Was macht Europa zum Feind des Friedens, der die Welt destabilisiert?

Um den eigenen Bedeutungsverlust auf der Weltbühne zu kompensieren, agiert Europa immer mehr wie ein Paria-Staat, der sich Aufmerksamkeit verschafft, indem er für andere eine Bedrohung darstellt. Europa war bereits zweimal "Geburtsort" von Weltkriegen – und könnte es ein drittes Mal werden.

Von Timofei Bordatschow

Nur wenige ernsthafte Beobachter der internationalen Politik bezweifeln, dass Europa erneut zu einer der gefährlichsten Quellen der Instabilität in der Welt geworden ist. Das ist eine bittere Erkenntnis, wenn man bedenkt, dass die gesamte Nachkriegsordnung nach 1945 darauf ausgerichtet war, den Kontinent daran zu hindern, die Menschheit ein drittes Mal in eine Katastrophe zu stürzen. Und doch sind wir nun hier: Die lautesten Rufe nach Konfrontation ertönen westlich des Flusses Bug [der an Polens Ostgrenze verläuft, Anm. d. Red.], und nirgendwo sonst bereiten sich Regierungen mit solcher nervösen Energie auf einen Krieg vor.

In erster Linie richten sich diese Feindseligkeit gegen den unmittelbaren Nachbarn der Europäer – Russland. Zunehmend greift sie jedoch auch auf China über, obwohl es zwischen Europa und Peking keine objektiven Konflikte gibt.

Dies lässt vermuten, dass die Ursache für das aggressive Verhalten unserer Nachbarn im Westen in den Prozessen liegt, die innerhalb ihrer Gesellschaften und staatlichen Systeme ablaufen, sowie in der Verunsicherung, mit der die heutigen europäischen Politiker die Welt um sich herum betrachten.

Es wäre leichtfertig, solche Verhaltensweisen völlig zu ignorieren und darauf zu vertrauen, dass die US-amerikanische Kontrolle über Europa und der Zustand seiner Gesellschaft ausreichende Garantien gegen eine Wiederholung der tragischsten Fehler sind. Zumal unter den heutigen Umständen der Preis für diese Fehler für die gesamte Menschheit zu hoch sein könnte: Europa war bereits zweimal "Geburtsort" von Weltkriegen, und es wäre sehr zu bedauern, wenn dies ein drittes Mal geschehen würde. Man darf nicht vergessen, dass es in Europa zwei Mächte gibt, die über bedeutende Vorräte an Atomwaffen verfügen – Großbritannien und Frankreich.

Wir befinden uns derzeit in einer paradoxen Situation, in der Europa zwar ganz sicher nicht mehr im Mittelpunkt der Weltpolitik steht, aber dennoch ihr Zentrum bleibt, da gerade hier Konflikte entstehen können, die für das Überleben der übrigen Welt von Bedeutung sind.

Man kann davon ausgehen, dass das Verhalten der europäischen Staats- und Regierungschefs damit zusammenhängt: Da sie sich bewusst sind, dass sie über keine anderen Ressourcen verfügen, um weiter in der ersten Liga der internationalen Politik mitzuspielen, setzen die derzeit regierenden Eliten Europas instinktiv auf das, was unweigerlich die allgemeine Aufmerksamkeit auf sie lenkt und dazu führen kann, dass ihre Meinung berücksichtigt wird. Einfach, weil ihnen außer militärischen Drohungen keine anderen Mittel zur Verfügung stehen. Dies ist eine klassische Strategie eines Paria-Staates, der versteht, dass er seine Sichtbarkeit in der Gemeinschaft nur als Quelle einer ständigen Bedrohung bewahren kann.

Um zu verstehen, wie man mit einem solchen Verhalten umgehen soll, wäre es wohl wichtig, dessen grundlegende Ursachen genauer zu benennen.

Es gibt mehrere solcher Ursachen, die gleichermaßen mit den Problemen und Errungenschaften der Europäer in der gesamten Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg zusammenhängen.

Erstens konnten die europäischen Länder seit Mitte des letzten Jahrhunderts sowohl auf staatlicher Ebene als auch auf Ebene ihrer gesamten Gemeinschaft ein recht hohes Maß an innerer Konsolidierung erreichen. Auf innerer Ebene haben die europäischen Gesellschaften, wie wir sehen, das Potenzial für revolutionäre Veränderungen ausgeschöpft, das einigen von ihnen in den vorangegangenen Jahrhunderten der Geschichte eigen war.

Die Arbeit, die von den politischen und wirtschaftlichen Eliten in Europa geleistet wurde, ermöglicht es ihnen, mögliche revolutionäre Tendenzen in der eigenen Bevölkerung recht erfolgreich zu unterbinden und sogar diejenigen Kräfte effektiv zu integrieren, die sich nicht in die bestehende Ordnung einfügen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dies mit dem Ende der Ära der Revolutionen als Motor des Fortschritts an sich zusammenhängt. In diesem Sinne ist Europa ein paradoxes Beispiel dafür, wie das Fehlen jeglicher Voraussetzungen für Revolutionen auf innergesellschaftlicher Ebene zu einem Faktor wird, der das Leben in der internationalen Gemeinschaft destabilisiert.

