von Zlatko Percinic
Die Ansprache von Wladimir Putin am 1. März zur Lage der russischen Nation hat unterschiedliche Reaktionen in den Hauptstädten dieser Welt hervorgerufen, von arroganter Missbilligung über Panik und Verblüffung bis hin zu Stolz und Freude. Abhängig davon, wie man selbst zu Russland und insbesondere dessen Präsidenten steht, wird man bei den Kommentaren sicherlich fündig geworden sein, wenn man nach der Bestätigung der eigenen Position suchte. Was steckt aber hinter den Aussagen Putins und wie wirkt sich das auf militärischer Ebene aus?
Politisch gesehen befinden sich die Vereinigten Staaten von Amerika schon seit einiger Zeit auf Talfahrt. Die Weltordnung nach eigener Vorstellung zeigt Auflösungserscheinungen, was blieb, war die vermeintlich allmächtige Armee und dabei insbesondere die für die Machtprojektion so wichtige U.S. Navy. Mit den so genannten Carrier Strike Groups (CSG), einer mächtigen Kriegsarmada, die typischerweise aus einem Flugzeugträger, einem Lenkwaffenkreuzer, vier bis sechs Lenkwaffenzerstörern, einem Angriffs-U-Boot und einem Versorgungsschiff mit insgesamt 7.500 Soldaten besteht, sind die USA in der Lage, über die Weltmeere ziemlich schnell eine überwältigende Feuerkraft zu entfalten. Man macht auch keinen Hehl daraus, wozu diese Macht benutzt werden soll. In einem U.S.-Navy-Dokument aus dem Jahr 2017 beschreibt der Chief of Naval Operations, Admiral John Richardson, die gedachte Rolle in "A Design for Maintaining Maritime Superiority":
Die Navy der Vereinigten Staaten wird bereit sein, prompte und langandauernde Kampfeinsätze auf dem Meer zu unternehmen. Unsere Navy wird Amerika vor einem Angriff beschützen und Amerikas strategischen Einfluss in Schlüsselregionen der Welt bewahren. US-Seestreitkräfte (werden) vom Meeresgrund bis zum Weltall, vom Tiefenwasser bis zur Küste und in der Informationsdomäne Aggressionen abschrecken und friedliche Lösungen von Krisen zu akzeptablen Bedingungen für die Vereinigten Staaten und unseren Verbündeten und Partnern ermöglichen. Sollte eine Abschreckung scheitern, wird die Navy entschlossene Kampfoperationen durchführen, um jeglichen Feind zu besiegen.
Mit gegenwärtig 282 Kriegsschiffen aller Art hinkt man zwar noch dem gewünschten und vom Kongress genehmigten Idealzustand von 308 Kriegsschiffen hinterher, aber Richardsons Aussage zeigt, wie sehr die amerikanische Macht von der US Navy abhängig ist. Innerhalb der US-Streitkräfte gab es von Anfang an große Machtkämpfe zwischen den verschiedenen Teilbereichen um Budgets, Ansehen und Technologie. Je nach Zusammensetzung der Joint Chiefs of Staff und deren Netzwerk im Kongress, der Prädisposition des Präsidenten als Commander-in-Chief der Streitkräfte, wechselte der Fokus meistens zwischen Air Force und Navy hin und her, sehr zum Leidwesen der Landstreitkräfte.
Trump favorisiert die Navy gegenüber den Luftstreitkräften
Während sich seit dem Zweiten Golfkrieg die vermeintliche Präzision und Schlagkraft der Air Force zum Darling der Nation entwickelte, begünstigt durch den technologischen Fortschritt der unbemannten Drohnen, schlägt das Pendel mit US-Präsident Donald Trump erneut in Richtung Navy zurück. Mit dem "2018 National Defense Authorization Act" erhöhte Trump den Idealzustand der U.S. Navy auf 355 Kriegsschiffe, obwohl sich die Rechnung dafür eigentlich niemand leisten kann.
