von Andreas Richter
In einem offenen Brief haben Hunderte Kulturschaffende den Rücktritt von Bundesinnenminister Horst Seehofer gefordert. Zu den etwa 290 Erstunterzeichnern des Briefes zählen zahlreiche Prominente, unter ihnen der Dramatiker Moritz Rinke, der zu den Initiatoren gehört, der Berlinale-Chef Dieter Kosslick, die Schauspieler Meret Becker, Jochen Busse, Hugo Egon Balder und Peter Lohmeyer, die Musikerin Inga Humpe und Autoren wie Ronja von Rönne und Terezia Mora.
Das Schreiben trägt den hochtrabenden Titel "Würde, Verantwortung, Demokratie". Die Künstler werfen Seehofer vor, die Arbeit der Regierung zu "sabotieren", dem Ansehen des Landes zu schaden, mit seiner Aussage, dass die Migration die Mutter aller Probleme sei, die 18,6 Millionen Menschen mit ausländischen Wurzeln in "Geiselhaft" zu nehmen und die "rassistischen und kriminellen Übergriffe" von Chemnitz bagatellisiert zu haben.
Die Künstler bekunden ferner ihr Entsetzen über die Beförderung Hans-Georg Maaßens zum Staatssekretär, die politische Kräfte fördere, die "sich nicht eindeutig von den Chemnitzer Ereignissen abgrenzen". Das Schreiben endet mit einer Art Wertebekenntnis und der Forderung, dass Seehofer zurücktreten müsse:
Wir wollen eine stabile demokratische Gesellschaft, in der alle Bürgerinnen und Bürger ihren Platz finden und Schutzbedürftigen nach Kräften geholfen wird. Dieses Land braucht eine Bundesinnenpolitik, die sich humanitärer Werte bewusst ist.
Seehofer beschädigt die Werte unserer Verfassung. Sein Verhalten ist provozierend, rückwärtsgewandt und würdelos gegenüber den Menschen. So verstellt er den Weg in eine zukunftsfähige deutsche Gesellschaft. Er einigt das Land nicht, er spaltet es.
Horst Seehofer sollte – noch vor der Landtagswahl in Bayern – vom Amt des Bundesinnenministers zurücktreten.
Der Brief der Künstler ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Zunächst einmal der Tonfall: Die Rede ist von Sabotieren, Bagatellisieren, von humanitären Werten. Die Autoren sehen sich natürlich auf der richtigen Seite. Dass sie Seehofer unterstellen, das Land zu spalten, ist insofern kurios, als dass ebenjener Brief Ausdruck dieser Spaltung ist. Die Künstler zeigen damit, dass sie sich in der gleichen Blase bewegen wie der Großteil des medialen und politischen Establishments.
Zweitens ist die Art der Wortmeldung interessant. Sie wirkt wie eine Bittschrift an eine über den Dingen stehende Regierung, sich doch bitte an die hier postulierten Werte zu halten, sie umzusetzen und einen unbotmäßigen Minister zu entlassen. Damit ist dieser Brief kein Beitrag zu einer demokratischen Debatte, sondern Ausdruck autoritären Denkens. Über Migration darf nicht diskutiert werden, Punkt.
Drittens dürfte die Wortmeldung der Künstler Horst Seehofer im bayerischen Landtagswahlkampf durchaus nicht ungelegen kommen. Er kann sich als Verteidiger der einfachen Leute darstellen, die sich selbst mit ihren nicht ins Schema der Eliten passenden Ansichten durchaus nicht als rechtsextrem verstehen. Wenn die CSU damit ein Ergebnis erzielt, das für eine Koalition mit den Freien Wählern ausreicht, wäre das für Seehofer ein Erfolg, für die Kulturschaffenden ein Eigentor.
Viertens ist auffällig, dass unter den 290 Unterzeichnern unterproportional wenige Ostdeutsche sind. Eine Stichprobe ergibt einen Anteil von zwischen fünf und zehn Prozent, obwohl die Ostdeutschen im Kulturbetrieb sonst eher überrepräsentiert sind. Dies legt nahe, dass sich die ostdeutschen Künstler noch näher an der sozialen Realität ihrer Mitmenschen bewegen oder sich doch wenigstens nicht mit einem elitären Aufruf wie diesem gemein machen wollen.
Fünftens fällt auf, und das kann nicht überraschen, dass die Reaktionen auf diesen Brief in den sozialen Netzwerken genau die gesellschaftliche Spaltung in dieser Frage abbilden. Unter dem Hashtag #seehofer muss gehen findet sich bei Twitter viel Unterstützung für den Aufruf. Doch natürlich gibt es auch reichlich Spott und Kritik.
Der Sender n-tv twitterte zunächst: "Die üblichen links-grün-versifften Künstler haben sich zusammengetan und fordern den Rücktritt Seehofers", zog den Tweet aber Minuten später mit der Behauptung zurück, die Ironie sei leider nicht verstanden worden.
Der Brief der Kulturschaffenden belegt, dass sie in der gegenwärtigen politisch-gesellschaftlichen Krise den Überblick verloren haben. Sie stehen damit nicht allein.
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