von Wladislaw Sankin
"1:0 für Putins Autokratie. Wohin steuert WM-Gastgeber Russland?" - So betitelte die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag drei Tage vor dem ersten Anpfiff zur Fußballweltmeisterschaft in Moskau ein Fachgespräch. Aus der grünen Prominenz waren Katrin Göring-Eckhardt, Jürgen Trittin und Rebecca Harms anwesend sowie mehrere Wissenschaftler. Dazu kamen mehrere deutsche und ein russischer NGO-Mitarbeiter.
Der Titel klang zunächst nach Tagung einer Selbsthilfegruppe. Doch hinter der propagandistischen Aufmachung der Konferenz verbarg sich ein tatsächlicher Versuch, das russische politische System zu analysieren. Mit widersprüchlichen Ergebnissen.
Russlands Quadratur des Kreises
So hat man an einer Stelle Putin gar "verblüffende Erfolge" bei dessen Management des russischen politischen Systems attestiert:
Es ist verblüffend, wie man ein ganzes Kartell an Eliten moderieren kann, das bei Russlands enormer Ungleichheit immerhin Akzeptanz in der Gesellschaft genießt. Dieses Pulverfass derartig unter Kontrolle zu haben, wie es Putin tut, ist eine beachtliche politische Leistung", so der Politikwissenschaftler Prof. Hans-Henning Schröder.
An einer anderen Stelle sagte der Experte aber, Russland würde in wenigen Jahren eine politisch gescheiterte Elite haben, die sich an der Macht halten werde, während Russland immer weiter hinter die internationale Konkurrenz zurückfiele. Und überhaupt: In Russland in die Zukunft zu schauen sei das Gleiche wie die Quadratur des Kreises zu errechnen.
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Menschenrechte: Zwischen Willkür und Freiräumen
Ähnlich verhält es sich mit den Menschenrechten. Ihre angebliche massive Verletzung durch russische Behördenwillkür, repressive Gesetze und den Machtapparat, die Bürgern immer mehr Freiheiten wegnehmen und Zivilgesellschaft drosseln sollen, war der eigentliche Kontext der Veranstaltung. Laut den Grünen findet die Fußballweltmeisterschaft der Herren in einem falschen Land statt. Man dürfe künftig "den autoritären Staaten" keine Austragung solcher Fußball-Events gestatten, damit diese ihr "Regime" durch das Prestige eines großen Sportereignisses nicht noch zusätzlich legitimieren könnten, so Göring-Eckhardt.
Abgesehen davon, dass die Grünen mit dem Begriff "Menschenrechte" gerne nach geopolitischem Gutdünken umgehen und deren massive Verletzungen beispielsweise in den USA (Polizeiwillkür), baltischen Apartheid-Staaten (Klasse der "Nicht-Bürger") und der Ukraine nicht auf ihre Agenda setzen, ist es unbestritten, dass es auch in Russland Probleme auf diesem Gebiet gibt. Seit 2004 existiert daher ein Menschenrechtsrat direkt beim Präsidenten, dem auch die Partner der Grünen in Russland angehören.
Die Teilnehmer des Forums im Bundestag - Menschenrechtler, die in Russland "Feldarbeit" leisten - hatten jedenfalls unter der grünen Schirmherrschaft keinen Grund, in ihren Klagen an der Farbe zu sparen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil in Russland nicht nur die Menschenrechtsverletzungen als solche das Problem seien, sondern auch die Schwierigkeiten, diese Menschenrechte professionell zu schützen: Man denke an die Folgen des sogenannten Agenten-Gesetzes, wonach Stiftungen mit Finanzierung aus dem Ausland das Prädikat "ausländischer Agent" verliehen wird.
Die Bilanz der Klagen fiel jedoch am Ende nicht so dramatisch aus. Der einzige russische Gast, Damir Gaunitdinow, ein Rechtsanwalt von der Nichtregierungsorganisation Agora Group, merkte sogar an, dass es in Russland möglich sei, eine ordentliche Menschrechtsarbeit zu leisten. Dies sei aber nur unter Beachtung zweier Regeln möglich – Verzicht auf ausländische Finanzierung und auf politische Proteste. Sabine Schiffer vom "Europäischen Austausch" räumte ein, dass die sogenannte Zivilgesellschaft durchaus Freiräume hat, insbesondere, wenn der Aktivismus nicht in der für den Westen gewohnten Form einer NGO stattfindet.
Sphären oder Räume?
Das Forum übte sich sogar in Versuchen, für Russland ein normales Politvokabular zu verwenden – was diesem Land vonseiten westlicher Think Tanks üblicherweise verwehrt bleibt. Auf einmal war nicht mehr von einem "Regime" die Rede. Probeweise, nur für eine Minute, verwandelten sich in den Ausführungen des Experten Hans-Henning Schröder russische "Interessensphären" in "Integrationsräume", um sich am Ende im Vorschlag des Osteuropa-Sprechers der Partei, Manuel Sarrazin, aufzulösen, russischen Eliten genauer zuzuhören. Denn diese drückten ihre Postulate bereits seit Jahren auf eine klare Weise aus und diese noch einmal zu studieren sei vor allem für die eigene Russland-Analyse unerlässlich.
