von Andreas Richter
Am frühen Sonntagmorgen wird in Chemnitz ein Deutscher von zwei Asylbewerbern aus Syrien und dem Irak erstochen, zwei weitere werden schwer verletzt. Noch am selben Tag kommt es zu Protesten und vereinzelt zu ausländerfeindlichen Ausschreitungen. Am Montag ziehen Tausende Demonstranten, unter ihnen viele Rechtsextreme, durch die Stadt. Wieder gibt es Randale und Zusammenstöße mit Gegendemonstranten.
Seitdem tobt in Politik, Medien und sozialen Netzwerken eine Debatte, deren überwiegende Stoßrichtung klar ist. Die Rede ist von der "Schande von Chemnitz", die Chemnitzer, die Sachsen überhaupt seien Nazis, ungebildet und hätten von Demokratie keine Ahnung. Das Gewaltverbrechen hingegen: ein Einzelfall.
Diese dem eigentlichen Anlass folgende Debatte ist auf faszinierende und abstoßende Weise falsch, schief und verlogen. Die große Mehrheit der Chemnitzer ist weder rechtsextrem noch ausländerfeindlich. Wahrscheinlich nicht einmal die Mehrzahl der Demonstranten. Aber die Chemnitzer sind - wie die meisten Sachsen und Ostdeutschen - unzufrieden.
Die Bluttat vom Sonntag erleben sie eben nicht als Einzelfall, sondern als ein weiteres von Migranten verübtes Gewaltverbrechen und im weiteren Sinne als den Ausdruck eines völligen Staatsversagens. Warum wird das nicht ernstgenommen? Wie viele Einzelfälle muss es geben, damit sie nicht mehr als Einzelfälle gezählt werden? Wer Leuten, die sich abends nicht mehr aus dem Haus trauen, mit Statistiken kommt und von "gefühlter Angst" redet, hat das Problem nicht erkannt oder nicht verstanden.
Ja, Ostdeutsche haben ein Problem mit massenhafter Zuwanderung. Was das angeht, sind sie Osteuropäer und deutlich weniger "postmodern" als ihre westdeutschen Landsleute. Wer kommt, soll sich an die Regeln halten, so wie man ihnen das unlängst erst "beigebracht" hat. Dieses Bedürfnis nach klaren Regeln und deren Einhaltung hat mit den vielschichtigen Unsicherheiten in einer Gesellschaft zu tun, die seit 1990 in einen immer noch nicht abgeschlossenen Umbruch geführt wurde. Man kann das dumm oder piefig finden, einfach ignorieren sollte man es nicht, schon seit langem nicht mehr.
Natürlich haben diese Proteste als Ursache auch eine soziale Komponente. Die Ostdeutschen wurden von den verschiedenen Regierungen seit 1990 den "Marktkräften" überlassen, die über immer größere Bereiche ihres Lebens bestimmen. Das Leben ist insbesondere für den unteren Teil der Gesellschaft immer härter geworden, Angst vor sozialem Abstieg, Konkurrenz und Hysterie bestimmen aber auch zunehmend den Alltag der Mittelschicht, die versprochene Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen Ost und West ist bis heute nicht erreicht. Jeder ist ersetzbar, das haben die Ostdeutschen mittlerweile sehr persönlich gelernt. Dass Flüchtlinge deshalb zunächst einmal als potenzielle Konkurrenz im Kampf selbst um prekäre Arbeitsplätze und Wohnungen empfunden werden, sollte da nicht überraschen.
Solche Unzufriedenheit ist nicht nur in Chemnitz zu beobachten. Insofern sind die Vergleiche mit 1989 nicht ganz von der Hand zu weisen. Der offensichtliche Unterschied ist der, dass dieses Mal keine fertige Alternative vorgezeigt werden kann. Wer in dieser Situation Chemnitz, Sachsen und Ostdeutschland mit großem moralischen Gestus als Nazis abstempelt und beleidigt, anstatt die tatsächlich vorhandenen Probleme anzuerkennen, zu diskutieren und letztendlich zu beseitigen, treibt die Menschen dort den wahren Rechtsextremisten in die Arme.
Denn die gibt es ja wirklich, und es sind nicht wenige, in Ost und West. Ihr Auftreten auf den Demonstrationen ist eine Tatsache, ihre Angriffe auf unbeteiligte Migranten sind inakzeptabel. Nur muss an diesem Punkt auch festgestellt werden, dass bei dem angeblichen Pogrom am Sonntagabend niemand verletzt wurde und nicht viel mehr als ein Telefon zu Bruch ging. Vergleiche zur Kölner Silvesternacht und zu den Hamburger G-20-Krawallen sind an den Haaren herbeigezogen.
Für die Neonazis sind Ereignisse wie jetzt in Chemnitz ein Geschenk. Sie können sich als die wahren Vertreter des Volkes darstellen, weil es sonst keiner tut, und versuchen, sich an die Spitze der Proteste zu stellen. Aber sie werden damit nicht die wahren Volksvertreter. Zwischen den meisten ihrer politischen Vorstellungen und denen der Mehrzahl der Chemnitzer liegen Welten. Diese wären oft im linken politischen Spektrum besser aufgehoben. Dass die deutsche Linke ihnen bislang auf den Feldern Sicherheit und Migration so wenig anzubieten hat, ist ein Armutszeugnis.
Was derzeit in den Medien und - schlimmer noch - auch in den sozialen Netzwerken zu lesen ist, macht vor allem eines deutlich: Die Sachsen oder ganz allgemein die Ostdeutschen sind die einzige Minderheit, die noch ungestraft beleidigt und unter Generalverdacht gestellt werden kann. Oft genug von denen, die sonst von politischer Korrektheit nicht genug bekommen können. Das Ganze geht einher mit moralischer Überheblichkeit und Selbstgerechtigkeit, die wirklich schwer zu ertragen sind.
Medien, Politiker und Aktivisten, die sich hierzulande als Beschützer der Demokratie aufspielen, tragen in Wahrheit zu deren Erosion bei. Demokratie heißt eben auch, berechtigte Anliegen von Menschen wahrzunehmen, aufzugreifen und sie bis zu Grundsatzentscheidungen auf demokratischem Weg zu diskutieren und zu entscheiden – und nicht, wie 2015 mit der Grenzöffnung für mehrere Hunderttausend Flüchtlinge, durch die Hintertür und unter humanitärem Deckmantel zu dekretieren.
Das politische und mediale Establishment sollte von seinem hohen Ross heruntersteigen, sich der Anliegen der Menschen in Chemnitz und überall annehmen und vor allem mit den pauschalen Verdächtigungen und Beleidigungen aufhören. Sonst erreicht es genau das, was verhindern zu wollen es vorgibt: Das Verdrängen eines Teils der gesellschaftlichen Mitte aus dem demokratischen Spektrum und die Spaltung der Gesellschaft. Das wäre dann auch kein rein sächsisches oder ostdeutsches Problem mehr, die Bruchlinien sind bereits im ganzen Land zu besichtigen.
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