Von Alexej Danckwardt
So schnell wurden Lügen der Kriegstreiber noch nie widerlegt. Einen Tag vor Heiligabend ließ die grüne Bundestagsabgeordnete Sara Nanni die Leser auf X an den "Erkenntnissen" ihrer Reise durch das Baltikum teilhaben. Russland bereite sich darauf vor, die NATO zu überfallen und wolle "1,4 Millionen Esten" töten, behauptete die sicherheitspolitische Sprecherin der grünen Bundestagsfraktion mit der Inbrunst der Überzeugung und gerechten Zorns.
Nicht einmal eine Woche später meldete sich ausgerechnet der estnische Geheimdienst zu Wort und verkündete das genaue Gegenteil: Derzeit gibt es keine Anzeichen dafür, dass Russland einen baltischen Staat oder die NATO als Ganzes anzugreifen plant, sagte Kaupo Rosin, der Chef des estnischen Auslandsnachrichtendienstes, in einem Interview für das Nachrichtenportal ERR am Montag. Estland sehe keine Anzeichen dafür, dass Russland gezielt eine Eskalation anstrebe.
Nun, Rosin ist nicht gerade russophil. In demselben Interview hält er an zweifelhaften Darstellungen über russische Provokationen in der Vergangenheit fest und meint, Russland habe sich von der "starken Reaktion der NATO darauf" beeindrucken lassen. Auch er manipuliert und betreibt Hasspropaganda gegen das Nachbarland, aber wo nichts ist, kann auch der beste Geheimdienst keine russische Invasionsarmee herzaubern. Und zwischen Narva und Sankt Petersburg steht nun mal keine einzige russische Militäreinheit.
Wie aus dem Interview ebenfalls hervorgeht, handelt es sich bei der Aussage Rosins um die amtliche Einschätzung der estnischen Aufklärung – und in ihr hat sich gegenüber den Vorjahren nichts verändert. Der Geheimdienstchef beantwortet die Frage danach, ob sich im Verlauf des Jahres 2025 etwas in der Gefahrenlage verändert habe:
"Wenn wir über die Bedrohungslage sprechen, wie hat sich diese aus estnischer Sicht vom Jahresbeginn bis zum Jahresende verändert?"
Die Antwort kurz gefasst: "Nichts." O-Ton Rosin:
"Was wir auch heute weiterhin sehen, ist, dass Russland derzeit keine Absicht hat, einen der baltischen Staaten oder die NATO im weiteren Sinne anzugreifen. Wir haben gesehen, dass Russland aufgrund unserer Reaktionen sein Verhalten nach verschiedenen Vorfällen, die sich in der Region ereignet haben, geändert hat. Bislang ist weiterhin klar, dass Russland die NATO respektiert und versucht, jeden offenen Konflikt zu vermeiden."
Mit anderen Worten: Auch im Bericht des Jahres 2025 sah der estnische Geheimdienst keine russische Aggression an seinen Grenzen. Mit wem auch immer Nanni im Baltikum gesprochen hat, Profis aus der Aufklärung waren es also nicht. Und deren Jahresberichte und die jährlichen Einschätzungen der Bedrohungslage hat sie auch nicht gelesen. Woher kommen also ihre Überzeugungen, Russland bereite einen Überfall gar auf die gesamte NATO vor und wolle mehr Esten vernichten, als es überhaupt gibt?
Russophobe baltische Phantasien kennt man zur Genüge. In gewisser Weise kann man die Ängste kleiner Nationen vor einem großen Nachbarn auch verstehen, irrational bleiben sie dennoch. Gerade Estland hat der Russophobie glänzende Geschäfts- und Prosperitätschancen geopfert: Die russische Sechs-Millionen-Metropole Sankt Petersburg liegt kaum 120 Kilometer entfernt und war für die estnische Landwirtschaft und ihre Konsumgüter der traditionelle Absatzmarkt. Ein Standortvorteil, an den sich jeder klammern würde. Russische Touristen und der Transit aus Russland über die estnischen Häfen brachten dem kleinen Land Milliardenumsätze. Auf all das hat Tallinn der Konfrontation wegen verzichtet, eine bemerkenswerte Selbstschädigung.
