Ein Gastbeitrag von Dr. Hauke Ritz
Teil IX: Die besondere Rolle und Bedeutung Russlands
In den zuvor erschienenen Folgen dieses Essays wurde dargelegt, dass die westliche Supragesellschaft im Begriff ist, sich als Weltstaat zu konstituieren. Der Widerstand gegen diesen – auch als Globalisierung bekannten – Vorgang ist in vielen Ländern zu finden. Insbesondere in Lateinamerika gibt es eine starke soziale Widerstandsbewegung.
Doch Lateinamerika ist ein junger Kontinent. Keines der dortigen Länder war je ein Imperium oder auch nur über einen längeren Zeitraum ein selbstständiger Staat. Der soziale Widerstand in Lateinamerika ist zwar stark. Aber aufgrund der kurzen und abhängigen Geschichte des Kontinents sind dort auch jene Menschen zahlreich vertreten, die nur allzu bereit sind, die Souveränität ihres Landes für 30 Silberlinge zu verkaufen. Wie leicht dieses möglich ist, zeigen die jüngsten politischen Unruhen in Brasilien. Zudem verfügt Lateinamerika nicht über die geographische Tiefe Eurasiens. Die Länder dieses Kontinents sind militärisch schwach und könnten theoretisch von den Küsten aus militärisch unter Druck gesetzt werden.
Die arabische Welt wiederum ist schwer gezeichnet von Jahrhunderten Kolonialherrschaft, die zunächst vom Osmanischen Reich ausgeübt wurde, dann von den Briten und Franzosen und schließlich von den USA. Die arabische Welt ist ein Lehrbuchbeispiel für die kulturzerstörende Kraft der kolonialen Existenzform.
Auch Indien war jahrhundertelang Kolonie: erst von den arabischen Herrschern des Mogulreiches, später zumindest zum Teil von Portugal, den Niederlanden und schließlich im großen Umfang von Großbritannien. Auch im Falle Indiens schränkt die koloniale Vergangenheit den außenpolitischen Handlungsspielraum ein.
Unter den bedeutenden nichtwestlichen Staaten waren nur China, Iran und Russland eigenständige Imperien. Nur sie verfügen über die Erfahrung, Vertreter einer eigenständigen Kultur zu sein, nur sie haben sich deshalb auch effektiv gegen Versuche einer Kolonialisierung verteidigen können. Nur in diesen Ländern fühlt sich die Bevölkerung in ausreichendem Maße mit ihrem jeweiligen Staat verbunden, so dass diese Staaten als eigenständige Akteure auf der Weltbühne auftreten können.
Doch auch unter diesen drei Staaten gibt es Unterschiede. China hat das Potenzial zur ökonomischen Supermacht. Es wurde in den vorangegangenen Kapiteln aber bereits erwähnt, dass die chinesische Kultur stets nur auf die chinesische Bevölkerung bezogen war. Es gab nie einen chinesischen Universalismus. Dies schränkt den geopolitischen Handlungsspielraum Chinas ein.
Unter den bedeutenden Nicht-westlichen Staaten partizipiert nur Russland an der europäischen Kultur.
Und weil in diesem neuen Kalten Krieg – bislang unbemerkt von der Öffentlichkeit – essenziell um Fragen der Kulturentwicklung gerungen wird, kommt Russland – nicht zuletzt wegen seiner Zugehörigkeit zur europäischen Kultur – zusammen mit den USA die entscheidende Rolle im neuen Kalten Krieg zu.
Einerseits gehört Russland zu Europa, partizipiert an seinen Traditionen und hat sich über mehrere Jahrhunderte parallel zu den anderen europäischen Staaten entwickelt. So war das Land im 18. und 19. Jahrhundert ebenso wie Großbritannien oder Frankreich ein Imperium. Andererseits befindet sich Russland seit 1917 außerhalb des Clubs der imperialen europäischen Mächte. Tatsächlich unterhielt die Sowjetunion keine Ausbeutungsbeziehung zu den Ländern Südasiens, Afrikas oder Lateinamerikas. Auch ihre eigenen Republiken verursachten eher Kosten, als dass sie Profite abwarfen und waren zumindest für die Sowjetunion nicht mehr die klassischen Kolonien, die sie für das Zarenreich noch waren.
