Ein wenig Getuschel hat es gleich zu Beginn gegeben. David (Name geändert) hatte sich in der RT-Deutsch-Redaktion als neuer Praktikant vorgestellt. Zuvor absolvierte er eigenen Angaben zufolge ein Studium an der renommierten Henri-Nannen-Schule, einer Kaderschmiede für die Zunft deutscher Qualitätsjournalisten, und arbeitete auch schon für Spiegel Online. Es sind Kreise, in denen RT nicht als journalistisches Medium gilt, sondern eher als "Waffe" im "Informationskrieg", als "Werkzeug der hybriden Kriegsführung", als "russische Propaganda" und "vom Kreml gesteuert" sowieso.
Diese Zuschreibungen fallen nicht vom Himmel. Seit dem Auftauchen von RT im deutschen Medienorbit überschlagen sich die Mainstreamerzeugnisse - deren Leserschaft stetig sinkt - mit derartigen Buzz-Wörten und machen damit mehr als deutlich, dass das weltweite Sendernetzwerk mit Ursprung in Russland nicht zum Kreis der Erlauchten gehört. Julian Reichelt, Chefredakteur von "Bild online", verstieg sich kürzlich sogar zu der Forderung, er wollte überprüft wissen, ob die Pressefreiheit in Deutschland für RT überhaupt gilt.
Konnte David sich also wirklich eine Karriere bei RT Deutsch vorstellen, und bereicherte er unsere Redaktion deshalb drei Wochen lang als Praktikant? Oder steckte etwas anderes hinter der Ankunft unseres neuen Kurzzeit-Kollegen, der sich zudem so seltsam distanziert verhielt? Diese Frage stellten sich alle. Aber eben auch die Frage, wie mit derartigen Zweifeln am besten umzugehen sei.
Bei Julian Reichelts CIA-Presse hätte ein Anfangsverdacht in entgegengesetzter Richtung wohl direkt zu Waterboarding des Verdächtigen im redaktionseigenen Folterkeller geführt, doch es gehört auch zu den besonderen Wesenszügen der russischen Seele, Fremden erst einmal mit einer ausgestreckten Hand zu begegnen. Eine Mentalität, die sich auch in der Unternehmenskultur von RT niederschlägt.
Die Ankündung der "Enthüllung" - Unbehagen macht sich breit
Meine russische Kollegin sieht das am Vorabend der großen Veröffentlichung alles weniger romantisch. Per Twitter hat Davids eigentlicher Chef Andreas Petzold, Herausgeber des Stern und auch von dessen Spin-off Neon, bekanntgegeben, dass am nächsten Tag eine große Reportage über RT Deutsch in dem Monatsmagazin erscheinen wird. Einer der Redakteure der Hipster-Postille hatte es doch tatsächlich geschafft, sich für drei Wochen in die Berliner Redaktion von "Putins Propagandasender" einzuschleusen.
Neben der Ankündigung samt Teaser-Text prangt ein Foto von David, unserem ehemaligen Mitarbeiter. "Wir sind einfach viel zu offen und zu vertrauensselig", beklagt sich meine Kollegin, "und dafür bekommen wir dann auf die Fresse. So ist das immer bei uns Russen." Ich schnaufe kurz und denke an den Fall der Mauer, die Wiedervereinigung Deutschland und den Beitrag Moskaus, den die damalige Führung Russlands lediglich auf Grundlage der mündlichen Zusage leistete, die NATO werde den Schritt nicht ausnutzen, um sich weiter gen Osten auszubreiten. Heute weiß man: Mehr Vorsicht wäre ratsam gewesen, denn Spielraum für Interpretationen gibt es immer.
Zu diesem Zeitpunkt hat noch niemand von uns Davids Enthüllungsstory über unsere Arbeit gelesen, doch ein mulmiges Gefühl macht sich breit. Wer sich aus beruflichen Gründen täglich mit dem Ausstoß deutscher Mainstreammedien beschäftigen muss, weiß, wie sehr diese das Verfälschen, Entkontextualisieren und Skandalisieren von Zitatfetzen bereits zu einer eigenen Kunstform erhoben haben. Der oft beklagte Begriff "Lügenpresse" rührt eben auch daher, dass viele Bürger, spätestens wenn sie selbst beginnen, sich politisch zu engagieren, lernen mussten, mit welcher Selbstverständlichkeit Aussagen verdreht, Unterstellungen verbreitet oder gar persönlichkeitsverletztende Diffamierungskampagnen initiiert werden, sobald dies politisch als opportun erscheint.
