von Em Ell
Weitere Teile dieser Serie:
Teil I – "Spanien ist anders" – Die Diktatur stirbt im Bett
Teil II – Spaniens "Gatopardismo" und nationale Projekte
Teil III – Spanien in der Krise der "marktkonformen Demokratie"
2008 – Das Platzen der Immobilienblase, des spanischen Modells und des nationalen Projekts
In einer Art Ironie bzw. Tragik der Geschichte begründete die Integration Spaniens in die EU und in die Eurozone sowohl den Erfolg als auch das Scheitern Spaniens. Sie bedingte einerseits den Erfolg und die Dimension des spanischen Wirtschaftsmodells der Blasenökonomie – das "Aufpumpen" der Immobilienblase –, das von der sozialdemokratischen (PSOE) und von der konservativen Volkspartei (PP) mitgetragen wurde, sowie die jeweiligen nationalen Projekte beider Volkspartien. Und sie bedingte andererseits das Scheitern dieses Modells und dieser Projekte – mit dem Platzen der spanischen Immobilienblase 2008 und der seither anhaltenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Krise des Landes. Denn die Ausrichtung und Entwicklung der spanischen Wirtschaft und der nationalen politischen Projekte für das Land waren maßgeblich durch die Strukturen und die Entwicklungen der EU und der Eurozone selbst vorgegeben und daran orientiert: sowohl die Art und speziell die Dimension – und dadurch der Keim des Scheiterns – des Wirtschaftsmodells als Blasenökonmie als auch das (noch) interventionistische Staatsmodell der PSOE und das (bereits klar neoliberale) kapitalistische Staatsmodell der PP.
Der Erfolg dieses spanischen Wirtschaftsmodells war die einende Klammer für den Erfolg bzw. die breite Akzeptanz des politischen und wirtschaftlichen Systems der Nach-Franco-Zeit (des aus der Transición, dem Übergang von der Diktatur zur Demokratie, hervorgegangenen Verfassungsregimes von 1978) über Parteigrenzen und territoriale Grenzen hinweg. Die Klammer dieses Erfolgs einte Spanien gesellschaftlich, wirtschaftlich, parteipolitisch und territorial. Eine gewisse gesellschaftliche Einigung war möglich durch die spürbare Anhebung der Lebensbedingungen "auf europäisches Niveau" für die Masse der Bevölkerung und eine dementsprechende "Befriedung" der durch Putsch, ("Bürger-")Krieg und Franco-Diktatur gespaltenen "zwei Spanien". Wirtschaftliche Einigung kam durch zeitgemäße Konsolidierung und Expansion der bestehenden Verhältnisse und Interessen des Unternehmertums und Großkapitals. Eine parteipolitische Einigung ergab sich daraus, dass dieser Erfolg Spaniens die Basis für die jeweiligen nationalen Projekte von PSOE und PP bildete. Und die territoriale Einigung erfolgte über die Teilhabe traditionell eigenständiger Regionen (wie Baskenland, Katalonien und Andalusien) am Erfolg Gesamtspaniens und damit der Möglichkeit zur Konsolidierung und Expansion je eigener wirtschaftlicher Eliten und je eigener nationaler Projekte (insbesondere in Katalonien, denn analog zur PP im übrigen Spanien etablierte sich auch dort über die regionale konservative Volkspartei CiU, Convergència i Unió, unter ihrem langjährigen katalanischen Präsidenten Jordi Pujol, ein nicht minder korruptes System mit Verbindungen bis in die Franco-Zeit).
Insgesamt waren der Erfolg und die Dimension des "spanischen Modells" der Blasenökonomie und des mit diesem zusammenhängenden nationalen Projekts der PP von einer derartigen (und von der PP zur Zeit Aznars beabsichtigten) Größenordnung, dass es zu einem Selbstläufer wurde. Als solcher war er – so lange er am Laufen war – schwerlich zu stoppen, da zu viele von ihm profitierten, in und mit Spanien im Allgemeinen (Binnenwirtschaft und nationales wie internationales Finanzkapital) wie in der PP im Besonderen. Zwar verlor die haushoch favorisierte zweite PP-Regierung Aznars die Wahl 2004 infolge der spanischen Beteiligung am Irak-Krieg 2003 (die in großen Teilen der Bevölkerung unpopulär war) und insbesondere des verheerenden Bombenanschlags in Madrid wenige Tage vor dem Wahltermin (mit der fragwürdigen Instrumentalisierung des Anschlags im Wahlkampf durch die Aznar-Regierung). Doch auch die dadurch überraschenderweise wieder an die Macht gekommene PSOE wollte bzw. konnte während ihrer Regierungszeit unter José Luis Zapatero (2004-2011) diesen "Erfolg Spaniens" nicht stoppen (dies räumte sogar der Wirtschaftsminister der nachfolgenden PP-Regierung von Mariano Rajoy, Luis de Guindos, ausdrücklich ein).