Dies versetzt Russland heute in die Lage, eine Vermittlerrolle zwischen jenen Staaten einzunehmen, die einst Kolonien waren, oder wie China und Iran beinahe kolonialisiert worden wären und den klassischen Kolonialmächten Großbritannien, Frankreich sowie den USA, die zwar keine klassische Kolonialmacht sind, doch als informelle Imperialmacht das Erbe der europäischen Kolonialreiche nach dem Zweiten Weltkrieg angetreten haben.
1991 wollte Russland eigentlich in den Club der imperialen westlichen Mächte zurückkehren. Doch dadurch, dass der Westen in der Jelzin-Ära selbst versucht hatte, Russlands damalige Schwäche machtpolitisch auszunutzen und es quasi zu "kolonialisieren", blieb die antiimperialistische Außenpolitik der UdSSR auch für das neue Russland verbindlich. Heute ist diese außenpolitische Kontinuität zu Russlands wichtigster Quelle für Soft Power geworden und kann allein aus diesem Grund nicht mehr aufgegeben werden.
Wie auch die übrigen europäischen Staaten bezieht sich Russland auf die Überlieferungsgeschichte des antiken Römischen Reiches. Allerdings lag bei Russland im Unterschied zum Westen der Schwerpunkt auf Byzanz statt auf Rom. Wie die Kultur Zentraleuropas ist die russische Kultur vom Christentum geprägt. Jedoch ist Russland vom orthodoxen und nicht vom katholischen oder protestantischen Christentum bestimmt. Es hat wie die Länder des Westens an der Entwicklungsgeschichte der europäischen Kunst teilgenommen und wurde von der Aufklärung sowie den politischen Philosophien des 19. Jahrhunderts tiefgreifend geprägt. Allerdings hat sich in Russland im 20. Jh. im Unterschied zum Westen die politische Philosophie des Sozialismus statt die des Liberalismus durchgesetzt.
Man kann an diesen Beispielen erkennen, dass Russland zwar zu Europa gehört, an all seinen Traditionen partizipiert, dass diese dabei allerdings in Russland historisch oft etwas anders interpretiert werden, als im übrigen Europa.
Russland ist einerseits ein legitimer Erbe der europäischen Kultur und war an seiner Ausgestaltung beteiligt. Doch zugleich erscheinen die europäischen Traditionen in Russland in einer leichten Brechung.
Weil Russland aber dennoch auf das Erbe der europäischen Kultur zugreifen kann, besitzt das Land theoretisch die Möglichkeit, zivilisatorische Konzepte mit universaler Ausstrahlungskraft zu entwickeln. Aus diesem Grund ist Russland in dem Dreieck Russland, China und Iran der wichtigste Pol. Und dies erklärt auch, weshalb die USA bei ihren verschiedenen Versuchen, einen Pol aus diesem mit dem Westen konkurrierenden Dreierbund zu lösen, sich zurzeit auf Russland konzentrieren.
Die bloße Existenz Russlands gibt Europa und der Welt zu verstehen, dass die transatlantische Deutung der europäischen Kultur nicht die einzig mögliche Interpretation darstellt. Dies ist für die USA vor allem deshalb ein Problem, weil ihre eigene Interpretation der europäischen Kultur sowohl von einem kulturellen, historischen als auch philosophischen Gesichtspunkt auf schwachen Füßen steht. Wie in den vorangegangenen Folgen dargelegt, hatten die USA ihre Kulturpolitik in Westeuropa nach 1945 ganz und gar auf die strategischen Erfordernisse des Kalten Krieges zugeschnitten. Der Eigenwert der europäischen Kultur spielte für die USA kaum eine Rolle. Dabei ist es bis heute geblieben.
Nun fordert die enorme Wirtschaftskraft Chinas den Status des Dollar als Weltwährung langfristig heraus, während andererseits der Iran die Vorherrschaft der USA im Nahen Osten gefährdet.
Doch letztlich ist es Russland, das aufgrund seiner europäischen Identität als einziger dieser drei Staaten Vorschläge für eine Alternative zum derzeitigen europäischen Zivilisationsmodell entwickeln könnte und es hinter vorgehaltener Hand auch bereits tut. Und damit fühlen sich die USA von Moskau in viel grundsätzlicherem Maße herausgefordert als von China und Iran.
