von Gert-Ewen Ungar, Moskau
Als Deutscher, der anlässlich der WM für einen Monat nach Russland gereist ist, kann man sich für die deutsche Berichterstattung nur schämen. Sie ist in ihrer Verzerrung einfach nur noch peinlich. Das absolut unterirdische Niveau des deutschen Mainstreams lässt sich eigentlich nur noch in sarkastischer Weise kommentieren.
Im Vorfeld der Fußball-WM wurde im deutschen Mainstream bereits eindringlich eine Vielzahl von Themen düster ausgemalt: Von marodierenden Hooligans wurde berichtet, es wurde diskutiert, ob schwule Fans zur WM reisen können, schließlich ist nach deutschem Verständnis Russland bis in die tiefsten Strukturen hinein homophob. Doping war ein groß aufgezogenes Thema, und wenn von allen Mannschaften eine unter dem Verdacht stand, zu dopen, dann natürlich die russische. Wie ein korrupter Diktator in einem korrupten Land die FIFA und Millionen unschuldiger Fußballfans benutzt, um seine Macht zu festigen, war eine beständig wiederkehrendes Motiv, das dem Publikum aufzeigen sollte, in welch schrecklichem Land die WM dieses Mal abgehalten wird.
All das war natürlich alles ganz neutral berichtet, ganz objektiv und unvoreingenommen aufbereitet, herausragender deutscher Qualitätsjournalismus eben. Das hatte nichts mit Ressentiment oder gar einer generellen Russophobie in den deutschen Schreibstuben zu tun.
Das kritische Reflexionsvermögen erstickt im Confirmation Bias
Auf Russland lässt sich gut rumhacken, denn Russland hat keine Lobby und ist schlecht vernetzt. Es kommt kein Chefredakteur, der hobbymäßig noch in einem Think-Tank tätig ist, und sagt: "So geht’s aber nicht."
Dies würde etwa dann passieren, wenn ein Redakteur die gescheiterte US-Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton als verbitterte, intrigante alte Frau zeichnen würde, die voller Falschheit und Hass wäre.
Das trifft zwar zu, es ist aber nicht opportun, das zu schreiben. Der sich in seiner Freizeit transatlantisch engagierende Chefredakteur würde sofort einschreiten.
Auf Russland und Putin freilich darf man ungestraft draufhauen. Man darf sich so richtig austoben und sich obendrein auch noch für einen kritischen Journalisten halten.
Da passiert nichts. Es gibt keine Widerstände in der Redaktion, sondern Lob, die Texte gehen flüssig von der Hand.
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In Bezug auf Russland darf alles behauptet werden, auch dann, wenn es nicht zutrifft. Recherche ist auf ein Minimum reduziert. Die Hauptsache ist, es wird ein düsteres Russland-Bild gezeichnet. Das ist völlig opportun. Es füllt obendrein die Seiten ohne jedes Risiko, dass sich die Werbekunden beschweren könnten. Einzig den Lesern geht das mittlerweile auf den Zeiger, aber dann kann man ja einen belehrenden Text nachschieben, der Qualität behauptet, wo schon lange keine mehr ist.
Inzwischen ist leider durch den Verlauf der WM klar geworden, wie wenig von der Berichterstattung im Vorfeld zu halten ist. Hooligans? Fehlanzeige. Kein einziger Schwuler wurde hier verprügelt, was man in den deutschen Redaktionen sicherlich bedauerlich findet. Man hätte das gerne medial ausgeschlachtet. Ebenfalls verläuft die so unglaublich heiße Doping-Spur im Sande.
Der deutsche liberale Demokrat entdeckt die Sexualmoral
Der Süddeutschen ist zwar aufgefallen, dass die Russen im Spiel so unglaublich viel laufen, was eigentlich nur am Doping liegen kann. Dass die Deutschen noch mehr gelaufen sind, bedarf dabei keiner Erwähnung.
So soll Journalismus sein. Ausgewogen, objektiv und vor allem gut recherchiert. So wie bei der Süddeutschen eben.
Nun gut. Schwulenklatschen - Fehlanzeige, Doping - Fehlanzeige, Hooligans - auch Fehlanzeige. Was bleibt dann noch? Man könnte jetzt einfach richtigen Journalismus machen und berichten.
