"Unsere Demokratie™" braucht keine Überprüfung

Neun Monate lang ging der Bundestag und sein Wahlausschuss mit dem Einspruch des BSW schwanger. Heute kreißte er, und es wurde eine Ablehnung. Vielleicht hofft man ja, dass bis zur Entscheidung des Verfassungsgerichts die Amtsperiode vorbei ist.

Von Dagmar Henn

Na, das war jetzt aber eine Überraschung. Damit hat niemand gerechnet, oder, dass der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags eine Neuauszählung ablehnt.

Nein, wäre das Ergebnis weniger knapp, die Ausschussmitglieder wären das Risiko womöglich noch eingegangen. Aber dieser Rekord mit 4,981 Prozent, das ist einfach zu gefährlich. Man sollte es mit der Demokratie wirklich nicht übertreiben, sonst sind womöglich zentrale europäische Werte wie der Krieg in der Ukraine oder die Aufrüstung gefährdet ...

Überhaupt, wie sollen sich da die Koalitionsabgeordneten bei dieser schwierigen Rentenfrage einigen, wenn ihr Sessel im Parlament womöglich nicht mehr sicher ist? Und überhaupt die ganze Mehrheit der Regierung sich in Luft auflösen könnte? Das ist ja wie beim Beschluss über die Milliardenschuld Anfang des Jahres, als da der alte Bundestag noch mal ranmusste, weil im neuen die Stimmen nicht genügt hätten.

Wie soll man auch in Ruhe kriegstüchtig werden, wenn da so eine Kleinpartei noch dazwischenspucken kann? Schlimm genug, wenn da ein paar von der AfD nicht so recht mitmarschieren wollen. Und immer kann man sich auch nicht darauf verlassen, dass die Linke wieder mal retten kommt. Die Regierung natürlich.

Na, dann geht das Ganze eben nach Karlsruhe. Die waren zuletzt auch ganz brav, hatten doch sogar diesen ganzen Corona-Notstand durchgewunken, da muss man sich keine Sorgen machen. Die wissen, was "unsere Demokratie™" so braucht. Es hat schon seinen Grund, warum das "unsere Demokratie" heißt, wenn diese Demokraten darüber reden, und sie nicht den Bürgern gegenüber von "Ihrer Demokratie" reden. Für die bleibt nämlich nichts übrig, den Kuchen behalten sie ganz.

Karlsruhe wird vor allem Zeit brauchen. Viel Zeit.

Keine Sorge, danach geht dann gleich wieder das Geheule los, wie sehr doch böse Menschen den Staat delegitimieren. Das sind natürlich die anderen. Sagte doch schon Jean-Paul Sartre: "Die Hölle, das sind die anderen." Das ergibt dann irgendwie logisch, dass man selbst der Himmel, oder vielmehr, der reine Engel sei. Weshalb keine der reinen, unbescholtenen Taten in irgendeiner Weise "unsere Demokratie™" beeinträchtigen oder die sich darauf berufende Herrschaft delegitimieren könnte. Der beliebte Bundeskanzler Friedrich Merz würde, gäbe es die bösen anderen nicht, überall nur auf Verehrung und Dankbarkeit treffen.

Nein, das ist ein Abgesang. Die Kosten können es nicht sein, das wäre angesichts der Nonchalance, mit der Milliarden in der Ukraine versenkt werden, durch nichts zu rechtfertigen. Sollten sich die Herrschaften in Berlin wirklich Sorgen um die Demokratie machen, das wäre gut angelegtes Geld, besser jedenfalls, als in all den angeblich demokratieschützenden Denunziationsportalen und Nebengeheimdiensten.

Aber vielleicht ist der Grund doch noch ein anderer. Und es ist gar nicht die Angst davor, am Ende mit einer Partei mehr und einigen Parteikollegen weniger dazusitzen. Sondern die Angst, es könne sich herausstellen, dass ein beträchtlicher Teil der Wahlunterlagen, obwohl im Grunde bereits kurz nach der Bekanntgabe des Endergebnisses klar war, dass es da eine Anfechtung geben wird, gar nicht ordentlich aufbewahrt wurde. Dass in Stadt A, B, C die Unterlagen im Altpapier landeten und eine Nachzählung in Ermangelung der zu zählenden Stimmzettel gar nicht mehr möglich ist.

Ja, das wäre dann noch einen Zacken schlimmer als eine Auszählung, die der Regierung die Mehrheit nimmt. Von wegen Delegitimierung und so. Denn wer könnte dann bezeugen, dass es keine Absicht war? Da wäre die einzige demokratische Lösung, die noch denkbar wäre, eine Wiederholung der Wahl. Das aber wäre das Letzte, was diese Bundesregierung wollte.

Nein, Deutschland ist nicht mehr das, was es einmal war. Nicht nur, weil pünktliche Züge inzwischen die Ausnahme sind und Großbauten Jahrzehnte in Anspruch nehmen, als wären es Kathedralen. Oder es lange her ist, dass man sich auf eine ordentliche Bearbeitung von bürokratischen Vorgängen blind verlassen konnte. Oder deutsche Staatsdiener als unbestechlich galten. Nein, es wurde auch im Verlauf des letzten halben Jahrhunderts die volle Strecke zurückgelegt von "Mehr Demokratie wagen" zu "Besser keine Demokratie wagen". Was eigentlich gleichbedeutend ist mit "unserer Demokratie™".

Allerdings – wie kommen Abgeordnete, die ihren Wählern nicht vertrauen, so sehr nicht vertrauen, dass sie selbst derart fragwürdige Ergebnisse wie diese fehlenden 9.528 Stimmen nicht geklärt sehen wollen, darauf, dass andererseits die Wähler dennoch ihnen vertrauen sollten? Und ihnen die Marke "Unsere Demokratie™" weiterhin abkaufen, obwohl zwar die Verpackung größer geworden, der Inhalt aber deutlich geschrumpft ist?

Nun, jetzt ist jedenfalls das Verfassungsgericht dran mit der Delegitimierung. Mal sehen, ob sich da noch ein demokratisches Gewissen regt oder der Opportunismus siegt. Mein Tipp geht auf Letzteres. Denn spätestens bei Corona haben alle Ebenen, die Mehrheit der Abgeordneten wie auch das Verfassungsgericht, erkennen lassen, dass sie sich grundsätzlich für klüger und besser als das Wahlvolk halten, und das hat sich seitdem mit der ganzen Debatte um die AfD noch verschärft. Inzwischen müsste, hätten sie freie Hand, der Bürger den Gesinnungstest ablegen, ehe er überhaupt an die Urne darf. Versuchsläufe mit dem passiven Wahlrecht gibt es inzwischen ja genug, wie der neueste Anlauf in Rheinland-Pfalz zeigt, wo inzwischen AfD-Mitglieder gar nicht mehr für Bürgermeisterwahlen kandidieren dürfen. Und keine Sorge - dort, wo ein entsprechendes Risiko besteht, würden sie sich Ähnliches auch für das BSW einfallen lassen. Es geht schließlich nicht darum, ob eine Abweichung nach rechts oder links ist, sondern dass überhaupt abgewichen wird. Vom Pfad der Tugend und von "Unserer Demokratie™".

Also, liebe Wähler, nicht rummaulen, weil die Gremien, die eigentlich dafür verantwortlich sind, die technischen Grundlagen demokratischer Entscheidung zu schützen, darauf spucken. Sondern dankbar sein, dass Sie noch wählen dürfen. Dann schicken die freundlichen Menschen im Bundestag vielleicht nicht Ihr ganzes Steuergeld in die Ukraine.

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