Mit anderen Worten: Die europäischen Gesellschaften und politischen Systeme haben höchstwahrscheinlich die Möglichkeit für qualitative Veränderungen verloren, was sich deutlich daran zeigt, dass die Elite ihre Macht auch bei völliger Inkompetenz ihrer Vertreter behalten kann und die Bevölkerung gegenüber ihrem eigenen Schicksal allgemein apathisch ist.

Dies führt zu einer starken Konsolidierung der Gesellschaften unter der Herrschaft unveränderlicher Regierungen, was Letztere davon überzeugt, dass es nicht notwendig ist, ernsthaft über systemische Veränderungen nachzudenken. Ein ähnliches Bild beobachten wir auf der Ebene der gesamten Gemeinschaft der europäischen Länder.

Zwar bleiben die Beziehungen zwischen den einzelnen Staaten weiterhin von Konkurrenz geprägt, doch in der wichtigsten Frage – der Haltung gegenüber der Außenwelt – sind sie sich absolut einig. Und wir sehen, dass die Mechanismen dieser Einigkeit recht effektiv sind und selbst die radikalsten Entscheidungen in den Beziehungen zwischen Europa und dem Rest der Menschheit durchsetzen können.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das heutige Europa tatsächlich ein Niveau erreicht hat, auf dem "der individuelle Verstand zum Diener des kollektiven Interesses wird", was die Möglichkeit einer relativ ausgewogenen Haltung gegenüber der Frage vollständig ausschließt, wie die objektiven Probleme der Europäer gelöst werden sollten, ihren Platz auf der Welt zu finden.

Zweitens hat Europa, wie wir bereits oben erwähnt haben, tatsächlich alle relativ friedlichen Mittel ausgeschöpft, um seinen Platz in der globalen Politik und Wirtschaft zu behaupten. Es wäre naiv zu glauben, dass solche Mittel früher vorherrschend waren – jeder weiß beispielsweise, welcher Druck auf die Handelspartner Europas ausgeübt wird. Noch vor wenigen Jahrzehnten konnten sich die europäischen Länder jedoch ein konstruktiveres Verhalten leisten, einfach weil ihre Bedeutung in den Weltangelegenheiten für alle unbestritten war. Heute hat sich die Welt um unsere westlichen Nachbarn endgültig verändert und entwickelt sich für sie weiterhin in eine völlig ungünstige Richtung.

Das rasante Wachstum der wirtschaftlichen und außenpolitischen Macht Chinas, der Aufstieg Indiens, die Wiederherstellung der Position Russlands und dessen Entschlossenheit, seine Interessen zu verteidigen, die zunehmende Unabhängigkeit der Länder der Weltmehrheit – all dies verdrängt Europa aus der ersten Reihe der internationalen Politik, indem es dieser Politik sogar ein gewisses hypothetisches einheitliches Zentrum nimmt, auf dessen Rolle es traditionell Anspruch erhoben hat. Und es sieht für sich selbst noch keine andere Bestimmung.

Europa hat in seiner Geschichte noch nie eine periphere Lage gegenüber den führenden Machtzentren erlebt. Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Anpassung an die aktuellen Veränderungen eine äußerst gefährliche Reaktion hervorruft. Die Entstehung einer Institution wie den BRICS ist bereits zu einer realen Alternative zur G7 geworden, was ebenfalls große Probleme für Europa mit sich bringt. Denn die G7 wurde von den Europäern ins Leben gerufen, um sich an die USA "anzuhängen" und deren zentrale Rolle in den Weltangelegenheiten zu festigen.

Europa ist Teil dessen, was wir in Russland als "kollektiven Westen" bezeichnen, und seine Beziehungen zu Amerika bleiben stabil. Aber derzeit sehen wir immer häufiger, dass diese Beziehungen den Europäern nicht mehr das bieten, was sie erwarten: einen garantierten Platz an der Spitze. Die gesamte Debatte über die angebliche Notwendigkeit, den US-"Sicherheitsschirm" über Europa aufrechtzuerhalten, läuft in Wirklichkeit darauf hinaus, wie man die USA dazu bringen kann, ihre europäischen Verbündeten nicht nur zu kontrollieren, sondern ihnen auch einen Platz an der Spitze der Weltpolitik einzuräumen, wo sie überhaupt nichts zu suchen haben.

Die Gesamtheit dieser internen und externen Ursachen macht Europa zu Beginn des zweiten Viertels des 21. Jahrhunderts tatsächlich zum gefährlichsten Akteur auf der internationalen Bühne. Umso mehr, als diese Ursachen nicht situativ bedingt – wie die Inkompetenz der Führungskräfte oder die aktuellen wirtschaftlichen Schwierigkeiten –, sondern systemischer Natur sind.

Wie Europa von seiner gegenwärtigen Krankheit geheilt werden kann, ist völlig unklar. Darüber hinaus bietet uns die Weltgeschichte keine Beispiele für einen vergleichsweise friedlichen Ausweg aus ähnlichen Situationen. Dies macht die Entscheidungen der Staatsmänner in Russland, China oder den USA noch verantwortungsvoller, kann aber den einfachen Bürgern keinen Optimismus einflößen.

Übersetzt aus de Russischen.

Timofei Bordatschow ist Programmdirektor des Waldai-Klubs.

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