Doch auch in den phantasievollsten Angstszenarien dachte man in Tallinn nie an eine Vernichtung aller Esten. Russland könnte – so das gängige Kriegsszenario, das man konstruiert – versuchen, den fast ausschließlich von Russen bewohnten östlichsten Landkreis Ida-Virumaa und die ebenso russisch geprägte Stadt Narva zu annektieren. Schlimmstenfalls befürchtet man, wieder in den Herrschaftsbereich Moskaus zurückgeholt zu werden, in einem Szenario wie 1940.
Mehr als das konnte Nanni im Baltikum nicht "aufgegabelt" haben, alles darüber Hinausgehende ist auf ihrem eigenen "Mist" gewachsen. Es gibt nur eine Erklärung für diese außergewöhnliche Hetze: Sie spiegelt die eigenen (vorerst noch unterdrückten) Vernichtungsphantasien der Grünen gegenüber Russland und Russen wider. Wenn sie, "die Gute", sie hat, dann müssen auch "die Bösen", die Russen, sie haben, so die dahinterstehende Logik.
Übrigens gelingt es den Grünen und anderen Russenhassern immer schlechter, die eigenen Vernichtungsphantasien zu verbergen. Im selben vorweihnachtlichen Thread prophezeit Nanni, ganz Europa werde "frei von russischer Dunkelheit" sein. Als Nächstes auf ihrem "Befreiungsplan" steht dabei Weißrussland. All das ist nichts anderes als die Verbrämung des traditionellen und banalen "Drangs nach Osten" der vormals deutschen, nun europäischen imperialistischen Expansionsbestrebungen. Und "Befreiung" ist nur ein Codewort für die Vernichtung alles Russischen.
Warum sie sich mit dieser Baggage, mit der sie eindeutig in der Tradition des deutschen Faschismus steht, auch noch für eine Lichtgestalt hält, erklärt übrigens die "Schuldkult-Theorie" des deutschstämmigen Philosophen Hans-Georg Moeller, über die ich erst vor knapp drei Wochen geschrieben habe. Weil man "seine Vergangenheit aufgearbeitet" habe, sei man nun moralisch überlegen und wieder dazu berechtigt, ja sogar verpflichtet, das berüchtigte "deutsche Wesen" in die Welt zu tragen. Der einzige Unterschied, man nennt das "deutsche Wesen" heute "Demokratie" oder "europäische Werte", aber das ändert nichts prinzipiell.
Nichts anderes hat der Vorwurf an Russland zu bedeuten, den die Grüne in ihrem X-Thread äußert:
"Das brutale russische Imperium ist für das heutige Russland nicht der historische Schandfleck, sondern die glorreiche Vergangenheit."
Die angebliche moralische Unterlegenheit der Russen ergibt sich also aus der fehlenden "Aufarbeitung". Da spielt es dann auch keine Rolle mehr, dass kein anderes Imperium der Weltgeschichte auch nur annähernd derartige Verbrechen zu verantworten hat wie Deutschlands Drittes Reich. Die Enkelgeneration der Nazis darf nun das Volk, das dieses Dritte Reich in die Knie gezwungen und dafür 27 Millionen Menschenleben geopfert hat, bewerten, belehren und "befreien" wollen. Wie kommen die auch dazu, in ihrem Sieg über "unsere Opas" ihre eigene "glorreiche Vergangenheit" zu sehen!
Was auch immer Nanni "aufgearbeitet" hat, der geerbte nazistische Kern ist geblieben: Wie Hitler und Goebbels träumt auch sie von einem "befreiten" Weißrussland und einem zerschlagenen Russland. Wird sich daran etwas ändern, nachdem ihre Lüge, hinter der sie das eigene Expansionsstreben verstecken wollte, so schnell entlarvt wurde – und dies ausgerechnet von denen, um die sie vorgab sich zu sorgen? Wer das glaubt, dem habe ich eine Brücke zu verkaufen.
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