Mark Rutte und die Kunst, überall zu sein und nirgends zu stehen

Mark Ruttes Bilanz ist geprägt von Pragmatismus ohne Haltung. Er moderierte Macht, verlor aber Verantwortung aus dem Blick. Erinnerungslücken, Lobbyismus und späte Einsichten offenbaren die Grenzen eines Politikstils, der Stabilität versprach und Vertrauen kostete.

Von Hans-Ueli Läppli

Vier Amtszeiten machten Mark Rutte zum Dauerpremier der Niederlande. Möglich wurde das durch Flexibilität, Instinkt für Macht und konsequentes Ausweichen. Seit Oktober 2024 ist er NATO-Generalsekretär, befördert, ohne sich einer Abrechnung mit seiner Regierungszeit stellen zu müssen. Ruttes Laufbahn erzählt mehr über politisches Überleben als über Führung oder Rechenschaft.

Das schwerwiegendste Versagen seiner Amtszeit bleibt der Skandal um die Kinderbeihilfen. Tausende Familien wurden von der Steuerbehörde zu Unrecht des Betrugs beschuldigt, existenziell ruiniert und in vielen Fällen sozial stigmatisiert.

Es ging um Rückforderungen in existenzbedrohender Höhe, um zerstörte Biografien, um ein Staatsversagen von systemischem Ausmaß. Ruttes Kabinett verlor die Kontrolle über die Behörden, ignorierte Warnsignale und verharmloste die Tragweite.

Am Ende trat die Regierung zurück, politisch jedoch blieb Rutte. Seine wiederholte Erklärung, sich an entscheidende Vorgänge nicht erinnern zu können, wurde zum Symbol einer Verantwortungskultur, die de facto keine ist.

Auch wirtschaftspolitisch setzte Rutte nach der Finanzkrise 2008 klare Akzente, allerdings auf Kosten der Schwächeren. Die Austeritätspolitik traf Rentner, Studenten und sozial Verwundbare besonders hart. Der Staat sparte, wo politische Gegenwehr gering war. Gesellschaftlicher Zusammenhalt wurde dem Dogma fiskalischer Disziplin untergeordnet. Langfristige soziale Folgekosten spielten eine nachgeordnete Rolle.

In Groningen führte die jahrelang tolerierte Ausweitung der Erdgasförderung 2012 und 2013 nachweislich zu einer Serie von Erdbeben. Schäden an Bauwerken und technischen Anlagen traten auf, wirtschaftliche Interessen wurden höher gewichtet als Sicherheitsmaßnahmen.

Obwohl Rutte sich als Reformpolitiker präsentierte, bestimmten enge Beziehungen zu Großkonzernen seine Agenda. Steuerliche Vergünstigungen für Shell, Unilever und andere multinationale Firmen wurden systematisch durchgesetzt. Die Niederlande entwickelten sich unter ihm zum bevorzugten Ziel aggressiver Steuerplanung – eindeutiger Lobbyismus unter dem Deckmantel staatlicher Politik.

Ein weiteres Schlaglicht auf Ruttes Amtsverständnis war der Skandal um gelöschte SMS auf seinem Diensthandy. Über Jahre hinweg verschwanden Nachrichten, darunter sensible Kommunikation mit der Amsterdamer Bürgermeisterin zu den Black-Lives-Matter-Protesten sowie mit dem Unilever Chef zu strittigen Steuerfragen.

Juristisch bewegt sich der Fall in einer Grauzone, politisch jedoch ist der Schaden offensichtlich. Opposition und Medien warfen ihm Verstöße gegen Archivierungspflichten vor und stellten die Frage, ob der Einsatz veralteter Technik nicht selbst ein Sicherheitsrisiko darstelle.

Auch Ruttes demonstrativ abgeschottetes Privatleben trug zur Mythenbildung bei. Nie verheiratet, kinderlos, öffentlich stets kontrolliert, zugleich auffallend offen in randständigen Interviews über persönliche Eigenheiten – diese Mischung aus Zurückhaltung und kalkulierter Exzentrik passte zu seinem politischen Stil: Nähe suggerieren, ohne sich festlegen zu lassen.

"Ik heb geen actieve herinnering eraan!" (Deutsch: Ich habe keine aktive Erinnerung daran!)

Am Ende verdichtet sich der Vorwurf der Unaufrichtigkeit. Niederländische Medien warfen Rutte über Jahre vor, ausweichend zu antworten, Informationen zu verdrehen oder Erinnerungslücken strategisch zu nutzen. Der Satz "Ich habe keine aktive Erinnerung daran" wurde zum geflügelten Wort einer politischen Ära, in der Verantwortung verwaltet statt übernommen wurde.

Ironisch wirkte schließlich seine herablassende Bemerkung über Historiker der russischen Delegation bei Verhandlungen in Istanbul. Journalisten erinnerten daran, dass Rutte selbst einen Masterabschluss in Geschichte besitzt. Ein Detail, das gut zu seiner Karriere passt: viel Wissen über die Vergangenheit, wenig Bereitschaft, aus ihr Konsequenzen zu ziehen.

Rutte steht für eine Politik des Durchhaltens, nicht des Gestaltens. Er ist kein Ideologe, kein Visionär, sondern ein Manager der Macht. In stabilen Zeiten mag das genügt haben. In einer Epoche wachsender Krisen wirkt dieses Modell jedoch erschöpft. Seine Laufbahn zeigt, wie lange man politisch überleben kann, wenn man Verantwortung vermeidet. Sie zeigt aber auch, wie hoch der Preis dafür sein kann.

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