von Nikolaus Marggraf
In den etablierten Medien wird nicht berichtet, was die jüngst erfolgte massive Verschärfung der bestehenden Sanktionen des UNO-Sicherheitsrats am 22. Dezember für die nordkoreanische Zivilbevölkerung bedeutet. Und das, obwohl die New York Times bereits am 21. September darauf hingewiesen hat, dass die Nordkorea-Sanktionen die mit Abstand schärfsten seit vielen Jahren sind.
Für alle UNO-Resolutionen, die seit 2006 erlassen wurden, gilt, dass sie den alltäglichen Überlebenskampf der nordkoreanischen Menschen ganz erheblich erschweren. Eine ultimative Zuspitzung stellt jedoch die Resolution 2397 vom 22. Dezember 2017 dar. Mit ihr werden die Öllieferungen, die durch vorangegangene Sanktionen um 75 Prozent verringert worden waren, um 89 Prozent verringert, was nach Einschätzung zahlreicher Experten einen Zusammenbruch der nordkoreanischen Landwirtschaft zur Folge haben wird.
Ein weitgehendes Exportverbot für viele nordkoreanische Produkte, unter anderem Lebensmittel und Holz, macht das Überstehen des nordkoreanischen Alltags noch anspruchsvoller.
Schiffe mit toten Fischern als erste Künder der Sanktionsfolgen
Dabei spielen auch die massiven Einschränkungen im Fischhandel eine gewichtige Rolle: Die aus den Sanktionen resultierenden Versorgungsengpässe zwingen die nordkoreanischen Fischer, weit auf die offene See hinauszufahren, was viele von ihnen, die nicht über moderne Navigationsgeräte und genug Treibstoff verfügen, gegenwärtig mit dem Leben bezahlen.
Nach Einschätzung von Carla Stea, Korrespondentin für Global Research, im New Yorker UNO-Hauptquartier, bedeutet die UNO-Resolution 2397 für die nordkoreanische Bevölkerung ein massenhaftes Sterben durch Hunger und Kälte. Nordkorea ist bekannt für seine sehr kalten Winter. Man stelle sich einfach mal vor, was eine Anwendung dieser UNO-Resolution mit ihrer massiven Erdöl-Importbeschränkung für die Bevölkerung der USA bedeuten würde, die zurzeit von einer ungewöhnlichen Kältewelle betroffen ist.
Auch ohne die Sanktionen sind bereits 40 Prozent der nordkoreanischen Menschen chronisch unterernährt. Die Zustände in nordkoreanischen Krankenhäusern sind desaströs: Wer sich keine Betäubungsmittel auf dem Schwarzmarkt leisten kann, muss eine Operation ohne Narkose "durchstehen". Thomas Quintana, ein Mitarbeiter der NGO Human Rights Watch, hat am 25. Oktober darauf hingewiesen, dass nordkoreanische Krebspatienten infolge der UNO-Sanktionen keinen Zugang mehr zu einer Chemotherapie haben.
Eliten erleiden keine Knappheit
Die sanktionsbedingte massive Verknappung von Erdöl, Lebensmitteln, Medikamenten und weiteren Gütern des alltäglichen Bedarfs trifft zu allererst die 200.000 Häftlinge der berüchtigten nordkoreanischen Arbeitslager, weiter die einfachen Fischer und Bauern, damit aber ca. 70 Prozent der nordkoreanischen Zivilbevölkerung - und nicht die regierungskonforme Oligarchie, die sich seit einer Dekade durch das nordkoreanische Atomprogramm zu schützen versucht.
Der Ausbau der Nuklearwaffen wird durch die UNO-Resolution 2397 zudem nur unwesentlich eingeschränkt, so eine Einschätzung des US-Fernsehsenders NBC am 9. Dezember 2017:
Die Strategie der Trump-Regierung erscheint wenig geeignet, das nordkoreanische Atomwaffenprogramm einzudämmen; vielmehr - so die Meinung von Experten - könnte sie zum Auslöser einer Hungersnot werden. Das Weiße Haus bedrängt China, die Öllieferungen für 25 Millionen Nordkoreaner einzustellen; zahlreiche Beobachter sind der Meinung, dass dies nur minimale Auswirkungen auf das nordkoreanische Atomwaffenprogramm habe und stattdessen die Landwirtschaft des Landes treffe, was vermutlich zu massenhaftem Hunger führen wird.
Was könnte China und Russland bei der Abstimmung im UNO-Sicherheitsrat dazu gebracht haben, nicht ihr Veto gegen diese barbarischen Sanktionen einzulegen? Erschien ihnen die Zustimmung als der einzig noch gangbare Weg, eine nukleare Eskalation zu verhindern? Schließlich war ja allen 15 Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrats bereits im Vorfeld bekannt, welche katastrophalen Auswirkungen ihre Entscheidung haben wird. Die Korrespondentin Carla Stea gelangt zu der Schlussfolgerung, dass mit den UNO-Sanktionen die "vorsätzliche und wohldurchdachte Tötung unschuldiger Nordkoreaner" ("the deliberate, premediated killing of innocent North Koreans") intendiert sei.