Das Phänomen ist kein neues. Bereits im Jahr 1974 schrieb Heinrich Böll sein viel beachtetes Werk "Die verlorene Ehre der Katharina Blum", ein Jahr später wurde es von Volker Schlöndorff verfilmt. Es war eine Zeit, in welcher der RAF-Terror das Land innenpolitisch prägte, und Staatsmacht wie auch Medien teils zu hysterischen Reaktionen verleitete. Böll zeigt auf, wie in diesem Klima militanter Ideologisierung auch unbescholtene Bürger in den Mühlen der Meinungsmaschine zerstört werden können. Nur durch einen Zufallskontakt zu einem vermeintlichen RAF-Mitglied gerät Katharina Blum ins Visier der "ZEITUNG", es folgen Jagd und Hatz, die Verunglimpfung Blums als "Terroristenbraut", Bloßstellung und schließlich der blutige Racheakt der Protagonistin an dem hauptverantwortlichen Redakteur. Aus naheliegenden Gründen klagte der Axel-Springer-Verlag gegen eine Illustration im Zuge einer Vorveröffentlichung des Textes. Die Parallelen zur zeitgenössischen Wirklichkeit und zur Arbeitsweise der BILD waren mehr als deutlich.
Auch mehr als vier Jahrzehnte später hat sich an den Grundprinzipien und Strukturen von Hass- und Diffamierungskampagnen wenig geändert, statt nur auf bedrucktem Papier finden diese heute jedoch auch in Echtzeit auf zahlreichen digitalen Kanälen statt. Noch immer ist BILD dabei häufig Stichwortgeber und markiert das Ziel, bevor sich der Rest der Meute auf das zu erlegende Wild stürzt. Womöglich gar mit Schaum vorm Mund feierte Bild-Online-Chef Reichelt so auch die gestrige Ankündigung der Undercover-Reportage von David auf Twitter.
Unweigerlich kommt man da ins Grübeln: Was habe ich ihm alles gesagt? War wirklich jeder Küchentalk zitierfähig, welche auch privaten Momente und persönlichen Gespräche mit Dritten könnte David aufgeschnappt haben? Welche Aussagen ließen sich am einfachsten verdrehen und zur Denunziation nutzen? Es ist schon beachtlich, dass dies die ersten Gedanken sind, die einem ins Hirn schießen, wenn man erfährt, in Kürze Protagonist einer Story in der Mainstreampresse zu sein, deren Macher fest davon überzeugt sind, bei RT handele es sich um einen zu bekämpfenden Feind.
Der nächste Morgen: Das Heft ist am Kiosk erhältlich
Einen Link zur Reportage gibt es nicht. Neon will mit seiner Geschichte über RT offenbar Kasse machen und endlich wieder einmal einen Verkaufserfolg feiern. Am nächsten Tag, an dem ich zum ersten und wohl auch letzten Mal im Leben das Heft gekauft habe, stellt sich heraus: Trotz der teils etwas reißerischen Ankündigung verfolgte David eher das Ziel der kritischen Reflexion und wahrte bei seiner Recherche - abgesehen von seinem Einschleichen unter falschen Vorzeichen - Fairness und Ehrlichkeit. Das Stück wurde nicht zur befürchteten Schmierenkomödie, sondern bietet vielmehr einen durchaus lesenswerten Debattenbeitrag zum Zustand des Mediensystems. Doch uns interessiert dann doch erst einmal, was da über uns steht.
Die Textanalyse beginnt: Dass besonders in den Morgenkonferenzen durchaus flapsige Bemerkungen fallen, hat auch unser Spion bemerkt, verzichtet aber dann doch auf die Taktik des absichtlichen Falschverstehens, ein ansonsten beliebter Kniff bei Kampagnenbeiträgen. Die angenehme Arbeitsatmosphäre und der freundliche Umgang miteinander scheinen den Neuzugang allerdings ein wenig zu befremden. Ein Satz aus Davids Reportage lautet dann:
Ich bekomme Zweifel an dem, was ich selbst für wahr halte. Wer lügt hier, und wer schreibt die Wahrheit? Ich weiß es nicht mehr.
