Der Aufmarsch der Gratishelden: Die deutsche Filmwirtschaft und die Vergangenheit

Schon witzig: Die Filmwirtschaft findet es ganz wichtig, Leuten ihre Ehrenmedaille abzuerkennen, die lange tot sind, aber bleibt doch gerne angepasst in der Gegenwart. Und schafft es, bei ihrer Aberkennung auch noch voll danebenzulangen.

Von Dagmar Henn

Ja, langsam nimmt die Erinnerungspolitik in Deutschland vollends die Qualität des Absurden an. Der aktuelle Schritt der Spitzenorganisation der Filmwirtschaft (SPIO), vierzehn der Preisträger, denen der Verband seit 1961 seine Ehrenmedaille verliehen hat, diese wieder abzuerkennen, ist dafür geradezu ein Paradebeispiel.

Dieser Verband ist ein Industrieverband, keine Kulturorganisation. Das muss man wissen, denn die meisten der Ausgezeichneten sind in der breiten Öffentlichkeit nicht sehr bekannt, sondern waren über die Jahrzehnte hinweg eher langjährige Verbandsfunktionäre. Was in derartigen Strukturen üblich ist; nur gelegentlich zeichnete auch dieser Verband Regisseure oder Darsteller aus.

Wobei er mindestens einmal grob danebengriff – noch im Jahr 2002 hieß die Empfängerin der Ehrenmedaille Leni Riefenstahl. Die Begründung des damaligen Verbandspräsidenten Steffen Kuchenreuther: "Jenseits aller politischen Problematik hat die Regisseurin Leni Riefenstahl vor allem mit ihren Dokumentarfilmen 'Triumph des Willens' und 'Olympia' Filmgeschichte geschrieben."

Kuchenreuther war über Jahre hinweg der Betreiber der meisten Filmkunstkinos in München, und ab und zu sogar als Produzent für Achternbusch-Filme unterwegs. Es wirkt sehr eigenartig, dass er für einen Preis für Riefenstahl votierte, auch noch wegen dieser beiden Filme, die schließlich die größten Propagandawerke waren, die die Nazis je hervorgebracht haben – aber es war mit Sicherheit nicht Kuchenreuther allein, der damals über diesen Preis entschied. Rückblickend kann man eigentlich nur annehmen, dass dieser Preis das Resultat einer Debatte war, die versuchte, ästhetische Qualitäten vom politischen Inhalt zu lösen, beruhend auf der Vorstellung, die Ereignisse lägen nun weit genug zurück. Wie auch immer – in diesem Fall mag es angehen, die Medaille zurückzunehmen; aber eine Auseinandersetzung mit der Frage, warum sie überhaupt erteilt wurde, wäre weitaus wichtiger.

Die Entscheidung, jetzt die Ehrenmedaillen abzuerkennen, so der Verband, beruhe auf einer Studie, die das Institut für Zeitgeschichte nicht nur über die Träger dieser Auszeichnung, sondern auch über die gesamte Vorstandschaft des Verbands nach 1945 erstellte. Nichts von dem, was in der Studie steht, ist wirklich überraschend, es ist die ganz normale westdeutsche Mischung, bis Anfang der 1980er mit einem hohen Anteil mehr-oder-weniger-Nazis (also vom gewöhnlichen Opportunisten bis zur SS). Die Studie sei nicht vollständig, wird darin auch erklärt, weil nicht von allen Beteiligten Geburtsdaten und Wohnort in den ersten Nachkriegsjahren bekannt seien, weshalb man da nicht auf die Spruchkammerakten zurückgreifen könne (die allerdings oft seltsame Ergebnisse zeitigten, was die Studie nicht erwähnt).

"Unter den Führungskräften der SPIO und den von ihr mit der Ehrenmedaille der deutschen Filmwirtschaft Ausgezeichneten befanden sich Männer (und mit Leni Riefenstahl auch eine Frau), die persönlich an Gewaltverbrechen beteiligt waren, die sich an 'Arisierungen' bereichert hatten, die an Kriegsverbrechen und der Ausbeutung von Zwangsarbeitern Anteil hatten, oder die durch ihre organisatorische oder künstlerische Arbeit das Medium Film zwischen 1933 und 1945 den Zielen des NS-Regimes dienstbar gemacht hatten."