Die Idee mag auf dem Papier stimmig sein. Trump hatte schon sehr früh in seinem Wahlkampf das überteuerte - und wie manche sagen, fehlgeschlagene - F-35 Kampfjetprogramm angegriffen, das eigentliche Vorzeigeprojekt der U.S. Air Force. Er monierte die Tatsache, dass Flugzeugträger für viel Geld neu ausgestattet werden mussten, um eine F-35-Staffel beherbergen zu können beziehungsweise sie überhaupt starten zu lassen, obwohl das Kampfflugzeug noch gar nicht wirklich kampftauglich ist.
Wie ein gigantisches schwarzes Loch saugte dieses Programm Geld, Ressourcen und Zeit ab, während sich gleichzeitig die Frage immer mehr aufdrängte, ob Flugzeugträger überhaupt noch als Kriegsinstrument zeitgemäß und die Investitionen wert sind. Mit einem Stückpreis von weit über 13 Milliarden US-Dollar für die neuen Supercarrier der Ford-Klasse, die Präsident Trump vergangenen Sommer mit großem Tamtam eingeweiht hatte, machte er klar, dass er diese Debatte als beendet betrachtet. Mit ihnen und den neuen Waffensystemen sollen Ziele von bis zu 1.600 Kilometern Entfernung angegriffen werden können, was die USA der Theorie der Planer nach unbesiegbar machen sollte.
Kinzhal, Zirkon und Avangard werden im Ernstfall Russland von der US-Navy freihalten
In einem vielbeachteten Interview mit NBC betonte der russische Präsident Wladimir Putin immer wieder, dass die Gefahr und in weiterer Folge die Aufrüstung Russlands in dem Moment begann, als Washington im Jahr 2002 einseitig das langjährige ABM-Abkommen zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen aufkündigte. Schon damals warnte Moskau vor einem neuen Wettrüsten. In dem Maße, wie die Errichtung eines US/NATO-Raketenabwehrschirms in Osteuropa vorangetrieben wurde, der anfänglich damit begründet wurde, Europa vor iranischen Raketen zu beschützen, und die Installation von neuen NATO-Basen immer näher an die russische Grenze voranschritt, wuchs in Russland die Assoziation mit der in der kollektiven Psyche verankerten "Zeit der Wirren", der smuta, die nicht nur im Mittelalter, sondern auch in den 1990er Jahren unter Boris Jelzin stattfand. Präsident Putin signalisierte durch die Rhetorik bei der Bekanntgabe seiner Präsidentschaftskandidatur für 2018, dass es mit ihm keine neue smuta geben wird.
Und die Entwicklung von neuen russischen Waffensystemen scheint ihm Recht zu geben. Bereits die Flugabwehrsysteme S-300/S-400 und die neueste S-500-Serie, die nur für Russland bestimmt ist, haben den Luftraum für ausländische Luftwaffen nahezu hermetisch abgeriegelt, was zum Begriff des A2/D2 (Anti-Access/Area Denial) führte. Obwohl noch niemand wirklich die russischen Systeme im Ernstfall getestet hat, ist die Überzeugung überwältigend, dass man es gar nicht erst mit dem klassischen Luftkrieg versuchen sollte. Stattdessen wird auf ballistische Raketen gesetzt, die die Luftabwehr "Stück für Stück" ausschalten sollen. Die in Europa stationierten AEGIS-Systeme und natürlich die Lenkwaffenkreuzer der U.S. Navy stellen die Abschussplattformen für solche Raketen dar. Mit der Präsenz der Navy in der Ostsee und im Schwarzen Meer hat Amerika Russland direkt auf dem Korn, was allen Beteiligten natürlich nur zu bewusst ist.
Hyperschallwaffen stellen verschobenes Gleichgewicht wieder her
Können aber die US/NATO-Kriegsschiffe als Abschussplattformen von ballistischen Raketen außer Gefecht gesetzt werden, verliert Washington sein wichtigstes Instrument zur Machtprojektion und somit die Möglichkeit zur Kriegsführung. Daran kann auch die Eliteeinheit "Expeditionary Force 21" nichts ändern, die eigens zur Umgehung eines abgeriegelten Luftraumes ins Leben gerufen wurde. Und genau diesen Nerv traf Wladimir Putin bei seiner Rede am 1. März, als er die neuen Waffensysteme vorstellte.