Um das zu klären, hat David mit dem Psychologie-Professor Markus Appel telefoniert. Dieser erklärt dem zweifelnden Praktikanten das Prinzip sozialer Konventionen und der Entstehungslogik von Paradigmen. Vereinfacht gesagt: Wenn das gesellschaftliche Umfeld einen bestimmten Sachverhalt als wahr deklariert, neigen Menschen dazu, sich dieser Mehrheitsmeinung anzuschließen, auch wenn es Fakten gibt, die nicht ins Gesamtbild passen.
Das Bild dient ein wenig dem Ziel, RT zu bescheinigen, in einer Parallelwelt zu leben, denn natürlich ist es nicht Davids Absicht eine Lobeshymne auf unsere Arbeit zu singen. Doch hochskaliert ergeben diese Überlegungen durchaus Sinn, denn RT berichtet natürlich nicht im luftleeren Raum, sondern ist Teil eines breiten Mediensystems mit zahlreichen Akteuren. Akteure, die sich besonders in geopolitischen Fragen bemerkenswert häufig einig sind und deren Thesen natürlich auch in unseren Redaktionsräumen diskutiert werden.
Ist es wirklich so weit hergeholt, von einem weitestgehend selbstreferentiellen Mediensystem in Deutschland zu sprechen, in dem so lange über Kreuz zitiert, ausgelassen und umgedeutet wird, bis die Krim von Russland "kriegerisch annektiert" wurde und Wladimir Putin ein blutrünstiger Despot ist? Die Krim-Frage und die angebliche Völkerrechtswidrigkeit der Abspaltung scheint David besonders umzutreiben. Folgendes Video wollte ich ihm eigentlich schon in unserer Redaktion zeigen:
Auch in der FAZ schrieb der Rechtswissenschaftler Reinhard Merkel schon eindeutig:
Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechtswidrig? Nein.
RT Deutsch - Störender Stachel im Fleisch des Mainstreams
Doch "der Russe" an sich ist offenbar auch abseits dieser Problematik eine Gefahr, der stets mit Misstrauen und Vorbehalten begegnet werden sollte. Gab es so etwas in der deutschen Geschichte nicht schon einmal? Die US-Präsidentschaftskanditin Hillary Clinton treibt in ihrem Wahlkampf das Bild des E-Mails-stehlenden Ivans indes auf die Spitze. Viele deutsche Medien berichten es unhinterfragt: Dann ist das eben so.
Es lässt sich nicht leugnen, dass die breite Mehrheit deutscher Medienmacher täglich und inbrünstig das Bild von Dunkelrussland zeichnet. Dahinter stehen knallharte ökonomische und geopolitische Absichten, die mit dem deutschen Interesse eher wenig gemein haben. Die Vereinigten Staaten benötigen Europa als Absatzmarkt für Fracking-Gas und würden noch lieber heute als morgen neue Sanktionen aus Brüssel gegen Moskau beschlossen sehen. Darüber hinaus haben führende transatlantische Geostrategen immer wieder in aller Ausführlichkeit und Deutlichkeit dargelegt, wie wenig Interesse Washington an einer prosperierenden Partnerschaft zwischen Russland und Deutschland hat:
Wer ernsthaft glaubt, den Putin-Bashern gehe es tatsächlich um Schwulenrechte, ist schlichtweg naiv und sollte sich lieber fragen, warum die Steinigung von Homosexuellen in Saudi-Arabien oder die erzkonservative Abneigung gegenüber alternativen Lebensmodellen im Bible Belt der USA lediglich Themen für 3sat-Reportagen sind, niemals aber eine Rolle bei realpolitischen Entscheidungen spielen werden.