Mit der Regierung von Zapatero übernahm daher die PSOE das "erfolgreiche" nationale Projekt der PP und machte sich dieses und dessen Erfolg im Weiteren zu eigen. Das nationale Projekt der PSOE bestand nunmehr daraus, Spanien nicht nur wirtschaftlich zu einem modernen und erfolgreichen kapitalistischen Land zu machen, sondern auch gesellschaftlich und sozial. Erreicht werden sollte dies insbesondere durch eine fortschrittliche Gesetzgebung in Geschlechterfragen, den Beginn der historischen Aufarbeitung der Franco-Diktatur sowie der Konsolidierung des spanischen Sozialstaates. Auch territorial bezog die PSOE eine im Vergleich zur PP modernere weil konziliantere Haltung hinsichtlich einer Neujustierung der verfassungsmäßigen Ordnung von 1978 zwischen dem spanischen Gesamtstaat und seinen autonomen Regionen, insbesondere Katalonien.
Doch mit dem Platzen der Immobilienblase 2008 platzte das "spanische Modell" und mit ihm der Erfolg des nationalen Projekts der PP unter Aznar und seiner Fortführung durch die PSOE unter Zapatero. Es kam, wie es kommen musste, angesichts der gegebenen tatsächlichen Machtverhältnisse sowohl innerhalb Spaniens als auch in der EU, der Eurozone und der globalen Ordnung des modernen Finanzkapitalismus. Spaniens einende Klammer verlor an Kraft – wirtschaftlich und sozial, parteipolitisch und territorial. Das Land rutschte in eine bis heute andauernde tiefe Krise ("la crisis").
La Crisis – Die Spaltung der parteipolitischen Linken ...
Unter dem Druck und im Korsett der EU und der Eurozone sowie der nationalen Wirtschaftselite kassierte die PSOE-Regierung von Zapatero ab dem Jahr 2010 ihre bisherige sozialstaatliche Politik. Sie schwenkte um auf eine drastische neoliberale Kürzungspolitik als Maßnahme gegen die schwere Wirtschaftskrise nach dem Platzen der Immobilienblase in Spanien. Statt vorherige umfangreiche Steuersenkungen für das Kapital – unter dem ausdrücklichen Motto "Steuersenkungen sind links" ("bajar los impuestos es de izquierdas") – zu revidieren, machte auch die spanische Sozialdemokratie frontal Politik gegen ihre eigene Anhängerschaft und Wählerschaft aus der breiten Masse der Bevölkerung. Ganz so, wie es die Sozialdemokratie des sogenannten "Dritten Weges" in anderen europäischen Staaten, etwa in Großbritannien (unter dem Labour-Premierminister Tony Blair), in Deutschland (unter dem SPD-Kanzler Schröder) und in Frankreich (unter dem sozialistischen Präsidenten Hollande) taten. Der international renommierte Volkswirtschaftler und Soziologe Vicenç Navarro schreibt zur Neoliberalisierung der PSOE:
Dieses Vergessen der Arbeiterklasse, die die größte Wählerbasis des Sozialismus war, ist einer der wichtigsten Indikatoren für diese Transformation und Rechtsbewegung der PSOE. Auf wirtschaftlicher Ebene zeigt sich diese vermeintliche Enttäuschung in der Einbeziehung der liberalen Wirtschaftspolitik in sein Wahlangebot und in seine Argumentation. Leicht zu erkennen sind diese Veränderungen in den Schriften des Ökonomen Jordi Sevilla, der zu denjenigen gehörte, die den Kandidaten und späteren Präsidenten Zapatero am meisten beeinflusst haben, und der heute als der wichtigste Wirtschaftsberater des PSOE-Kandidaten Pedro Sánchez für die Vorbereitung seines Wirtschaftsprogramms zuständig ist. Jordi Sevillas Buch 'De nuevo socialismo' ['Vom neuen Sozialismus'] war das Lehrbuch der PSOE und ihrer Regierung. In der Wahlkampfzeit und während seiner Amtszeit schrieb Herr Zapatero das Vorwort zu diesem Werk. In dem Versuch, die Sozialdemokratie zu modernisieren, übernahm der Autor die von Anthony Giddens an Spanien vererbten Postulate des 'Dritten Weges'. In diesem Text schrieb Jordi Sevilla, dass die Arbeiterklasse – "aufgrund der wachsenden und unaufhaltsamen Tendenz des Verschwindens der Arbeiter als unerbittliche Folge des kapitalistischen Akkumulationsmodells" – bereits verschwunden sei.
