Ein Gastbeitrag von Dr. Hauke Ritz
Teil II: Die Fehleinschätzung, die am Anfang steht
Am Ausgangspunkt dieses neuen Kalten Krieges, den wir heute erleben, steht eine – vorsichtig ausgedrückt – nicht sehr realistische Grundidee: nämlich die, dass es möglich wäre, die gesamte Welt mit ihren vielen, oft Jahrtausende alten Kulturen zu verwestlichen. Diese Vorstellung ist eigentlich zu unrealistisch, um zum Ausgangspunkt einer groß angelegten außenpolitischen Strategie zu werden.
Doch die Selbstkorrekturmechanismen in den außenpolitischen Think Tanks in Washington, London, Paris und Berlin waren in den vergangenen 25 Jahren nur schwach entwickelt. Zudem wurde eine kritische Debatte in der Öffentlichkeit nicht zugelassen. Und so nahm das Unglück schließlich seinen Lauf. Die äußerst unrealistische Idee wurde zur offiziellen Leitlinie westlicher Außenpolitik. Damit schlug das westliche Bündnissystem einen ähnlichen evolutionären Weg ein, wie einst die Sowjetunion. Denn auch diese hatte ihre Außenpolitik ja auf der nicht sehr realistischen Erwartung einer kommenden Weltrevolution begründet.
Es begann bereits im Schicksalsjahr 1989. Damals kam unter den US-amerikanischen Eliten die Vorstellung auf, dass nun, nach dem Zerfall des sowjetischen Bündnissystems, nur noch ein einziges modernes Zivilisationsmodell existieren würde. Gemeint war die liberale republikanische Ordnung US-amerikanischer Prägung. Francis Fukuyama vertrat diese Idee bereits im Sommer 1989 in einer in Chicago gehaltenen Rede, wenige Monate bevor die Berliner Mauer überhaupt gefallen war.1 Später buchstabierte er seine These in verschiedenen Veröffentlichungen weiter aus.
Seine Grundidee war die Folgende: Indem fortan nur noch ein modernes Zivilisationsmodell existieren würde, wäre die Geschichte an sich an ihr Ende gelangt. Der Wettstreit der Zivilisationen als solcher sei dadurch zum Abschluss gekommen. Und damit würde die Welt ihre geschichtliche Dimension verlieren. Auf die Zukunft gerichtete geschichtliche Hoffnung würde damit ebenso ihre Relevanz verlieren wie geschichtliche Rekurse auf die Vergangenheit. Geschichtliche Erinnerung wäre lediglich in ihrer musealen Form möglich.
Fortan gäbe es nur noch das Leben in einer ewigen eindimensionalen und nicht enden wollenden Gegenwart, die geprägt sein würde von Konsum, Unterhaltung und Individualismus. Ohne ein zweites geopolitisches Machtzentrum, ohne eine zweite Interpretation der modernen Zivilisation würde das westliche Zivilisationsmodell zu einer Totalität werden, die kein Außen mehr kennt. Indem das Außen verschwände, würde sich aber auch der Blick aufs Ganze verlieren. Kritik wäre zwar nach wie vor möglich, aber nur noch insofern sie partikulare Sachverhalte adressiert. So schreibt Fukuyama:
„Das Ende der Geschichte wird eine traurige Zeit sein. Der Kampf um Anerkennung, die Bereitschaft, sein Leben für ein rein abstraktes Ziel zu riskieren, der weltweite ideologische Kampf, der neben Kühnheit vor allem Mut, Vorstellungskraft und Idealismus hervorbrachte, wird ersetzt werden durch ökonomisches Kalkül, das endlose Lösen von technischen Problemen, ökologischen Sorgen und der Befriedigung ausgefeilter Konsumbedürfnisse.“
Diese Gedanken fanden damals ein weites Echo. 1990 veröffentlichte der amerikanische Politikwissenschaftler Charles Krauthammer in der Zeitschrift Foreign Affairs den später berühmt gewordenen Aufsatz mit dem Titel „Der unipolare Moment“2. Darin legte Krauthammer dar, dass die USA für absehbare Zeit auf dem gesamten Globus die einzige Macht sein würden, die in der Lage wäre, globale Politik zu gestalten. Alle übrigen Staaten wie China, Russland, Indien, aber auch die Mitglieder der damaligen europäischen Gemeinschaft sowie Japan, Südkorea, Taiwan, Australien und Neuseeland bliebe nichts anderes übrig, als den Führungsanspruch der USA anzuerkennen und sich ihm unterzuordnen. Die Welt würde nun eine unipolare Ordnung annehmen.
Auch wenn die USA in einer solchen unipolaren Welt keinen ebenbürtigen Konkurrenten mehr besäßen, sei die Welt dennoch nicht frei von Feinden. Die größte Bedrohung der Zukunft sei in der illegalen Verbreitung von Massenvernichtungswaffen zu suchen, so Krauthammer. Diese Gefahr würde es erforderlich machen, dass die USA in der Rolle des Weltpolizisten aufträten.