Russland beansprucht für sich eine führende Rolle, wobei das Prinzip der Nichteinmischung eines der wichtigsten Werte für Russland darstellt", merkte Sarrazin in der Schlussbetrachtung an.
Das Nicht-Einmischungsprinzip ist aber ein Stolperstein und Dilemma für die grünen Universalisten, die die russische Gesellschaft am liebsten ungestört nach ihren eigenen Vorstellungen über Gut und Böse umgestalten würden. Immerhin haben die Experten und Politiker der Grünen an diesem Abend das Prinzip registriert. Aber das macht es für die Partei keineswegs leichter: Den Opponenten zu verstehen und als feste Große zu akzeptieren ist eine Herausforderung, die ein Umdenken hinsichtlich der eigenen festgesetzten Selbstverständlichkeiten erforderlich machen könnte.
Die russische Außenpolitik und die WM sind eine Herausforderung", bilanzierte Sarrazin.
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Das Eigentor fiel bereits vor dem Spiel
Mit so viel frühzeitig in Gang gesetztem Theater um die Boykott-Frage, das mit jedem Skandal neuen dramaturgischen Stoff bekam, haben sich die deutschen Parteien - nicht nur die Grünen - selbst in eine Ecke manövriert. Jetzt stellen sie fest: Ob wir fahren oder nicht, "Putin nützt beides". Boykott könne er als Zeichen westlicher Feindseligkeit genauso politisch verwerten wie Besuche als Beweis dafür, dass der Versuch einer Isolation gescheitert ist. Nun geht es darum, sich vor der deutschen Öffentlichkeit ins richtige Licht zu setzen.
So räumten sowohl Katrin Göring-Eckhardt als auch Manuel Sarrazin selbst ein, fußballbegeistert zu sein. Schade für sie, denn sie können es sich nicht erlauben, die Spiele in Russland anzuschauen. Zu nah würden sie an ihren russischen Kollegen sitzen, die Länder annektieren, zivile Flugzeuge abschießen, den Westen destabilisieren, Agenten vergiften und was sonst noch alles auf der Liste Platz findet. Dass diese Anschuldigungen im Regelfall nur das Resultat eigener, oft faktenfreier Interpretationen sind, spielt keine Rolle. Es würde auf jeden Fall ein "falsches Signal" senden.
Darum fahren sie zwar während der WM, aber nicht zur WM nach Russland. Um Dialog nicht abreißen zu lassen, wie sie betonen. Konkret heißt das: um über die Menschenrechte mit russischen Offiziellen zu sprechen. Und um die westlich orientierten gesellschaftlichen Gruppen in Russland selbst nicht zu enttäuschen.
Aus der Perspektive der eigenen politischen Agenda sind das auch nachvollziehbare Ziele. Aber die verspätete Hastigkeit der Gespräche und die Widersprüchlichkeit ihrer Aussagen sprechen dafür, dass sie sich dem Thema eher aus der Not heraus stellen. Das ist erforderlich, um das unglücklich angefangene politische Spiel in der selbst eröffneten WM-Runde gegen den Gastgeber-Staat Russland am Ende wenigstens nicht zu verlieren. Denn, wie der Titel schon sagt, hat die WM noch nicht angefangen, aber Putin ist trotzdem schon in Führung. Und das - was noch deprimierender ist - durch Eigentore, die der Westen sich selbst geschossen hat.
Mit selbstschädigenden Sanktionen. Mit Blamagen bei G7, die sich auf der Zunge zergehen zu lassen Putin, der währenddessen bei einem anderen, erfolgreicheren Gipfel in Peking weilte, noch nicht einmal die Zeit hatte. Mit globalen Fake-Hysterien wie der Skripal-Affäre oder Babtschenko-Gate, die tagelang Schlagzeilen füllen und dann wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen werden. Aber allem voran mit falschen Erwartungen, die aus falschen Prämissen resultieren.
Es ist noch unklar, ob es mit dem Generationswechsel bei den Grünen zu tun hat, für den nach Jahren sinnbildlich die Übergabe des Amtes für Osteuropapolitik von einer durchideologisierten Marieluise Beck an den 36-Jährigen Manuel Sarrazin steht. Aber die notgedrungen auf die Tagesordnung gesetzte WM-Konferenz im Bundestag zeigte Ansätze einer Gratwanderung in der deutschen Russlandpolitik ausgerechnet bei einer Partei, die spätestens seit der Schröder-Ära dafür berühmt war, die einheimischen "Russland-Apologeten" am schärfsten zu kritisieren.