Die Resultate dieser Politik der PSOE sind wie andernorts: dramatische Prekarisierungen der Arbeitsbedingungen und tiefe soziale Spaltungen und Verunsicherungen in der Gesellschaft einhergehend mit verheerenden Wahlverlusten und drastischem Mitgliederschwund bis hin zur Spaltung der Sozialdemokratie. Denn die aus den massiven sozialen Protesten gegen die neoliberale "Reform"- und Austeritätspolitik der Regierung von Zapatero (und später von Rajoy) entstandene und 2014 gegründete linke Partei Podemos versammelt weite Teile der enttäuschten Anhänger- und Wählerschaft der PSOE. Statt nach links haben sich allerdings nicht wenige Wähler der PSOE auch nach rechts orientiert. Denn wenn es, wie schon bei der Korruption, auch bei der Politik gleich ist, wen man wählt, da die Rechten wie die Linken gleich korrupt sind bzw. die gleiche "alternativlose" neoliberale Politik machen, dann ist es "ganz gleich, wen man wählt" – im Zweifel mitunter eher das "Original", dem man durch seine traditionelle Nähe zur Wirtschaft den Wahlkampfslogan von der "Wirtschaftskompetenz" tendenziell leichter als glaubwürdig abkauft (oder man stimmt für Ciudadanos, die "moderne Rechte" und "neue Hoffnung").
Die parteipolitische Linke in Spanien zerfällt damit in eine systemkonforme ehemalige Volkspartei (PSOE) und eine (noch) systemkritische radikale Linke (Podemos). Gleichwohl ist Podemos durch ihre Wahlerfolge mittlerweile selbst Teil des Systems der repräsentativen Parteiendemokratie, wenn auch mit der Etikettierung "nicht regierungsfähig" und "linkspopulistisch" durch ihre politischen Gegner PP, Ciudadanos und PSOE. Wie in anderen europäischen Ländern ergibt sich damit auch in Spanien das Bild von einer "Systempartei mit mehreren Flügeln", hier gebildet aus den Parteien PP, Ciudadanos und PSOE, der eine "radikale" linke Oppositionspartei, Podemos, gegenüber steht. Doch deren Radikalität besteht letztlich lediglich darin, (weiterhin) genuin sozialdemokratische Positionen zu vertreten, die die traditionelle Sozialdemokratie seit ihrem neoliberalen Schwenk zur "Neuen Mitte" einer "klassenlosen Gesellschaft" und der "Politik der Alternativlosigkeit" längst geräumt hat – spätestens unter dem Druck und der Kontrolle der internationalen Finanzmärkte zur "Reform und Belebung der Wirtschaft".
Die PP konnte vorerst das Scheitern ihres nationalen Projekts bzw. das Platzen der Immobilienblase und die dadurch ausgelöste schwere Wirtschaftskrise erfolgreich auf die PSOE und die Regierung Zapatero abschieben und in den Wahlen 2011 auf allen staatlichen Ebenen erdrutschartige Siege einfahren. Dabei hatte die PP das durch die Wirtschaftskrise verängstigte und von der PSOE enttäuschte Wahlvolk insbesondere mit falschen Wahlversprechen geködert. Denn die großartigen Versprechen "keine weiteren Kürzungen" brach die PP-Regierung von Rajoy nach kürzester Zeit und auf ganzer Linie. Ihren dreisten Wahlbetrug rechtfertigte sie mit den "unerwartet leeren Kassen" eines "von den Sozialisten der PSOE ruinierten Spaniens", das sie nun "mit schmerzhaften doch alternativlosen Maßnahmen retten" und wieder zurück in das "ökonomische Wunder der Regierungszeit Aznars" führen muss. Doch der Erfolg bzw. das Scheitern ihres eigenen nationalen Projekts aus der Regierungszeit Aznars sollte auch die PP und die Regierung Rajoy wenige Jahre später einholen, sowohl ihr Projekt für das Land an sich als auch die PP selbst als Partei. Die Ursache für beides liegt in der aberwitzigen Dimension ihres nationalen Projektes begründet.