Man kann aber andererseits auch einfach ganz generelle Ressentiments bedienen und weiter am Feindbild Russland basteln. Russische Frauen zum Beispiel, das sind doch eigentlich alles irgendwie Schlampen. Und so vor die Wahl gestellt, was macht da der deutsche Qualitätsjournalist? Er vergreift sich an den Schlampen.
Wenn man keine Fakten hat, müssen beim Feindbildaufbau die Ressentiments und Klischees ran.
So greift die Süddeutsche eine Meldung über ein Missverständnis bezüglich eines Liedtextes auf und macht daraus eine Geschichte, die angeblich das Land spaltet. Die Russen entfremden sich demnach von ihren Frauen, die sie für Schlampen halten, weil diese den wesentlich gepflegteren und charmanteren Ausländern den Vorzug geben.
Die Süddeutsche steht dabei nicht allein.
Auch Udo Lielischkies, Leiter des ARD-Studio Moskau befeuert diese gehaltvolle Kampagne. Die Webseite Propagandaschau macht darauf aufmerksam.
Russische Frauen sind Schlampen, die Männer saufende Machos und die russische Sprache ist komisch, erklärt uns Lielischkies. Sonst noch Fragen? Ist jetzt noch irgendwas in Bezug auf Russland ungeklärt?
Hier vor Ort möchte man vor Scham angesichts dieser Ungeheuerlichkeiten einfach nur im Boden versinken.
Manipulativer Dashcam-Eklektizismus
Für ihren kruden Quasi-Journalismus über die Geschlechterentfremdung im Rahmen der WM bemüht die Süddeutsche natürlich auch eine Expertin. Die diagnostiziert in Russland einen generellen "Geschlechterfrust".
Die Süddeutsche führt aus:
Das Verhältnis zwischen russischen Frauen und Männern leidet schon lange an einem Ungleichgewicht: Es gibt weniger Männer als Frauen, sogar schon in der Generation der Jungen, Heiratsfähigen. Die Ursache dafür sind Gewalt, Alkoholsucht und Risikoverhalten, wozu Männer stärker neigen als Frauen - und russische Männer noch mehr.
Das ist natürlich so nicht ganz richtig. Der Frauenüberschuss geht zu einem Teil immer noch auf den Zweiten Weltkrieg zurück. Auch unter der glorreichen Regentschaft von Boris Jelzin, der dem Land einen neoliberalen Durchmarsch bescherte, stieg die Sterblichkeit stark an. Männer sind nun mal mehrheitlich Opfer des Krieges, aber auch Opfer des Neoliberalismus.
Das Klischee vom saufenden Russen darf natürlich nicht fehlen.
Die Süddeutsche verweist dann noch auf Youtube-Videos von russischen Dashcams, die beweisen sollen, dass die Lebensmüdigkeit bei russischen Männern einfach übergroß ist. Dass Dashcams in Russland als Beweismittel zugelassen sind, praktisch in jedem Auto eine angebracht ist und so täglich Abermillionen von Video-Clips entstehen, auf denen eben auch Unfälle zu sehen sind, das lässt die Süddeutsche lieber unerwähnt. Es wäre zu viel der Einordnung, die den Leser nur verwirren würde.
Die zitierte Expertin, die hier in Russland "Geschlechterfrust" ausmacht, arbeitet für die Moskauer Filiale der Heinrich-Böll-Stiftung, die den Grünen nahesteht. Und wie wir alle wissen: Wenn es eine neutrale Quelle in Bezug auf Russland gibt, dann ist das auf jeden Fall die Heinrich-Böll-Stiftung. Da kommt nur reine Objektivität. Nicht dass die Heinrich-Böll-Stiftung ein zentraler Antreiber im neuen Kalten Krieg wäre, der unermüdlich dafür plädiert, US-amerikanischem Fracking-Gas den Vorzug vor wesentlich günstigerem und obendrein umweltfreundlicherem russischem Pipeline-Gas zu geben. Nicht dass sich die Stiftung vehement für die Beibehaltung und sogar Ausweitung von Sanktionen ausspricht.
Die Heinrich-Böll-Stiftung ist der Süddeutschen jedenfalls ein lauterer Quell der Information, wenn es um Russland geht, der zudem auch noch beständig sprudelt.
