Von Pjotr Akopow
"Wir sind Russlands nächstes Ziel und bereits in Gefahr",
erklärte NATO-Generalsekretär Mark Rutte. Die Transatlantiker (wenn in dieser Qualität nun auch ein Stück weit verwaist – Anm. d. Red.) schüchtern die Völker Europas seit langem mit der sagenumwobenen "russischen Bedrohung" ein, und die jüngste Äußerung aus einer ganzen Reihe, die der donnerpolternde Niederländer von sich gab, hätte man auch leicht ignorieren können. Doch diesmal fand er ein neues Argument, um seine Waffenbrüder aufzustacheln.
Beim Berliner Forum der Münchner Sicherheitskonferenz beklagte Rutte die vermeintliche europäische Leichtsinnigkeit:
"Zu viele geben sich der Selbstberuhigung hin, erkennen die Dringlichkeit der Lage nicht und glauben, die Zeit spiele für uns."
Dem sei nicht so, mahnte der Generalsekretär – vielmehr sei es Zeit, zu handeln. Schließlich habe Putin erneut mit dem Aufbau eines Imperiums begonnen. Und das auch noch unter Umständen, die Europas Lage zusätzlich erschweren – nämlich:
"China ist Russlands Lebensader."
Europa müsse also dringend die von Moskau ausgehende Bedrohung erkennen, die Verteidigungsausgaben rasch erhöhen und die Rüstungsproduktion schnellstens hochfahren. Andernfalls "müssen wir uns auf einen groß angelegten Krieg vorbereiten, der jedes Haus betreffen könnte":
"Es könnte ein Krieg von demselben Ausmaß sein wie der, den unsere Großväter und Urgroßväter erlebt haben."
Anders ausgedrückt: Um einen Krieg mit Russland zu verhindern, müsse man sich im Eiltempo bewaffnen – sonst wird es Europa wie den Großvätern ergehen.
Man will ja nicht unbescheiden wirken, aber hier drängt sich doch eine ganz kleine Frage so ein bisschen auf: Welche Großväter denn genau? Nicht einmal Ruttes Großvater, sondern bereits sein Vater erlebte den Zweiten Weltkrieg schon als Erwachsener – er war 30 Jahre alt. Er verlor seine erste Frau im Sommer 1945 in einem japanischen Konzentrationslager in Niederländisch-Indien (dem heutigen Indonesien) und kehrte erst später in die Niederlande zurück, wo er ihre Schwester heiratete, die die Mutter des späteren niederländischen Ministerpräsidenten und NATO-Generalsekretärs wurde. Ruttes Vater fand sich somit zu keinem Zeitpunkt unter deutscher Besatzung wieder, daher ist unbekannt, ob er (wie viele Niederländer) in den Reihen der SS-Divisionen gelandet wäre oder ob er sich in stillschweigendem Nichteinverständnis mit dem Hitler-Regime ins innere Exil begeben hätte. Das ist auch nicht wichtig – wichtig ist, dass der Krieg, von dem Rutte jetzt spricht, nicht von Russland entfesselt wurde, sondern von Europäern. Und zwar zuerst in Europa selbst, von wo er sich dann nach Osten ausbreitete, wo unter anderem auch niederländische SS-Divisionen kämpften.
Ganz recht – falls es jemand vergessen hat: Es war ein vereintes Europa (unter Hitler), das Russland angriff, um es schnell zu zerschlagen und sich anschließend in aller Ruhe die Kontrolle über die nahegelegene, aber unzugängliche Insel zu sichern, die zufällig auch das größte Imperium der Welt war. Doch in Russland blieben die Europäer zunächst stecken, nur um sich vier Jahre eines furchtbaren Krieges später eben den Russen in Berlin und Wien gegenüberzusehen. Ja kam denn auch damals das berüchtigte Russische Reich so gänzlich ungebeten zu ihnen, also genau das Reich, das Putin jetzt gerade aufbauen soll, wenn man den Mainstream-Politikern der EU glauben will? Natürlich, genau wie damals im Jahre 1814, als Paris den "sturmwütigen Kosaken" zum Opfer fiel.