... und der parteipolitischen Rechten
Durch die Ausmaße der Blasenökonomie stürzte ihr Zusammenbruch die spanischen Banken und Sparkassen in eine existenzielle Krise und bedrohte (speziell nach dem Platzen der Immobilienblase in den USA 2007) das in Spanien "investierte" internationale Finanzsystem. Es folgte eine "Bankenrettung" bzw. das Eingreifen der EU zur "Rettung Spaniens". Diese verlief zwar unterhalb der Schwelle einer offiziellen "Rettung" wie in Griechenland (und dem dortigen Verlust staatlicher Souveränität), doch mit maßgeblichen Vorgaben (inklusive zur Änderung der Verfassung) für weitere neoliberale Reformen bzw. Deregulierungen der Wirtschaft und vor allem für die Umstrukturierung des Bankensektors. War ersteres sehr zum Gefallen der PP und ihrer Wirtschaftsklientel, sollten der PP aus letzterem noch unmittelbar Schwierigkeiten erwachsen. Denn die spanischen Sparkassen in ihrer bisherigen Form – und damit die Grundlage und das wesentliche Steuerungselement des nationalen Projekts der PP – mussten im Zuge der Reform des spanischen Bankensektors abgewickelt werden. Nach der Öffnung der spanischen Wirtschaft über die vorangegangenen Privatisierungsrunden infolge der Integration Spaniens in die EU und Eurozone, konnte nunmehr über die zwangsweise Umstrukturierung des spanischen Finanzsektors eine weitere Öffnung bzw. Übernahme der spanischen Wirtschaft durch internationales Kapital erfolgen (unter anderem via BlackRock). Durchaus analog zu der Entwicklung, die etwa Deutschland mit der Auflösung bzw. Umstrukturierung der sogenannten "Deutschland AG" gut eine Dekade zuvor durchlief, war dies nun in Spanien ein entscheidender Schritt zur Öffnung der "Spanien SA".
Doch der PP als Partei ist mit der Abwicklung der Sparkassen nicht nur ihr maßgebliches politisches (und wirtschaftliches) Instrument direkt abhanden gekommen. Sie selbst droht als Volkspartei abhanden zu kommen. Denn die Ausmaße der Verstrickung bzw. der Korrumpierung ihres nationalen Projekts schlagen nunmehr durch die Dimension der ans Licht kommenden Korruptionsfälle immer mehr auf die PP selbst durch. Vorläufige Schlusspunkte dieser Entwicklung sind der Sturz der Regierung Rajoy (nach einem Urteil im Korruptionsfall "Gürtel") durch das konstruktive Misstrauensvotum der PSOE unter Pedro Sánchez im Juni 2018 und der anschließende Rückzug Rajoys von der Spitze der PP, mit der Wahl Pablo Casados zu seinem Nachfolger. Beide Entwicklungen, die der Bankenkrise und der weiteren "zwangsweisen" Öffnung der spanischen Wirtschaft sowie die der tiefen Krise der PP, führen mit der Auflösung ihres nationalen Einflusses und Projekts zu entsprechenden Verschiebungen und Neupositionierungen innerhalb der spanischen Wirtschaft und ihrer Kapitalfraktionen. Auch in der parteipolitischen Rechten Spaniens zeigen sich Bruchlinien, speziell zwischen lokal und global verbundenen nationalen Fraktionen sowie zwischen territorialen Fraktionen innerhalb Spaniens (aktuell zwischen Katalonien und dem restlichen Spanien).