Geschrieben und geflucht wurde über RT Deutsch während der vergangenen Jahre viel in den deutschen Medien, doch die wenigsten machten sich dabei ein eigenes Bild von dem Objekt ihrer Verachtung. Immer wieder wird in den Bashing-Beiträgen deutlich, dass sich die Autoren nicht einmal selbst auf die Suche nach vermeintlichem Schmutz machen, sondern ihre Unterstellungen schlicht voneinander abschreiben, gerne auch Unwahrheiten. Der Griff zum Telefon zwecks Nachfrage scheint unnötig zu sein.
Dass David einen anderen Weg der Recherche gewählt hat und sich drei Wochen lang einen direkten Einblick bei RT verschaffte, ist trotz des Vertrauensbruchs letztlich lobenswert. Da der junge Journalist auf die sonst üblichen Buzz-Wörter und auf persönliche Diffamierungsversuche verzichtet und den Kontext der restlichen Medienwelt nicht außen vor lässt, wird die entstandene Arbeit sogar zu einer durchaus wertvollen Debattengrundlage. Mit Sicherheit gibt es auch bei RT immer noch Verbesserungspotenzial. Vielleicht erhielt David auch deshalb ein Jobangebot im Anschluss an sein Praktikum bei uns?
Wir sagen: Mach's gut und Danke für den Kuchen
Der Mainstream - und in dieser Reaktion zeigt sich besonders deutlich die Grundproblematik der hiesigen Medienmaschinerie - verschmäht bislang die "Enthüllung" über unseren Redaktionsalltag. Julian Reichelt würdigte die Reportage am Tag ihres Erscheinens nicht einmal mehr mit einem Tweet, skandalisierende Push-Beiträge in den Onlineausgaben von Focus, Bild, Stern und Spiegel blieben bislang aus. Der Grund liegt wohl auf der Hand: Davids Sicht auf RT und Russland ist zwar kritisch, aber eben nicht dämonisierend. Für Bashing schlichtweg ungeeignet, zu konstruktiv die Kritik. Wir sind uns sicher, hätte es schmutzige Wäsche gegebenen und hätte David diese ausgebreitet, wäre die Twittermeute längst am Geifern und aus allen Kanälen prasselten Spott und Häme auf uns ein. Doch nun? Stille.
Ein ähnliches Phänomen lässt sich in deutschen Medien beim Umgang mit dem ehemaligen Präsidenten der Sowjetunion Michael Gorbatschow beobachten. Der ehemals allseits geliebte "Gorbi" ist ein scharfer Kritiker Putins, hat seinem Nachfolger ein eigenes Buch gewidmet, und müsste sich eigentlich trefflich als zitierfähige Quelle verwenden lassen, wäre das Ziel tatsächlich ein offener Diskurs über die politische Lage Russlands und eine möglichst positive Entwicklung des Landes. Doch der Amtsvorgänger benennt eben auch deutlich die Erfolge von Putins Politik. Für die Erzeugung und Pflege eines Feindbildes eignet sich Gorbatschows Sicht auf Putin ebenso wenig wie Davids Sicht auf RT. Die Folge: Das Mediensystem reagiert mit Auslassen, Ignorieren, es passt nicht ins Bild.
Letztendlich sollte niemand nur ein Medium konsumieren, besonders bei strittigen Themen ist es unumgänglich, beide Seiten der Medaille zu betrachten. Nach knapp zwei Jahren Sendebetrieb von RT Deutsch ist mehr als offensichtlich geworden, dass die etablierte Presse genau dies verhindern will. Es geht nicht um den Schutz der Bürger vor "gefährlicher Russenpropaganda", es geht um das konkrete Ziel, eine abweichende Stimme, die nicht im Kanon des Mainstreams singt, abzuwürgen. Meinungsabweichler, vor allem in den großen geopolitischen Auseinandersetzungen, gilt es mundtot zu machen. Professor Appel lässt grüßen.
Davids Beitrag stellt im bisherigen Umgang des Mainstreams mit RT somit eine begrüßenswerte Zäsur dar. Zumindest hat man einander einmal kennengelernt. Für das Missachten der Gepflogenheiten bei einer Beschäftigung als Praktikant revanchieren wir uns allerdings mit einem Bruch des Urheberrechts, sagen Schwamm drüber und nochmals Danke für den leckeren Russischen Zupfkuchen:
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