von Andreas Richter
Der emeritierte Historiker Heinrich August Winkler hat der Welt am Sonntag ein interessantes Interview gegeben.
Winkler ist der Öffentlichkeit vor allem durch sein mehrtausendseitiges Werk zu Deutschlands "langem Weg nach Westen" bekannt geworden, in dem er beschreibt, wie dieses Land nach langen Irrungen und Wirrungen mit der Vereinigung 1990 endlich im Westen angekommen sei. Winkler ist als "Historiker der Berliner Republik" bezeichnet worden, weil er in seinen Werken gewissermaßen einen geistigen Überbau für deren politische Orientierung nach innen und außen zusammengezimmert hat.
Im erwähnten WamS-Interview wird Winkler eine, nun, interessante Frage gestellt: "Wie verlässlich westlich ist die deutsche Gesellschaft?" Seine Antwort ist ambivalent und lässt sich so zusammenfassen: Westdeutschland habe sich der politischen Kultur des Westens geöffnet, aber in Ostdeutschland hätten "bis heute altdeutsche Vorurteile gegenüber der westlichen Demokratie (…) stärker überlebt".
Auf die Frage, was man nach 1990 hätte anders machen können, um auch im Osten die "Verwestlichung zu verankern", gibt Winkler folgende Antwort:
Ich hätte mir gewünscht, dass in der politischen Bildungsarbeit in den neuen Ländern den Grundlagen der westlichen Demokratie viel mehr Bedeutung beigemessen worden wäre, als dies geschehen ist. (…) Die personalpolitische Kontinuität im schulischen Bereich ging nach 1990 offenkundig viel zu weit.
Wäre in den Schulen des Ostens also ähnlich ausgekehrt worden wie in Verwaltung, Justiz, Armee und Hochschulen, dann, so lässt sich schließen, wären die Ostdeutschen heute "verlässlich westlich". Diese Aussage ist so irre, dass man es kaum glauben mag.
Winkler kennt sich aus mit politischer Bildungsarbeit und mit Personalpolitik. 1991 wurde er an die Berliner Humboldt-Universität berufen, wo er dafür sorgte, dass die historische Fakultät von DDR-Erbe und DDR-Mitarbeitern gründlich gereinigt wurde. Man darf vermuten, dass Winkler sich selbst als Förderer und Verbreiter des "normativen westlichen Projekts" im Osten einschätzt und schätzt.
Nur: Wer die Wende- und Nachwendejahre im Osten miterlebt hat, weiß, dass gerade Verfahren dieser Art viel zum Unmut unter den Ostdeutschen beigetragen haben – neben all den wirtschaftlichen und sozialen Enttäuschungen und unerfüllt gebliebenen Hoffnungen. Ein paar Tausend eingeflogene "Westwertekundelehrer" als Ersatz für die entlassenen Ostlehrer hätten Winklers Sache nicht gefördert, sondern ihr geschadet.
Winkler denkt gern in Schwarz und Weiß. Ostdeutsche dagegen verstehen sich oft als Pragmatiker, die bei großen Worten und dogmatischen Ansätzen schnell misstrauisch werden, egal ob diese von Regierungen oder Wissenschaftlern kommen. Die skeptische, angeblich illiberale Haltung der Ostdeutschen ist mit Sicherheit keine Folge einer ungenügenden Umerziehung, sondern Resultat des Widerspruchs zwischen den behaupteten westlichen Werten wie Freiheit und Gleichheit einerseits und der erlebten kapitalistischen Wirklichkeit andererseits.
Beim Lesen des Interviews wird deutlich, dass es für den Historiker Winkler bei der Verbreitung der liberalen westlichen Werte auch gerne einmal etwas illiberaler zugehen darf. Was den Erfolg des von ihm gepriesenen Westens angeht, scheinen Winkler allerdings mittlerweile selbst Zweifel zu kommen. Man möchte die Ostdeutschen dafür drücken, dass sie, ohne es zu merken, hinter das Lebenswerk dieses Mannes ein dickes Fragezeichen gesetzt haben.
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