Die angebliche russische Prostituierten-Invasion von 2006
Zwar bemerkt die Süddeutsche in ihrem Beitrag richtig, dass Kinderkriegen tatsächlich ein wichtiges Thema in der russischen Gesellschaft ist. Die Geburtenrate steigt hier nach dem heftigen Einbruch in den neoliberalen neunziger Jahren wieder stetig an. Doch das gezeichnete Bild von der russischen Frau, deren alleiniger gesellschaftlicher Zweck das Kinderkriegen wäre, ist falsch. Der Muttertag ist eine westliche Erfindung, die zudem arbeitgeberfreundlich am Sonntag gefeiert wird.
In Russland ist der 8. März, der Internationale Frauentag, mit einer der wichtigsten Feiertage. An diesem Tag steht die Nation Kopf. Da zeigt sich ein ganz anderer Geist, ein ganz anderer Blick auf und eine ganz andere Wertschätzung gegenüber Frauen als in Deutschland. Natürlich gibt es auch in Russland Ungleichheit. Vor einiger Zeit kam die Duma auf die wenig glorreiche Idee, Frauen den Zugang zu zahlreichen Berufen gesetzlich zu verbieten. Jetzt bestreiten viele den Klageweg, um diese Entscheidung für jeden einzelnen Beruf rückgängig zu machen. Ein mühseliger Weg und eine sicherlich falsche Entscheidung der Duma.
Doch noch einmal zurück zum Thema Schlampen und zurück ins Jahr 2006. Damals fand die WM in Deutschland statt. Weil die deutschen Mädels keine Schlampen, sondern ordentlich sind, war es damals notwendig, geschätzte 40.000 Zwangsprostituierte nach Deutschland zu verschaffen. Zumindest, wenn man dem Mainstream glaubte. Es tönte aus vollen Rohren, wie grausam diese Zeit für die Frauen sei, die so herrlich für die Männer wäre.
Es gab eine Vielzahl von Maßnahmen, welche die Frauen schützen sollten. In Köln beispielsweise wurden "Verrichtungsboxen" aufgestellt, sichtgeschützte Parkplätze mit einem Notrufknopf ausgestattet. Die kirchliche Hilfsorganisation SOLWODI richtete eine Hotline ein, die rund um die Uhr besetzt war.
Die Talkshows setzten sich in immer kürzeren Abständen mit Prostitution und Menschenhandel auseinander. Das Thema geisterte wochenlang durch die Gazetten. Die ganze Republik war in Alarmbereitschaft versetzt worden, auf jedes Anzeichen von Zwangsprostitution sofort zu reagieren.
Julius Streichers journalistisches Erbe in guten Händen?
Was dann tatsächlich passierte, war, dass die Bordelle an den Spieltagen geschlossen hatten, denn auch werbende Angebote wie "Für jedes Tor der deutschen Mannschaft ein Blow-Job gratis" zogen nicht.
Bei der Hotline von SOLWODI liefen einige Scherzanrufe auf, ansonsten blieb es dort weitgehend still, die Verrichtungsboxen blieben ungenutzt. Auch die Polizei gab im Nachhinein Entwarnung. Der medial angekündigte Menschenhandel hat nicht stattgefunden.
In der ausgelassenen Stimmung des Jahres 2006 begegneten einander Menschen aller Nationen, was dann manchmal auch zu sexuellem Kontakt führte. Das ist nicht verwerflich, das ist natürlich. Das Gleiche passiert jetzt hier in Russland. Von der ausgelassenen Stimmung profitieren alle und das nicht nur in sexueller Hinsicht.
Die völlig fehlerhafte Berichterstattung des deutschen Mainstreams im Jahr 2006 wurde natürlich nie aufgearbeitet. Der Qualitätsjournalismus bekennt sich nicht dazu, seinen Konsumenten Müll erzählt zu haben. Wenn sich das Erzählte als grundlegend falsch herausstellt, wird einfach zur Tagesordnung übergegangen.
Was daran allerdings interessant ist, ist, dass die Zwangsprostituierten, die da im Jahr 2006 angeblich in Heerscharen angekarrt werden sollten, natürlich überwiegend Osteuropäerinnen gewesen wären.
Der Mainstream ist bemüht, den Narrativ von der russischen Schlampe über die Jahre am Laufen zu halten. Zusammen mit dem Bild vom saufenden, gewaltbereiten und dummen Russen hat das eine lange Kontinuität in der deutschen Journaille, die die Gegenwart mit der Zeit vor 1945 verbindet.
Was sich positiv vermerken lässt, ist, dass immerhin die Worte "Untermensch" und "Herrenrasse" noch nicht benutzt wurden. Das kommt dann vermutlich nächste Woche.
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