Von Anton Gentzen
Die grüne Bundestagsabgeordnete Sara Nanni, sicherheitspolitische Sprecherin ihrer Fraktion und durch militante antirussische Äußerungen einschlägig bekannt, hat am Dienstag auf der Plattform X mitgeteilt, dass sie auf einer Reise durch das Baltikum ist und sich dadurch in ihren russophoben Überzeugungen bestärkt sieht.
"Meine diesjährige Reise ins Baltikum geht dem Ende entgegen. Und es ist mir ein großes Bedürfnis zu sagen, was alle längst wissen sollten. RUS bereitet sich auf einen Angriff gegen die NATO vor. Der Kreml schlägt alle diplomatischen Angebote aus. Dieses Russland ist unser Feind", schrieb Nanni im ersten Teil eines langen Threads.
Wo, wie und welche Kriegsvorbereitungen Russlands sie vom Baltikum aus ausgemacht hat, teilt die Bundestagsabgeordnete nicht mit, ebenso wenig, welche "diplomatischen Bemühungen" es gegeben hat, die Moskau ausgeschlagen hätte. Welches Motiv Russland haben sollte, gleich die ganze NATO anzugreifen, erfährt der Leser auch nicht. Umgekehrt liegt das Motiv auf der Hand: Die russischen Ressourcen und Reichtümer locken die Eroberer, nicht zum ersten Mal. Aber was soll Russland denn fehlen, das es nur in einem NATO-Land gibt?
Darauf gibt die Grüne keine Antwort. Dafür zeigt sie sich überzeugt, dass Russland "1,4 Millionen Esten" töten wolle:
"Das brutale russische Imperium ist für das heutige Russland nicht der historische Schandfleck sondern die glorreiche Vergangenheit. Die Balten wissen das sehr gut. Sie haben keine Illusionen über das heutige Russland. Der Überlebensdrang der Balten ist auch deshalb so groß, weil tatsächlich das Überleben ihres Kollektivs auf dem Spiel steht. Etwas, was wir uns mit 82 Millionen Deutschen gar nicht vorstellen können. Niemand wird uns alle ermorden. Aber 1,4 Millionen Esten vielleicht schon?"
Woraus Nanni das herleitet, lässt sie den Leser wieder nicht wissen, dafür teilt sie ihre Sicht mit, dass es Russland war, dass sich "uns zum Feind genommen hat" – nicht etwa umgekehrt. Die "größte Gefahr" für Deutschland sieht sie indes "im Informationsraum" und in Meinungsäußerungen jener, die ihre russophobe Paranoia nicht teilen:
"Ein baltischer Kollege fragte mich: was ist für Deutschland die größte Bedrohung durch Russland? Und meine Antwort überraschte ihn: Operationen im Informationsraum. Zu viele Deutsche, auch Politiker, fallen darauf rein. Vermeintlich linke Menschen schreiben Bücher darüber, warum es sich nicht lohnt für ein Deutschland zu kämpfen, dass im vielen Bereichen so progressiv ist wie es vorher nie war und wesentliche Ziele (sozialdemokratischer) linker Politik umsetzt. AfD, BSW und Teile der Linken wiederholen die Lügen aus Moskau, nach denen die Aggression Russlands eine unvermeidbare Reaktion auf die souveränen Entscheidungen europäischer Staaten ist."
Mit "souveränen Entscheidungen europäischer Staaten" meint die Grüne offensichtlich das Heranrücken des NATO-Militärs an Russlands Grenzen einschließlich seiner Stationierung in der Ukraine, von wo es Russland gleich in drei Richtungen angreifen und sein nukleares Abschreckungspotenzial neutralisieren kann, wodurch Russland dann im Grunde nicht mehr zu verteidigen wäre und sich entsprechend in akuter Existenzgefahr sieht.
In den Kommentaren unter dem Thread erhält Nanni überwiegend zustimmendes Feedback ihrer Anhänger.
Historische Hintergrundinformation: Ein unabhängiges Estland hat es bis 1918 ebenso wenig jemals gegeben wie ein unabhängiges Lettland. Estland entstand 1918 aus der früheren Provinz gleichen Namens und dem nördlichen Teil der Provinz Livland (deren südlicher Teil an Lettland fiel). Beide Provinzen standen im Lauf der Jahrhunderte abwechselnd unter Herrschaft der deutschen Kreuzritter, der dänischen Krone, Polens und Schwedens. Letzterem kaufte Zar Peter I. die beiden Provinzen nach seinem Sieg im Nordischen Krieg Anfang des 18. Jahrhunderts ab. Esten waren all die Zeit davor hauptsächlich leibeigene Bauern, während die Herrscherschicht und die städtische Bevölkerung überwiegend deutsch waren. Ihre, der Esten, Zahl zu Beginn der russischen Herrschaft wird in beiden Provinzen auf etwa 200.000 bis maximal 250.000 geschätzt. Bis Ende des 19. Jahrhunderts hat sie sich "unter der russischen Knute" vervierfacht.