Also, die Studie ergibt, dass die SPIO auch nicht anders aussah als etwa das Innenministerium oder das Justizministerium der Bundesrepublik und andere Ämter oder Industrievereinigungen. Schließlich müssten auch die Verbände der deutschen Industrie, sollten sie sich je auf derartige Weise mit ihrer eigenen Geschichte befassen wollen (was sie eher nicht wollen werden), Personen wie Hermann Josef Abs oder Hanns-Martin Schleyer ebenfalls rückwirkend von jeder Auszeichnung befreien.

Die ganze Nummer hat aber einen sehr schalen Beigeschmack. Schließlich war es in den Jahren, als dieses Personal noch tatsächlich die Macht hatte, ausgesprochen mühsam, daran etwas zu ändern; das gelang gerade einmal bei einigen politischen Exponenten, wie Filbinger oder Seidl. Damals geriet man sofort in den Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit, wenn man sich gegen diese Herrschaften engagierte (und auch in der SPD tat das nur der linke Flügel, der rechte hatte sich bestens arrangiert).

Nun, Gratismut war in Deutschland schon immer sehr beliebt. Aber dann gibt es neben der Peinlichkeit auch noch ein Detail, das die ganze Geschichte endgültig lächerlich macht. Das ist eine Person auf dieser Liste: Olga Tschechowa.

Tschechowa war Schauspielerin in Filmen, die während der Nazizeit gedreht wurden. Das ist unbestreitbar richtig. Ansonsten steht über sie in der Studie nur eine Fußnote, die auf eine Biografie verweist. Die Biografie stammt von dem britischen Historiker Antony Beevor, der überwiegend über den Zweiten Weltkrieg schreibt und im Jahr 2000 das Buch "The Mystery of Olga Chekhova", zu Deutsch "Die Akte Olga Tschechowa", veröffentlichte. Beevor ist, das ist im Buch nicht zu übersehen, kein Freund der Sowjetunion – aber er hat Einblick in sowjetische Akten genommen und mit Zeitzeugen gesprochen. Und seine Kernaussage zu Olga Tschechowa ist, auch wenn er ihr nicht ganz vertraut: Sie war eine sowjetische Agentin.

Es gibt noch einige Geschichten, die sich um sie ranken, die nicht im Buch stehen, aber in Russland kursieren. Dass sie beispielsweise noch im Russland der Zarenzeit, als ihre Ehe mit dem Neffen des Dramatikers Anton Tschechow nicht so recht glücklich verlief (ihre Tante war Tschechows Ehefrau), eine Affäre mit einem jungen Revoluzzer hatte, der zugegeben damals sehr attraktiv aussah, und von diesem schwanger wurde, weshalb ihr Mann das Kind nie als seines anerkannte. Der Name des Liebhabers? Josef Stalin.

Beevor bestätigt, dass Tschechowa in den Akten des NKWD als Agentin geführt wurde. Er erzählt, was im Frühjahr 1945 geschah, noch ehe die Kämpfe in Berlin ganz beendet waren: Nach einem Verhör durch einen sowjetischen Offizier in Berlin wurde sie zu einem Flugzeug gebracht und nach Moskau geflogen.

"25 Jahre, nachdem sie vom weißrussischen Bahnhof in die große Welt aufgebrochen war, kehrte Olga Tschechowa nach Moskau zurück. Nach einer sowjetischen Geheimdienstquelle wurde sie 'für ein 72-Stunden-Rendezvous' in einer konspirativen Wohnung des NKWD im Zentrum der Hauptstadt untergebracht."

Es gibt auch eine andere Episode in diesem Buch, in der – nach diesem Flug nach Moskau – Tschechowa gegen eine Berliner Zeitung klagt, die meldete, sie habe eine hohe Auszeichnung von der Sowjetunion erhalten. Aber das spricht nicht gegen eine derartige Tätigkeit – im Gegenteil, da sie in späteren Jahren im Westen lebte, spricht es eher dafür, denn in der BRD war Sympathie für die Sowjetunion weit schädlicher als die engste Nähe zu den wichtigsten Nazis. Aber der Ablauf ihres Flugs nach Moskau hätte so nicht stattgefunden, wäre sie nur eine Nebenfigur oder gar nicht tätig gewesen – immerhin hätte die sowjetische Armee sie jederzeit festsetzen können, um sie zu vernehmen; ein solcher Aufwand ist nicht das Ergebnis von Notwendigkeit.