Ja nee – is' klar.
Nun geschieht also dasselbe wieder – Europa hat sich erneut entschieden, nach Osten zu expandieren, und zwar billig, auf Kosten des Blutes anderer: Es nutzt die Tragödie der Teilung und des Chaos in der russischen Welt aus und hat es auf die Ukraine, also den westlichen Teil des großen historischen Russlands abgesehen. Und nun, da die "Europäisierung" der Ukraine gescheitert ist, fällt Europa nichts Besseres ein, als die altbekannte Leier anzustimmen:
"Alle zu den Waffen, der Feind steht vor den Toren, die Russen greifen uns gleich an!"
Versuche, dies argumentativ zu widerlegen, haben keinen Sinn: Ganz gleich wie oft wir wiederholen, dass wir keine Angriffspläne gegen Europa (einschließlich unserer ehemaligen Provinzen wie dem Baltikum) haben – diejenigen, die tief sitzende russlandfeindliche Komplexe hegen, werden doch eh nicht zuhören. Europa wird niemals zugeben, dass es praktisch immer der Initiator von Kriegen mit Russland war, weil es uns als eine andere Zivilisation (wenn überhaupt) betrachtet, auf jeden Fall aber als minderwertig. Für Europas Eliten sind wir schlicht eine ständige infernale Bedrohung – und Angriffe gegen uns werden stets mit der Prämisse gerechtfertigt, dass "man doch dieses Damoklesschwert beseitigen, die russische Bedrohung abwenden, den Kontinent vor den östlichen Barbaren sichern" müsse.
Tatsache ist jedoch, dass jetzt selbst dieses altbekannte Modell nicht mehr funktioniert – und Rutte irrt sich, wenn er den Europäern mit einer Wiederholung der Schrecken des Zweiten Weltkriegs Angst macht und Putin im Grunde mit Hitler gleichsetzt. Sie werden so etwas nicht noch einmal ertragen müssen (außer, sie führen in Zukunft einen ähnlich blutigen Krieg untereinander). Russland wird nämlich definitiv keine direkten Kriege in der alten Form mehr gegen Europa führen – wir können keine langen, blutigen Jahre gebrauchen. Wie Wladimir Putin kürzlich so deutlich sagte: Wenn Europa Krieg will, sind wir bereits darauf vorbereitet – aber er wird so kurz sein, dass wir danach sehr wahrscheinlich schlicht niemanden mehr haben werden, mit dem wir verhandeln könnten. Rutte weigerte sich übrigens, diese Aussage zu kommentieren – sehr schade drum. Denn das wäre viel klüger gewesen, als die Europäer an ihre Großväter und Urgroßväter zu erinnern. Die Europäer werden nicht das durchmachen müssen, was ihre Großväter durchgemacht haben, denn es mag durchaus angehen, dass sie einen neuen Krieg mit Russland schlichtweg nicht überleben werden.
Übersetzt aus dem Russischen. Erschienen bei "RIA Nowosti" am 13. Dezember 2025.
Pjotr Akopow ist ein russischer Historiker und Geschichtsarchivar (Absolvent des Moskauer Staatlichen Geschichtsarchivarischen Instituts). Seit einer Geschäftsreise in die damalige Bürgerkriegszone Südossetien im Jahr 1991 schreibt er als Journalist für zahlreiche Medien: "Golos", "Rossijskije Westi", bis 1994 "Nowaja Gaseta", ab 1998 "Nesawissimaja Gaseta"; seit Anfang der 2000er-Jahre als politischer Beobachter bei "Nowaja Model" und im entsprechenden Ressort der "Iswestija". Er arbeitete als Sonderberichterstatter beim Chefredakteur des "Polititscheski Journal", dessen Chefredakteur er selbst im Jahr 2007 wurde. Der ehemalige stellvertretende Chefredakteur von "Wsgljad" ist zudem ständiger politischer Beobachter bei "RIA Nowosti".
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