Die Leibeigenschaft in den baltischen Gouvernements wurde bereits 1816 abgeschafft, 45 Jahre vor ihrer Abschaffung im übrigen Russland. Wenn Russland und die Sowjetunion Imperien waren, dann aber solche mit umgekehrten Vorzeichen. Anders als diejenigen in London, Paris und Washington waren die Machthaber in Sankt Petersburg und Moskau, egal ob sie sich Zar, Imperator oder Generalsekretär nannten, stets darauf bedacht, sich bei den "unterdrückten" Völkern beliebt zu machen, nicht so sehr beim "eigenen". Finnen, Polen, Balten waren privilegiert – der russische Bauer war zeitlebens der Kuli dieses Anti-Imperiums.
Oder hat ein britischer Monarch jemals ein von Engländern bewohntes Stück Englands einer Kolonie, sagen wir Irland, schenkweise zugeschlagen? Ein sowjetischer Monarch hat – Nikita der Erste und Einzige, die Krim, der Ukraine, samt Bewohner, wie einen Sack Kartoffeln.
Auch das estnische Nationalbewusstsein, einschließlich Schriftsprache, Literatur und Theater, entwickelte sich erst unter russischer Herrschaft im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Sämtliche estnischen Aufklärer – der "Vater" der estnischen Literatur Friedrich Reinhold Kreutzwald, die Dichterin Lydia Jannsen (Koidula), ihr Vater und Herausgeber der ersten, immer noch existierenden estnischsprachigen Zeitung Johann Voldemar Jannsen, der auch als erster Mensch überhaupt von einem "estnischen Volk" sprach, und viele andere mehr – waren Staatsbürger Russlands. Sie wirkten völlig ungehindert, so "brutal" war "das russische Imperium".
Was wenig bekannt ist: Bei den ersten freien Wahlen zur estnischen Nationalversammlug Anfang 1918 wurden Wladimir Lenins Bolschewiki stärkste Partei – sie erhielten 37,2 Prozent der abgegebenen Stimmen. Insgesamt kamen sozialistische Parteien unterschiedlicher Schattierungen auf mehr als 73 Prozent. Ob also tatsächlich eine Bevölkerungsmehrheit nach Unabhängigkeit von Russland strebte? Anfangs war auch in den anderen Parteien die Rede mehrheitlich von einer Autonomie innerhalb der neuen russischen Republik.
Diesen Volkswillen missachtete eine Minderheit von Nationalisten, die sich zuerst auf das deutsche Militär und später auf die Entente-Mächte und russische Weißgardisten stützte. Die Nationalversammlung mit ihrer sozialistischen Mehrheit und den Bolschewiki als stärkster Einzelpartei konnte nicht mehr zusammentreten, weil deutsche Truppen knapp drei Wochen nach der Abstimmung die Hauptstadt Revel (heute Tallinn) besetzten.
Im sogenannten "Unabhängigkeitskrieg" kämpften übrigens nicht so sehr Esten gegen "das Imperium" als – wie überall sonst im Land – Weiße und Rote gegeneinander. Auf beiden Seiten waren Esten anzutreffen, auf beiden Seiten Russen, aber nur auf der Seite der Nationalisten waren Interventionskräfte der Entente und finnische Verbände. Und so unterlagen die Bolschewiki, Lenin erkannte die Unabhängigkeit des bourgeoisen Estlands im Friedensvertrag von Tartu (Dorpat) am 2. Februar 1920 an – gegen den Willen von mindestens 37,2 Prozent der estnischen Wähler (und nicht alle Loyalisten hatten ihre Stimme den Bolschewiki gegeben). Noch schneller als Lenin hatten die russischen Weißgardisten, ihren Parolen nach Anhänger eines "geeinten und unzerteilbaren Russlands", die Unabhängigkeit Estlands anerkannt. So gab es dann erstmals in der Weltgeschichte einen estnischen Staat.
Ihre zweite Unabhängigkeit haben die Esten 1991 übrigens ohne einen einzigen Schuss und ohne ein einziges Todesopfer erhalten, so "brutal" war eben "das russische Imperium". Als "Freiheitskampf" muss der nationalen Legendenbildung ein Chorfestival und eine Menschenkette mit Kerzen herhalten. Hass und Provokationen sieht man seitdem auch nur aus einer Richtung – der westlichen. Solange es ging, kamen Russen gern als Touristen ins romantische Tallinn und brachten der estnischen Wirtschaft Milliardenumsätze. Es war nicht Moskau, das die Grenzen gesperrt hat.
In der Zeit der ersten estnischen Unabhängigkeit wuchs die Zahl der Esten kaum: von 970.000 im Jahr 1922 auf 990.000 1934. Außerdem lebten weiterhin rund 90.000 Russen im Land – am Westufer des Peipussees sind sie seit mehr als einem Jahrtausend die Eingeborenen – und rund 10.000 Juden, noch. "Rote" Esten waren während der Bürgerkriegswirren zu Tausenden in das sozialistische Nachbarland geflohen. Für sie und für Hunderttausende Anhänger der Bolschewiki in Estland selbst waren die Ereignisse des Sommers 1940, die in der Mainstream-Geschichtsschreibung als Beginn der "russischen Okkupation" gelten, die Revanche für die Niederlage im Bürgerkrieg. Aber das will heute niemand mehr wahrhaben, schon gar nicht Kommunistentochter und Faschistenenkelin Kaja Kallas.
