"Parasiten": Was dem Jupiter erlaubt ist ...

Wann wird bei wem zugeschlagen wegen "Volksverhetzung"? Müsste nicht einer wie Roderich Kiesewetter längst deswegen vor Gericht stehen? Ja, da wird mit zweierlei Maß gemessen. Inzwischen sogar mit extrem verschiedenem Maß.

Von Dagmar Henn

Die Auseinandersetzung um die Meinungsfreiheit hat in Deutschland zwei Aspekte. Der eine ist das Fehlen einer wirklichen Debatte darüber, was gesagt werden darf und was nicht – das funktioniert eher durch obrigkeitliche Dekrete. Das andere aber ist die regelmäßige Anwendung verschiedener Maßstäbe, ob die Äußerung nun konform ist oder nicht.

Im Grunde ging das schon lange vor Corona los; nicht in der Hinsicht, dass stärker verfolgt wurde, sondern in der Hinsicht, dass der Macht immer mehr erlaubt war. Ein Extremfall war da eine Broschüre, die das Arbeitsministerium unter Wolfgang Clement 2005 veröffentlichte. Der Hintergrund des Ganzen: Anfang jenes Jahres wurde Hartz IV eingeführt, das sich damals im Kern vor allem gegen die Arbeitslosen richtete, die der industrielle Kahlschlag im Osten hinterlassen hatte. Aber diese klare Absenkung gegenüber der ehemaligen Sozialhilfe wurde von einer massiven Propagandakampagne begleitet, nach der all diese Langzeitarbeitslosen ja eigentlich arbeitsunwillig und damit selbst schuld seien.

Nachdem der erste Schub dieser Darstellung nicht mehr wirkte, oder nicht mehr gut genug wirkte (alleinerziehende Mütter sind seitdem aus der öffentlichen Debatte verschwunden, schon 20 Jahre lang), erschien dann im Herbst 2005 diese Broschüre. Sie bestand aus von einer ehemaligen Bild-Redakteurin zusammengestellten Geschichte über lauter Arbeitslose, die angeblich nur die Leistungen missbrauchten. Wohlgemerkt, statistisch waren das damals eindeutig überwiegend die Opfer der "Wiedervereinigung".

In dieser Broschüre, für die der Minister die politische Verantwortung trug, hieß es unter einer Schmonzette über einen Libanesen namens Ibrahim, der sein Geld angeblich als Sänger verdiente und einen dicken Mercedes fuhr, aber außerdem Hartz IV bezog: "Biologen verwenden für 'Organismen, die zeitweise oder dauerhaft zur Befriedigung ihrer Nahrungsbedingungen auf Kosten anderer Lebewesen – ihren Wirten – leben', übereinstimmend die Bezeichnung 'Parasiten'. Natürlich ist es völlig unstatthaft, Begriffe aus dem Tierreich auf Menschen zu übertragen."

Nein, dieser Text stammte nicht von irgendeinem "Rechten". Wolfgang Clement war ein SPD-Minister. Das Ministerium hatte dieses Machwerk in Auftrag gegeben und an alle Medien verteilt; in der Folge fanden sich viele der enthaltenen Erzählungen in der Tagespresse wieder – samt "Parasiten"-Formulierung.

Damals gab es Anzeigen gegen Clement, wegen Volksverhetzung. Ich weiß das, ich habe selbst eine gestellt. Das Ergebnis? Die Verfahren wurden eingestellt. Dabei ist dieser gesamte Abschnitt, angefangen mit dem Satz "Ibrahim, ein Sänger aus dem Libanon" bis zum Parasiten-Vergleich ein Lehrbeispiel für Antisemitismus, das sich nur in einem vom Stürmer unterschied: in den zwei I, die bei der arabischen Version des Namens Abraham zwei der Vokale ersetzen.

Es ist die Tatsache, dass jüngst wegen eines Posts, in dem das Wort "Parasit" vorkam, sogar eine DNA-Probe verlangt wurde, die mir diese Geschichte von 2005 wieder ins Gedächtnis rief. Auslöser war da eine Antwort auf X, auf einem Kanal mit 8.000 Lesern, in dem der Beschuldigte über Beamte lästerte: "Jeder Beamte, jeder Politiker, jeder Angestellte in einem Staatsunternehmen, jeder, der vom Staat subventioniert und finanziert wird. Kein einziger Parasit zahlt netto irgendwelche Steuern."

Das sei Volksverhetzung, hieß es. Und löste das volle Programm aus, einschließlich des Polizeiweckers morgens um sechs.