Allerdings besitzt Russland eine Schwäche, die im Pentagon sehr wohl bekannt ist und auf die sich die westlichen Destabilisierungsversuche zurzeit konzentrieren. Putins Regierung beruht seit Mitte der 2000er Jahre auf einer komplizierten Balance zwischen prowestlichen und konservativen Kräften.
Sein Regierungskabinett setzt sich zur Hälfte aus Vertretern des liberalen-prowestlichen und zur anderen Hälfte aus Vertretern des konservativen Flügels zusammen. Während die Konservativen hoffen, Putin für eine interessengeleitete und unabhängige Außenpolitik zu gewinnen, versuchen die liberalen Kräfte, ihre liberale Wirtschaftspolitik mit ihm durchzusetzen. Dabei konnten beide Seiten Erfolge verzeichnen.
Die zahlreichen Provokationen, die der Westen gegenüber Russland in jüngster Zeit praktiziert, drohen diese Balance aus dem Gleichgewicht zu bringen. Zurzeit steht Putin unter enormem Druck beider Seiten.
Sollten die Liberalen unter Führung des ehemaligen Finanzministers Alexei Kudrin die Macht im russischen Staat übernehmen, so würde eine zweite Phase des Ausverkaufs beginnen, vergleichbar mit der Epoche der 1990er Jahre, als das Land unter der Fahne von Demokratie und Liberalismus regelrecht geplündert wurde. Um die Vorherrschaft des Liberalismus in Russland dauerhaft zu sichern, würden die Liberalen nicht davor zurückschrecken, dem Land bewusst die ökonomische Basis für eine unabhängige Außenpolitik zu entziehen. Das Land würde seine Souveränität verlieren, wodurch auch das Überleben Chinas und Irans als unabhängige Staaten erheblich gefährdet wäre.
Sollte der konservative Flügel sich durchsetzen, so würde dies den USA das notwendige Argument liefern, um einen zweiten Eisernen Vorhang zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer zu etablieren. Der neue Kalte Krieg, der sich zurzeit nur anbahnt, würde dann zu einer endgültigen Realität werden. Dies würde vermutlich auch bedeuten, dass Russland noch umfassender als jetzt von den Finanzmärkten und womöglich sogar vom Internet abgekoppelt werden würde.
Die USA sind somit in einer Win-Win Situation, wenn es um die Erschütterung des gegenwärtigen von Putin verkörperten politischen Kompromisses geht. Schlägt das Pendel zur liberalen-prowestlichen Seite aus, kann der Westen hoffen, Russland wie in den 1990er Jahren ein zweites Mal zu plündern. Es würden dann enorme Reichtümer außer Landes geschafft werden, wobei ein Teil der in London ansässigen russischen Oligarchen die Judas-Rolle übernehmen würden.
Schlägt das Pendel hingegen zur konservativen Seite aus, so gewinnt Washington das lang gesuchte Argument für weitere Sanktionen gegen Russland sowie eine militärische Aufrüstung. Auch dieser Ausgang wäre für die USA besser als die gegenwärtige Situation. Es würde den Vereinigten Staaten erlauben, ihre Macht im übrigen Europa zu konsolidieren und den europäischen Vasallenstatus gegenüber den USA dauerhaft festzuschreiben. Die Stimmung in der russischen Bevölkerung spricht derzeit gegen einen Sieg der Liberalen. Mehrheitsfähig ist in Russland eine Mischung aus konservativer Außen- und linker Wirtschaftspolitik.
Für die weitere politische und kulturelle Entwicklung der Menschheit wäre ein neuer Kalter Krieg allerdings eine Katastrophe. Denn abgesehen von der konkreten Kriegsgefahr hätte dies viele weitere negative Konsequenzen. Ein Kalter Krieg führt in der Regel zur Verfestigung der globalen Machtverhältnisse. Er löst die Souveränität kleinerer und mittlerer Staaten komplett auf. Zudem würde in einem neuen Kalten Krieg der schon bestehende militärische, industrielle, mediale Machtkomplex weiter expandieren. Dies würde die kulturelle und geistige Entwicklung der Menschheit in Zukunft nachhaltig einschränken.
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 1
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 2
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 3
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 4
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 5
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 6
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 7
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 8