Rein vom strategisch-technologischen Standpunkt betrachtet hat Russland eine historische Wende in der Geschichte der Kriegsführung herbeigeführt. Zwar haben auch die USA schon seit Jahren an ähnlichen Projekten getüftelt, doch der Durchbruch ist aus politischen und wissenschaftlichen Gründen nie erfolgt. Stattdessen konzentrierte sich die amerikanische Kriegsführung auf die bewährten Systeme. Doch gegen die nun vorgestellten und bereits in Betrieb genommenen Raketen Kinzhal und Zirkon, die mit Hyperschallgeschwindigkeit agieren, gibt es schlicht und ergreifend keine Abwehr. Ebenso wenig für die in Produktion befindlichen strategisch-ballistischen Raketensysteme Avangard, mit einer unbegreiflichen Geschwindigkeit von über Mach 20 - also über 24.500 Stundenkilometer.
Die Zirkon-Rakete kann Geschwindigkeiten von knapp 10.000 km/h erreichen und wie amerikanische Raketen entweder von landgestützten Silos oder von Kriegsschiffen sowie U-Booten abgefeuert werden. Die Antischiffsrakete hat eine geschätzte Reichweite von etwa 800 Kilometer und sorgte damit bereits für Konsternierung bei der britischen Flotte, deren Raketenabwehr "nur" Geschosse bis zu einer Maximalgeschwindigkeit von 3.700 km/h abfangen kann.
Aufteilung Russland wird für US-Neocons und Interventionisten ein Traum bleiben
Doch die Kinzhal legt noch eine gewaltige Schippe drauf. Mit einer Reichweite von 2.000 Kilometern und einer Geschwindigkeit von über Mach 10 - über 12.000 km/h - kann Russland mit der mit einem konventionellen oder nuklearen Sprengkopf bestückten Rakete jede beliebige Kriegsmacht auf Distanz halten. Als Plattform für den Abschuss der Kinzhal wurde der gefürchtete Abfangjäger MiG-31BM ausgewählt, der auf russischen Luftwaffenstützpunkten von der Arktis bis zum Pazifik stationiert ist. Wie der Luftwaffenexperte Andrej Martjanow bemerkte, ist "jetzt klar, warum so eine Modernisierung vorgenommen wurde, sie machte die MiG-31BM zur Abschussplattform für die Kinzhal." Er beschrieb die mit Hochdruck betriebene Modernisierung der schon in die Jahre gekommenen MiG-31 zur MiG-31BM (BM steht für Bolschaja Modernizaciya, Große Modernisierung), welche allerdings für einen Bruchteil der Kosten verglichen mit den US-Systemen durchgeführt wurde.
Diese drei Raketen haben das strategische Gleichgewicht in der konventionellen Kriegsführung auf viele Jahre hinaus verändert. Ohne die U.S. Navy ist Amerika zu einem zahnlosen Drachen geworden, der zwar immer noch Angst und Schrecken verbreiten, aber die große Beute nicht mehr machen kann. Die Eroberung Russlands - oder zumindest dessen Aufteilung – ist im Übrigen kein Hirngespinst oder irgendeine Verschwörungstheorie, sondern durchaus Teil des strategischen Diskurses der US-amerikanischen Elite. Der nationale Sicherheitsberater von Präsident Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, sprach davon, genauso wie es Vertreter des höchst einflussreichen Council on Foreign Relations in diesem Artikel in dem nicht weniger einflussreichen Magazin Foreign Affairs taten. Die Angst vor der eigenen Schwäche ist jetzt jedoch spürbar geworden, nicht nur in den russophoben Ausbrüchen der westlichen Medien. General Curtis Scaparrotti, der oberste Kommandeur der US-Streitkräfte in Europa, warnte davor, dass "Russland die Überlegenheit des US-Militärs in Europa bis 2025" eingeholt hat, und zwar "in fast jeder Hinsicht".
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