Der rasante Aufstieg der neoliberalen Partei Ciudadanos und ihres "smarten" Führers Albert Rivera ist auch vor diesem Hintergrund zu sehen. Er erfolgte im Zuge einer landesweiten Gründung und Etablierung der Ciudadanos als einer "doppelten Protestpartei" – einerseits einer "Protestpartei von rechts", als Entsprechung und als Konkurrenz zu Podemos als Protestpartei von links, sowie anderseits einer "Protestpartei für die Rechten", als Alternative zur korrupten und abgewirtschafteten PP. Beides drückt sich in den Worten eines Großbankers aus, der im Jahr 2014 öffentlich und unverblümt vom Wunsch nach einer Partei in einer Art "Podemos der Rechten" sprach. Der Erfolg von Ciudadanos als "moderne Rechte" und als ausdrückliches Gegengewicht zur linken Podemos sowie als Konkurrenz bzw. als Alternative zur "alten Rechten" der PP ist nicht zuletzt Ergebnis geschickten politischen Marketings. Schließlich ist in kürzester Zeit – und quasi aus dem Nichts – aus einer lediglich regionalen Partei in Katalonien (gegründet als Stimme des spanischen Nationalismus gegen den zunehmenden katalanischen Nationalismus) eine nationale politische Kraft entstanden, die die parteipolitische Rechte nicht nur dauerhaft spaltet, sondern sogar droht, die Führungsrolle der Rechten von der PP zu übernehmen.
Prinzipielle Linien der Spaltung zwischen der alten (PP) und der neuen Rechten (Ciudadanos) ergeben sich insbesondere aus der wirtschaftlichen Verflechtung und Anhängerschaft der PP vom lokalen Kleinunternehmen bis zum globalen Großkonzern, da ihre Verwurzelung als Volkspartei bis hinunter in die lokale Ebene reicht, gegenüber der kapitalistischen Weltläufigkeit und Modernität der Ciudadanos, die solch eine lokale Verwurzelung in der Breite nicht hat. Angesichts der für die PP lebensbedrohlichen Formen und Ausmaße der Korruption ließe sich im Groben eine Bruchlinie ziehen zwischen der plumpen altmodischen direkten Korruption mit Vetternwirtschaft, Briefumschlägen und Schwarzgeldkonten einerseits und der subtilen zeitgemäßeren politischen Korruption in Form von "unverzichtbaren" Expertenregierungen (Governance) und entsprechend gut geölten Drehtüren zwischen den Spitzen der Wirtschaft und der marktkonformen Politik andererseits (die sich "systemgemäß" auf den einschlägigen Ebenen auch und gerade für PP und PSOE drehen).
Finden sich zum politischen Marketing und den Bruchlinien der parteipolitischen Rechten in Spanien Entsprechungen in anderen europäischen Parteiendemokratien, so gibt es eine spanische Besonderheit bei dem, was andernorts als "Rechtspopulismus" bzw. als "nationale Frage" in der politischen Auseinandersetzung zunehmend eine Rolle spielt. Angesichts der territorialen Verfasstheit Spaniens und seines Erbes aus der Franco-Zeit infolge und in Form der Transición, ist beides integraler Bestandteil sowohl der PP als auch der Ciudadanos. Beide rechte Partien berufen sich auf ebendiese Transición, die Verfassung von 1978 und die nationale Einheit Spaniens. Ebenso wie die PSOE, für die dies als tatsächliches "Kind der Transición" umso grundsätzlicher gilt. Schließlich ist sie die in der Transición wieder auferstandene – und daher mit dieser unmittelbar existenziell verbundene – "Systempartei" des politischen Systems der Nach-Franco-Zeit. Gerade die PSOE ist somit als der Repräsentant (und bisherige Garant) dieses Systems schlechthin zugleich umso mehr dessen Geisel, weshalb sie bei den leisesten Tendenzen hin zu Änderungen am System umso wirksamer von der politischen Rechten auf den "Boden der Verfassung" zurück geholt bzw. als "Verfassungsverräter" und "Zerstörer Spaniens" denunziert werden kann. Für das Beschwören der nationalen Frage und des "Spanisch-Seins" in der Tradition der Transición – und damit der Franco-Zeit – ist es in Spanien daher nicht nötig, sich gegen äußere "Nicht-Spanier" bzw. Ausländer zu positionieren. Hierfür dient die nationale Frage innerhalb Spaniens, insbesondere zwischen Katalonien und Gesamtspanien – mit der hier wie dort entsprechend von der politischen Rechten, der katalanischen wie der spanischen, die tiefer liegende soziale Frage bisher äußerst wirksam verdeckt, übertönt und übergangen wird (Näheres zum katalanischen und zum spanischen Nationalismus und der aktuellen Zuspitzung der "katalanischen Frage" findet sich hier, hier und hier).