Eine der Informationen, die Olga Tschechowa als Agentin geliefert haben soll – das schreibt Beevor nicht, aber das glauben russische Historiker, die sich mit diesen Fragen beschäftigen –, ist das genaue Datum des deutschen Angriffs am Kursker Bogen. Dieser Angriff, der zur größten Panzerschlacht der Geschichte führen sollte, war mehrmals verschoben worden, und nur der innerste Kreis um Hitler wusste, wann er beginnen sollte. Tschechowa gilt mit als erfolgreichste Kandidatin, um diese Information erlangen zu können.

Nun, es bleibt jedem unbenommen, an dieser Geschichte zu zweifeln, gerade in solchen Dingen gibt es selten klare Beweise. Aber der Autor der Studie, Bernhard Gotto, gibt Beevors Buch als Quelle an, ohne weitere Kommentierung. Was bedeutet, dass er die entscheidende These, Tschechowa als Agentin, nicht ablehnt. Im gesamten übrigen Text der Studie finden sich nur noch zwei Stellen, an denen Olga Tschechowa überhaupt erwähnt wird: in der Auflistung der "umstrittenen" Preisträger am Anfang, und in diesem einen Satz: "Ebenfalls systemloyal agierten die beiden Nicht-Parteimitglieder dieser Gruppe, die beiden Filmstars Rühmann und Tschechowa."

Was für den Historiker Gotto ein interessanter Sprung ist. Denn auch wenn Beevor versucht, Tschechowas Rolle mit der Bemerkung kleinzureden, die sowjetischen Zeugen würden gerne übertreiben, gäbe es das ganze Buch nicht, wenn er nicht die Tatsache ihrer Agententätigkeit für glaubwürdig hielte. Wenn Gotto in der Fußnote auf das Buch verweist, muss er wissen, was in diesem Buch steht. Schon zweimal, wenn man es problemlos als Datei im Internet finden kann. Wie aber kann man die Tätigkeit für den sowjetischen Geheimdienst als "systemloyal agieren" einsortieren? Immerhin, wenn nur ein Teil dessen zutrifft, was auf russischer Seite als ihre Leistung gesehen wird, hat sie nicht nur jeden Tag ihr Leben riskiert, sondern auch persönlich einen wichtigen Beitrag geleistet, die Hitlerwehrmacht zu schlagen.

Warum erwähnt Gotto diesen Punkt nicht in seiner Studie? Hätte er nicht seine Auftraggeber vor der Peinlichkeit bewahren müssen, jemandem, der nicht einfach nur irgendwie gegen die Nazis war, sondern auf eine der gefährlichsten Weisen gegen sie gekämpft hat, eine Auszeichnung wegen "systemloyalem Agieren" aberkennen zu lassen? Oder hat Gotto an diesem Punkt lieber einfach Schweigen darüber gebreitet, weil es im Kern derzeit dann doch weit weniger schlimm ist, "systemloyal" gegenüber den Nazis gewesen zu sein, als "für die Russen" gearbeitet zu haben?

Die SPIO jedenfalls ist systemloyal, und bestätigt das mit diesem Schritt, der nichts kostet, aber belegt, dass man allen aktuellen Vorgaben folgt: "Wir wollen mit der Aberkennung der Medaille ein klares Zeichen gegen den wieder erstarkenden Rechtsextremismus, aber auch gegen jede andere Form von Extremismus, Rassismus, Diskriminierung und Hetze setzen."

Ja, mir wird inzwischen schlecht, wenn ich "Zeichen setzen" lese. Das ist heutzutage eine Formulierung, die klar erkennen lässt, dass derjenige, der sie benutzt, nicht den Arsch in der Hose hat, auch nur einen Zoll vom Mainstream abzuweichen. Eine Runde Gratismut eben, durch den leider dieser Verband belegt, dass die heutige Generation seiner Funktionäre unter demselben Rückgratproblem leidet wie jene, denen er gerade mit großem Tamtam ihre Auszeichnungen entzogen hat. Außer natürlich, darauf sollte man bestehen, Olga Tschechowa.

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