Zbigniew Brzezinski, der ehemalige Sicherheitsberater unter Jimmy Carter, unternahm es schließlich im Jahr 1997 in seinem Buch „Die einzige Weltmacht“3, eine Roadmap für die Etablierung einer unipolaren Weltordnung zu entwerfen4. Brzezinski zufolge käme es vor allem darauf an, das sogenannte „Herzland“ zu beherrschen, einen Begriff, den er von dem vor ca. hundert Jahren lebenden britischen Geostrategen Halford John Mackinder entlehnt hatte.5 Mit dem „Herzland“ meinte Brzezinski als Schüler Mackinders vor allem das Zentrum Eurasiens und damit den postsowjetischen Raum. Damit die Stellung der USA als führende Seemacht, die den Seehandel und damit weite Teile des Welthandels kontrolliert, nicht infrage gestellt werden könne, müsste jene Region der Welt, in der alternative Handelsrouten zwischen Europa und Ostasien über Land etabliert werden könnten – nämlich der zentralasiatische Raum in Verbindung mit Russland – einer US-amerikanischen Hegemonie unterworfen werden. Die Aufgabe bestünde darin, die ehemaligen zentralasiatischen Sowjetrepubliken von Russland zu isolieren und stattdessen in eine westlich dominierte Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur einzubinden. Dies könne durch eine Kombination von EU- und NATO- Osterweiterung geschehen. Die Errichtung von US-amerikanischen Militärbasen in Zentralasien und Pipelinerouten, die Russland umgehen, könnten weiter dazu genutzt werden, die ehemaligen Sowjetrepubliken in die westliche Einflusszone zu integrieren.
Russland selbst bliebe dann lediglich die Wahl, sich entweder dem Westen unterzuordnen und zu einem von ihm abhängigen Rohstofflieferanten zu werden oder aber einer nicht enden wollenden Periode des Chaos entgegenzublicken, in deren Verlauf das Land auch in mehrere Teile zerbrechen könnte, so Brzezinski. 6 Am Ende bliebe auch China nichts anderes übrig, als sich so der von den westlichen Staaten etablierten eurasischen Wirtschafts- und Sicherheitsarchitektur anzuschließen. Die USA hätten sich dann nicht nur als die „erste“ und „einzige“, sondern, so Brzezinski, auch als die „letzte“ Weltmacht etabliert. Da ein geographisch unabhängiger Raum für ein zweites alternatives Zivilisationsmodell nicht mehr vorhanden wäre, wären die USA sprichwörtlich die letzte Weltmacht der Geschichte. Nachdem sie eine globale Weltordnung errichtet hätten, würden sie ihren Einfluss schließlich an die von ihnen geschaffene globale Struktur abgeben.
Wie sehr diese Zeitdiagnose kurz vor und nach der Jahrtausendwende zum allgemeinen Zeitgeist gehörte, zeigt auch das Buch „Empire: Die neue Weltordnung“7 von Antonio Negri und Michael Hardt. Obwohl die Autoren sich als linke Kritiker des Kapitalismus verstanden, gingen auch sie wie zuvor Fukuyama, Krauthammer, Brzezinski und viele andere von der nun für unabsehbare Zeit andauernden Vorherrschaft des Westens, dem sogenannten „Empire“, aus. Auch sie glaubten, dass die Welt fortan nur noch von einem einzigen Zivilisationsmodell bestimmt sein würde. Und dass niemals wieder irgendwo in der Welt eine zweite Interpretation der Moderne entstehen könnte. Doch so wie es damals geplant wurde, ist es nicht gekommen.
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 1
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 3
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 4
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 5
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 6
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 7
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 8
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 9
Die Logik des neuen Kalten Krieges - Teil 10
Die Logik des neuen Kalten Krieges – Teil 11
1 Francis Fukuyama, The End of History?, in: The National Interest (Summer 1989)
2 Charles Krauthammer, The Unipolar Moment, Foreign Affairs, Vol. 70, No. 1, America and the World 1990/91, pp. 23-33
3 Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht – Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Rottenburg 2015 4 Im Englischen erschien das Buch unter dem Titel: The Grand Chessboard – American Primacy And Its Geostrategic Imperatives, New York 1998
5 Halford J. Mackinder, The Geographical Pivot Of History, in: The Geographical Journal, No. 4., Vol. XXIII, April 1904
6 Vgl.: Zbigniew Brzezinski, Die einzige Weltmacht- Amerikas Strategie der Vorherrschaft, Berlin 1997, S. 288 / 289.
7 Michael Hardt, Antonio Negri, Empire – die neue Weltordnung, Frankfurt 2003