"Wege zur Entfernung Kim Jong-uns"
Wie ist ihre Hypothese einzuordnen? Diesbezüglich ist ein Blick auf den Artikel "Options for Removing Kim Jong Un" aufschlussreich, den das renommierte Wall Street Journal am 5. September 2017 publiziert hat. In diesem Artikel werden verschiedene Optionen diskutiert, um eine "Amtsenthebung" des nordkoreanischen Staatsoberhaupts Kim Jong-Un zu ermöglichen. Nun ein Auszug aus dem Text, in dem in kalter Technokraten-Sprache eine "Geostrategie des Hungers" zur Lösung des nordkoreanischen Problems erörtert wird:
Der Norden Koreas ist durch Sanktionen in diesem Jahr wegen der großen Dürre von April bis Juni besonders verwundbar, die die Getreide-Ernte um 30 Prozent reduziert hat. Da die Haupternte genauso von der Dürre betroffen ist, muss Pjöngjang mehr Nahrungsmittel importieren, während zugleich die Sanktionen die Beschaffung ausländischer Devisen restriktiv einschränken. [...] Während das Regime die Hungersnot in den 1990ern noch überleben konnte, sind jetzt die politischen Konsequenzen einer Missernte erheblich schwerwiegender. [...] Die Armee war früher die beste Karrieremöglichkeit; heute sind die Soldaten schlecht bezahlt und unterernährt. Die Nordkoreaner werden eine Hungersnot nicht mehr so bereitwillig akzeptieren wie sie das vor zwei Jahrzehnten getan haben. Dass man eine Regierung zu beseitigen versucht, indem man Lebensmittel-Hilfslieferungen zurückhält, ist normalerweise kein ethisch vertretbarer Standpunkt, aber Nordkorea stellt eine Ausnahme dar. Frühere Hilfslieferungen erwiesen sich als Fehler, weil sie eine der bösartigsten Regierungen der Geschichte aufrechterhielten. Die UNO spricht davon, dass 40 Prozent der Bevölkerung unterernährt sind, während die Kims fortwährend horrende Summen für Waffen ausgeben. Den nordkoreanischen Staat so schnell wie möglich zu beenden, ist die einzig mögliche humane Option.
Erinnert sei an dieser Stelle daran, dass die nordkoreanische Hungersnot von 1994 bis 1998 als unmittelbare Folge von Versorgungsengpässen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion eine Million Tote zur Folge hatte. Der Artikel des Wall Street Journals bezieht sowohl die Hungerkatastrophe in den Neunzigern als auch die aktuelle Missernte in sein von einer kalten Vernunft geprägtes strategisches Kalkül ein, um dann schlussendlich mit einer "Geostrategie des Hungers" den gewünschten "Politikwechsel" herbeiführen zu wollen. Steht das gleiche strategische Denken auch hinter der UNO-Resolution 2397?
Erschreckende historische Präzedenzfälle
In fataler Weise erinnert all das an die Irak-Sanktionen der UNO nach dem Golf-Krieg 1991, die ebenfalls eine Million Tote zur Folge hatten. Verwiesen sei hier auf die herausragende Publikation des investigativen Journalisten Joy Gordon "Cool War : Economic Sanctions as a Weapon of Mass Destruction" (Harper's 2002), der sorgfältig korrupte Netzwerke innerhalb der UNO untersucht hat, die in nicht transparenter Weise inhumane UNO-Sanktionen gegen den Irak "zustandekommen" ließen. Joy Gordon zeigt auf, wie sich geostrategische Zielsetzungen der US-Oligarchie über fragwürdige Entscheidungen des UNO-Sicherheitsrats realisieren lassen.
Die kalte technokratische, so genannte instrumentelle Vernunft hinter einer "Geostrategie des Hungers" erinnert - im Sinne einer hintergründigen Dämonie - auch an die deutschen Technokraten im Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion 1941-1944: Die 900 Tage andauernde, entsetzliche Leningrad-Blockade hatte ebenfalls eine Million Tote durch Hunger und Kälte zur Folge. Gerade aus der historischen Erfahrung der Leningrad-Blockade stellt sich die Frage, ob eine durch die UNO-Resolution 2397 ausgelöste und mutmaßlich auch intendierte "Geostrategie des Hungers", die ganz bewusst unterhalb der Nuklearkriegsschwelle operiert, erfolgversprechend sein wird.
Die Menschen in Leningrad haben damals entgegen den "Planungen" der nationalsozialistischen Vernichtungs-Täter wie Herbert Backe viel länger als gedacht Widerstand leisten können und sich im Großen Vaterländischen Krieg hinter ihre damalige Regierung gestellt. In der Erinnerung der nordkoreanischen Menschen ist der Napalm-Vernichtungskrieg der USA gegen Nordkorea im Zeitraum 1950-1953, dem über 30 Prozent der Zivilbevölkerung zum Opfer gefallen sind, noch sehr präsent, während dieser im Westen nur wenig bekannt ist.
Die Macht der Schreibtischtäter
Ein erneutes nordkoreanisches Massensterben durch Hunger und Kälte als Folge der aktuellen UNO-Resolutionen wird die weit in die Geschichte zurückreichende Polarisierung zwischen Nordkorea und den USA weiter vergrößern - mit unabsehbaren Folgen. Einen weiteren Vermittlungsversuch des ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter hat die Trump-Administration abgelehnt.
In einem Kommentar zu dem Artikel "Options for Removing Kim Jong Un" im Wall Street Journal sinniert dessen Autor Mike Whitney darüber, wie akademisch hochgebildete und im Alltag vollkommen unauffällige Menschen solche amoralischen Strategien ersinnen können und wie sich schlussendlich eine so ungeheure Verrohung im Neoliberalismus interpretieren lässt. Eine Antwort auf diese moralphilosophische Fragestellung gibt der Auschwitz-Überlebende Primo Levi in seinem Roman "Ist das ein Mensch?":
Es gibt die Ungeheuer, aber es sind zu wenige, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlicher ist, das sind die normalen Menschen.
RT Deutsch bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.