuldige scheint von vornherein ausgemacht. Es ist, klar, Russlands Präsident Wladimir Putin. Dieser stecke, so heißt es in der Rezension, "wie ein Mastermind hinter allen globalen Verwerfungen der jüngsten Vergangenheit" und sei "der weltweite Führer der extremen Rechten". Natürlich illustriert dann auch ein Foto den Artikel, auf dem Putin angemessen dämonisch lächelt und, so soll der Leser wohl glauben, auf den Untergang des Westens anstößt.
Das von Putin beherrschte Russland habe, so Snyder laut seinem Rezensenten, damit begonnen, "die westlichen Demokratien systematisch zu schwächen – mithilfe von Militäroperationen in der Ukraine, Cyberattacken in den USA, Zahlungen an Populisten. Snyder zufolge wären die Erfolge der politischen Rechten in Europa, der Brexit und die Wahl Trumps zum US-Präsidenten ohne russische Interventionen undenkbar gewesen."
Putin habe den Populisten das Gift gereicht, um die Demokratie weltweit zu vergiften. Auch Motive für das beschriebene schurkische Wirken des russischen Präsidenten werden genannt: die "Bedeutung von Männlichkeit und Homophobie für Putins Gedankenwelt" und nationalistische Ideen.
Das Ganze ist vollkommen ernst gemeint, zumindest ist an keiner Stelle Ironie zu erkennen. Die Begeisterung des Rezensenten über das Buch ist echt:
Ein solcher Leitfaden ist ihm in Form eines bemerkenswerten Hybridtextes gelungen: eine wissenschaftlich fundierte Analyse, anschaulich, provokant und tiefgehend zugleich. Vor allem aber macht dieses Buch Werbung: für das Streben nach Wahrheit in einer immer komplizierteren Welt. Vielleicht werden die Historiker des Jahres 2100 dann akribischen Rechercheuren wie Snyder ein Denkmal errichten.
Es sagt einiges über die Wissenschaft in unserem Jahrhundert aus, wenn ein "angesehener Historiker" eine Person für alles verantwortlich macht, das seiner Meinung nach in den letzten Jahren in der Welt schief gelaufen ist. Selten dürfte in der Weltgeschichte ein einzelner Mann so viel Einfluss gehabt haben, wie er Putin hier zugeschrieben wird. Und wie ein einzelnes Land mit eher begrenzten Ressourcen das ihm in diesem Buch Zugeschriebene bewerkstelligt haben soll, bleibt auch rätselhaft.
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Es muss nicht betont werden, dass es für die hier behauptete russische Einflussnahme in den wenigsten Fällen Beweise gibt, für die westlichen Medien gelten sie meist als Tatsache, für den Spiegel ohnehin. Die eigentliche Frage ist, wie ein Historiker, der auch Sozialwissenschaftler ist, ernsthaft behaupten kann, dass derartig tiefgreifende politische Prozesse, wie die, um die es hier geht, von außen induziert und nicht aus der Gesellschaft heraus entstanden sein sollen.
Wer den Aufstieg der sogenannten Populisten ergründen will, sollte zuerst auf die gesellschaftlichen Umwälzungen in den westlichen Ländern blicken, auf das Abgehängtsein immer größerer Teile der Gesellschaft, die ökonomische Ausweglosigkeit ganzer Regionen, der um sich greifenden Abstiegsangst. All das sind Folgen der neoliberalen Wende und der konsequenten Unterwerfung aller Lebensbereiche unter den Markt seit den Achtzigerjahren.
Wer stattdessen als Wissenschaftler ernsthaft eine Art Superschurken kreiert, den kann man unmöglich ernst nehmen. Und wenn ein Spiegel-Online-Journalist einem solch "akribischem Rechercheur" für "sein "Streben nach Wahrheit" ein Denkmal setzen möchte, stellt er sich selbst und seinem Medium damit auch ein Zeugnis aus.
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