Durch die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs – auf beiden Seiten kämpften Zehntausende Esten, die Braunen heute geehrt, die Denkmäler für die estnischen Antifaschisten stehen heute nur noch in Russland – und durch massenhafte Auswanderung gegen dessen Ende ging die Zahl der Einwohner der Republik um etwa 200.000 auf rund 900.000 (davon knapp 850 Tausend ethnischer Esten) zurück. Auf die sowjetischen Repressionen vor und nach dem Krieg werden rund 20.000 estnischer Todesopfer zurückgeführt (wozu auch diejenigen gezählt werden, die in Haft oder in der Verbannung natürlichen Todes gestorben sind), nach dem Krieg vor allem als Strafe für Kollaboration mit dem Hitler-Regime und Kriegsverbrechen wie die Auslöschung estnischer Juden – dank eifriger Helfer war Estland schon 1942 als erstes von den Nazis besetztes Land "judenfrei". Hätte das ungestraft bleiben sollen?
Bis 1989 erholte sich die Zahl der Esten in der Republik wieder auf 960.000, die Gesamtbevölkerungszahl wuchs auf mehr als 1,5 Millionen. Paradoxerweise geht es ohne "die Besatzer" mit beidem bergab: Die Zahl der ethnischen Esten ging bis 2024 auf 930.000 zurück, die Gesamtbevölkerung auf unter 1,4 Millionen. 2017 war sogar ein Tiefststand von 904.000 ethnischer Esten erreicht, der leichte Anstieg danach ist nicht etwa steigenden Geburtenraten zu verdanken, sondern dem Diskriminierungsdruck auf die russische Minderheit: Jeder, der irgendwie kann – Kinder gemischter Ehen haben da eine Art Wahl –, bezeichnet sich nun vermehrt als Este, wo er sich früher noch Russe genannt hätte.
Wo sie denn schon in Tallinn war, hätte Nanni ja auch fragen können, wer und wann den Bau der riesigen Burg der Estnischen Nationalbibliothek südwestlich der mittelalterlichen Altstadt begonnen hat und in welchen Jahrzehnten die Mehrzahl der heute dort aufbewahrten estnischen Bücher gedruckt wurde. Wie auch, wann die Theater in Tartu (gegründet 1870 im Russischen Kaiserreich, das erste estnischsprachige Theater überhaupt, die heutigen drei Spielstätten wurden jeweils 1967, 1970 und 1991 eröffnet), Viljandi (1981, laut estnischen Reiseführern der schickeste Theaterbau in ganz Europa) und Pärnu (eröffnet 1910, neu erbaut 1967) errichtet wurden. Oder in welcher Sprache zu Sowjetzeiten an der Universität Tartu und der Technischen Hochschule in Tallinn unterrichtet wurde. Vielleicht käme ihr dann nicht all der rassistische Schwachfug über "russische Dunkelheit" und "europäisches Licht" über die Lippen.
Angesichts all dieser Tatsachen ist die Unterstellung der grünen Hassstifterin, Russland wolle 1,4 Millionen Esten töten (derer es nur 930.000 gibt, aber offenbar will Russland auch die 300.000 ethnischen Russen in Estland vernichten, warum auch immer) schlicht und ergreifend die Phantasie einer Geistesgestörten. Weder das russische Zarenreich noch die Sowjetunion haben die Vernichtung der Esten angestrebt, warum sollte es das moderne Russland tun?
Was es aber in der Geschichte tatsächlich bereits gegeben hat, sind deutsche Vernichtungsbestrebungen gegen Russen und ein permanenter deutscher Expansions- und Eroberungsdrang nach Osten. Ja, auch in Russland beherrscht heute große Angst vor einem kommenden Vernichtungs- und Eroberungskrieg der Europäer das Denken und Handeln. Auch ich habe sie. Der Unterschied ist: Die russische Angst ist historisch begründet und fußt auf der nüchternen Feststellung, dass das ressourcenarme Europa nicht von der Hand zu weisende Motive hat und dass die NATO tatsächlich und ganz real immer weiter ostwärts vorrückt. Was nur als Vorbereitung eines Eroberungs- und Vernichtungskrieges zu erklären ist: Sonst hätte man die "souveränen Entscheidungen" auch sein lassen und Sicherheit umfassend, auch für Russen, denken können.
Die Angst, die Nanni und ihresgleichen schüren, ist hingegen irrational. Entweder ist es eiskalte und berechnende Hasspropaganda, um europäische Völker zum Feldzug gegen Russland zu motivieren. Oder die Geistesgestörten haben sich von ihrer eigenen Propaganda irre machen lassen. Verrückt ist es in jedem Fall.
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