Natürlich kann man jetzt sagen, das seien beides bedenkliche Aussagen, und man sei heute sensibler als damals. Allerdings müsste das eine Sensibilitätserhöhung gleich um mehrere Zehnerpotenzen sein – die Clement-Broschüre ging erst mal durch alle Leitmedien, Fernsehen, Rundfunk, das volle Programm, und auch die "Parasiten"-Formulierung fand genügend Fans auf dieser Strecke. Wir reden hier also von einem Millionenpublikum, zusätzlich zu der Lappalie, dass es sich, weil ministerielle Broschüre, um eine quasiamtliche Aussage handelte.

Nur: Wie war das noch mit Bosetti und dem Blinddarm? Mit all diesen Beschimpfungen Ungeimpfter, von "Coronaleugnern", und dann später von, ja, wie lautete dieses Wort, "Lumpenpazifisten"? Wenn man die Aussagen der Mitarbeiter der Stadthalle Gießen liest, die um ihr Leben fürchten, weil sie wegen einer AfD-Veranstaltung bedroht werden? Man kann nicht behaupten, da sei nichts. Und auch hier erfolgen die Angriffe von oben, wie bei Clement, wie während Corona; und sie sind keinen Deut besser oder menschlicher. Wie war das mit dem nachweislich größtenteils erdichteten Correctiv-Bericht, der Hunderttausende auf die Straße brachte, um gegen nicht existente Gefahren zu demonstrieren?

Eigentlich steht im relevanten Paragrafen, dem § 130 StGB, eine Beschränkung, die eine übergriffige Verwendung verhindern sollte: "in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören" – was eigentlich ein Publikum voraussetzt, das aus dem kommunizierten Inhalt irgendwelche Taten folgen lässt. Wobei natürlich beispielsweise eine Rede auf einer Kundgebung in einer Situation, in der es bereits Wut in der Menge gibt, etwas völlig anderes ist als ein Post in einem sozialen Medium, selbst wenn er Tausende Leser findet. Also eigentlich müsste die Frage einer realen Wirkung eine Rolle spielen – und damit beispielsweise solche Dinge wie die zusammenerfundene Geschichte von Correctiv weitaus eher zum Ziel entsprechender Strafverfolgung werden, ganz zu schweigen von Wolfgang Clements Broschüre damals.

Tatsächlich machen die Staatsanwaltschaften aber das Gegenteil. Egal, wie weit eine Aussage geht (und Bosettis Blinddarm ging sehr weit), entscheidend dafür, ob eine Aussage verfolgt wird oder nicht, ist ihre Konformität. Also im Netz zum Mord an Russen aufzurufen ist in Ordnung; aber böse Worte über Politiker (oder, wie im aktuellen Fall, Beamte) sorgen schon weit vor der direkten Bedrohung für staatliche Reaktionen.

Es ist eigentlich eher so: Je aggressiver die offizielle Haltung wird, mit Kriegstüchtigkeit und dem ganzen Rest samt Eichenlaub und Schwertern, desto niedriger liegt die Schwelle, ab der auf Dissens der Untertanen reagiert wird. Als würde das dann irgendetwas wiedergutmachen, als würde damit die Brutalisierung der Regierungssprache irgendwie ausgeglichen. Ja, tatsächlich ist das die ultimative Volksverhetzung, dieses "morgen steht der Russe im Wohnzimmer"-Geschrei, denn das verhetzte Volk dieses Paragrafen ist nur die kleine, zivile Ausgabe von "jeder Schuss ein Russ", die Heimarbeitsversion der Kriegspropaganda. Spätestens seit 2022, eigentlich schon seit 2014, wird den Deutschen die Seele massiert und zurechtgeknetet, um sie endlich wieder an die Ostfront schicken zu können, Tag und Nacht, auf allen Kanälen, aus beinahe allen Parteien.

Vielleicht will man ja nur von der verhetzbaren Ressource nichts abgeben. Wenn man liest, wie eine Grünen-Politikerin jetzt schon fordert, auch ältere Jahrgänge sollten sich freiwillig zur Reserve melden können, kann man schon fast sehen, wie irgendwann vom "bis zum letzten Ukrainer" auf "bis zum letzten Deutschen" umgeschaltet wird; nämlich genau dann, wenn die Ukrainer aus sind.

So ist das mit der "Volksverhetzung" – sie ist das Vorrecht der amtlichen oder quasiamtlichen Profis, und ihre Verfolgung beim gemeinen Volk folgt nur der antiken Parole "Quod licet Jovi, non licet bovi" – was Jupiter darf, darf der Ochse nicht.

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