Nationale Unmöglichkeiten
Im Ergebnis und als Ausdruck des langen und eigentümlichen Weges Spaniens zu einem festen Mitglied der westlichen Wertegemeinschaft und ihrer marktkonformen Demokratie beschränken und konzentrieren sich die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten eines "nationalen Projekts für das Land" auf die nationale Frage in Spanien selbst – auf die Verfassung von 1978 als Ergebnis und Ausdruck der Transición von der Diktatur zur Demokratie und damit unmittelbar auch auf die Zeit Francos. Denn die nationalen Projekte als solche sind in Spanien im Rahmen dieser Entwicklung und Integration gescheitert. Die einende Klammer des Erfolges dieser nationalen Projekte verliert mit deren Scheitern an Kraft – gesellschaftlich, politisch, wirtschaftlich und territorial. Und all dies berührt unweigerlich und unmittelbar die Verfasstheit des Landes – und seine Verfassung.
Durch den besonderen Weg Spaniens entspricht das Rühren an dieser nationalen Frage zur Verfasstheit und Verfassung des Landes allerdings dem Öffnen der Büchse der Pandora. Die Verfassung von 1978 und die "Transición modélica" bilden weiterhin den Gründungsmythos des Spaniens der Nach-Franco-Zeit, den alle national "verantwortungsbewussten" Parteien wie PSOE, PP und Ciudadanos immer wieder bemühen und für sakrosankt erklären – und dies auch müssen, wollen sie nicht Gefahr laufen, von ihren verfassungstreuen parteipolitischen Konkurrenten und Gegnern als "Vaterlandsverräter" und "Zerstörer Spaniens" denunziert zu werden (gleichwohl war die Änderung dieser ansonsten sakrosankten Verfassung in Windeseile und großer Koalition aus PSOE und PP möglich, um den Vorrang des internationalen Schuldendienstes des Staates vor jeglichen nationalen Ausgaben auch in der spanischen Verfassung zu verankern). Die PSOE wie auch die anderen Parteien dieses Systems sind somit Gefangene eines Systems, das nur durch seinen Erfolg funktioniert hat und daher durch den Wegfall dieses Erfolges zwangsläufig dysfunktional geworden ist und wirkt.
Jede wirkliche, breite und offene politische Diskussion auch nur einzelner Aspekte der Verfassung Spaniens – etwa der territorialen Ordnung und Kompetenzen wie aktuell in der "katalanischen Frage" oder des Fortbestandes der Monarchie – droht unweigerlich größere Fragen aufzuwerfen: nach der Verfassung Spaniens und ihrer Reform insgesamt, nach der Nach-Franco-Zeit und damit der Franco-Zeit selbst, seinem Erbe und dem Umgang mit ihm, und vor allem nach der sozialen Frage. Derart grundsätzliche und systemische Fragen also, auf die – angesichts der Geschichte und der Dysfunktionalität des Systems der Nach-Franco-Zeit – die Parteien dieses Systems selbst keine wirkliche Antwort geben können. Das System der Nach-Franco-Zeit selbst in einer breiten politischen Diskussion infrage zu stellen, ist und bleibt insofern eine echte nationale Unmöglichkeit.
Zu dieser besonderen nationalen Unmöglichkeit Spaniens kommen verschärfend noch die generellen nationalen Unmöglichkeiten in Zeiten einer weiter fortschreitenden neoliberalen Transformation und Globalisierung der marktkonformen Demokratie des Westens hinzu. Nationale Projekte erscheinen obsolet in Zeiten, in denen von lokalen und regionalen Einheiten bis hinauf zu ganzen Staaten (und bis hinunter zu einzelnen Individuen) alles nur noch marktkonform als "Profitcenter" konzipiert, organisiert und optimiert wird und tatsächliche Macht weder von Politik und Parteiendemokratie noch gar vom Volk selbst ausgeht. In einem lesenswerten Beitrag beschreibt GegenStandpunkt, weshalb und in welcher Form heute gleichwohl "nationale Fragen" in der Politik auftauchen und
warum entgegen allen Beteuerungen, Trump sei ein aus der Art gefallener Psychopath, sein 'Politikstil' heute so in Mode und die aufgeklärt-demokratische Staatenwelt inzwischen bevölkert ist mit Sonnenkönigen vom Schlage eines Macron: Weil es eben nicht um einen Stil von Politik geht, sondern um ihren imperialistischen Kern: In der Konkurrenz gegeneinander bestreiten sich die Macher- und Nutznießernationen des globalisierten Kapitalismus wechselseitig die nationalen Erträge, um die es ihnen geht, und stellen sich deshalb reihum die Frage, was sie als nationale Mächte überhaupt noch vermögen und sind. Darum verlangen rund um den Globus Staatsführer ihren Völkern nationale Aufbrüche ab, von denen alle wissen, dass sie mit materiellen 'Besitzständen' der Massen und oft auch mit gewissen demokratischen Umständlichkeiten der staatlichen Herrschaft nicht verträglich sind. (Hervorhebungen im Original)
Als relative Nutznießernation arrangiert sich auch Spanien in diesem System globaler Profitkonkurrenz. So passen nicht zuletzt prominente Vertreter der spanischen (und katalanischen) wirtschaftlichen und politischen "nationalen Elite" der Rechten leicht ihre Positionen an die neue Zeit an, indem sie nicht mehr vorrangig ihr "nationales Geschäft" in Spanien (über die nationalen Sparkassen), sondern vielmehr ihr "internationales Geschäft" mit Spanien machen, als prädestinierte Türöffner, Beteiligte und Dienstleister des globalen Kapitals (über internationale Fondgesellschaften).
Politischer Schwebezustand
Eine nationale Frage, die insbesondere eine soziale Frage ist, kann unter all diesen Bedingungen weder in Spanien im Speziellen noch in anderen marktkonformen Parteiendemokratien des Westen im Allgemeinen wirklich – das heißt politisch wirksam – gestellt werden. Diese nationale und soziale Frage scheitert als "nationale Unmöglichkeit" in Spanien selbst am post-franquistischen System des sogenannten "modellhaften Übergangs von der Diktatur zur Demokratie" und der Verfassung von 1978, mit dem Gründungsmythos des "demokratischen Spaniens" vom "nationalen Frieden" (und Schweigen) und der "nationalen Einheit". Jenseits und zusätzlich zu dieser spanischen Besonderheit scheitert diese Frage am marktkonformen System der "Alternativlosigkeit", zu dem die Parteiendemokratien des Westens seit der neoliberalen Wende "reformiert" wurden und weiterhin werden. Die Diskreditierung des politischen Gegners in Spanien als "systemkritisch" ("anti-sistema") heißt somit zweierlei und wirkt gleichsam doppelt: "Verfassungsverräter" und "Zerstörer Spaniens" in Bezug auf das "System Spanien" sowie "Links-Populisten" und "kommunistische Spinner" in Bezug auf das "System Kapitalismus" (letzteres regelmäßig mit dem Verweis auf die "kommunistische Diktatur in Venezuela" und die "linken Chaoten in Griechenland").
Als Resultat und Ausdruck all dieser Entwicklungen befindet sich sowohl Spanien insgesamt als auch seine parteipolitische Landschaft derzeit in einer Art Schwebezustand. Zwar regiert die PSOE seit dem erfolgreichen konstruktiven Misstrauensvotum von Pedro Sánchez gegen Mariano Rajoy mit einer Minderheitsregierung, zudem auf europaweit einmalig schmaler parlamentarischer Basis. Doch sie hat große Chancen, diese Legislaturperiode auch in der Regierung zu beenden. Denn interessiert an einem jederzeit möglichen Sturz der Minderheitsregierung und anschließenden Neuwahlen ist derzeit nur die neoliberale rechte Partei Ciudadanos. Sie konnte schließlich in der "katalanischen Frage" und als "vernünftige Protestpartei" und damit sowohl als Alternative zur korrupten rechten PP als auch zur "radikalen" linken Podemos landesweit punkten und schneidet in aktuellen Wahlumfragen entsprechend gut ab. Die PSOE und Pedro Sánchez versuchen sich – speziell nach den internen Grabenkämpfen der vergangenen Jahre – in der Regierung zu konsolidieren und zu profilieren. Podemos ist insbesondere durch seine neutrale Haltung in der "katalanischen Frage" in seiner nationalen Position angreifbar und laut Umfragen geschwächt. Und die PP kämpft bis auf Weiteres nachhaltig mit ihren Korruptionsfällen und um ihr politisches Überleben als Volkspartei. Sie hat angesichts der bedrohlichen Konkurrenz von Ciudadanos in dieser Situation das geringste Interesse an Neuwahlen, in denen sie mit massiven Stimmenverlusten rechnen müsste und womöglich von Ciudadanos als führende rechte Partei verdrängt würde. Ob und wie der PP dies gelingt, scheint fraglich. Allein der neue und frisch gewählte Parteivorsitzende Pablo Casado ist bereits verstrickt in einen Fall – von Korruption.
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