Deutsche Wirtschaft: Wie der Substanzverlust aussieht

Ein weiteres Jahr Rezession in Deutschland? Das könnte man noch unter "Glück gehabt" verbuchen. Tatsächlich sind die Probleme weit gravierender. Nicht nur, weil eine einmal geschehene Deindustrialisierung schwer rückgängig gemacht werden kann.

Von Dagmar Henn

Einmal hatte sogar Bundeskanzler Merz recht ‒ als er sagte: "Wir haben in den letzten Jahren zu stark von der Substanz gelebt." Im Kern ist das eine zutreffende Beschreibung dessen, was der Neoliberalismus tut: Die gesamte Infrastruktur wird ebenso auf Verschleiß gefahren wie die Ausstattung in der Industrie; Innovation ist nicht so wichtig, solange man durch Drücken der Löhne gute Gewinne erwirtschaften kann.

In gewissem Sinne war Deutschland sogar das Extremmodell. Keine andere Volkswirtschaft der Welt (ja, nicht einmal China, dort lag der höchste Wert 2023 bei 19,7 Prozent des BIP) war so extrem auf Export orientiert. 2024 lag der Exportanteil des BIP bei 41,4 Prozent. 2021 wurden noch 71,5 Prozent der deutschen Industrieproduktion exportiert; 2024 war dieser Anteil bereits auf 48,9 Prozent gefallen. Auch der berühmte deutsche Exportüberschuss macht sich langsam aus dem Staub: Erstmals werden sogar mehr Industriemaschinen aus China nach Deutschland exportiert als umgekehrt, so ein Bericht der Wirtschaftsforschungsabteilung der Deutschen Bank von Ende Oktober. Bei medizinischen und pharmazeutischen Produkten liegt Deutschland im Anteil an den globalen Exporten mit über 13 Prozent noch deutlich vor China, das hier weniger als 3 Prozent abdeckt, und bei Straßenfahrzeugen fällt der deutsche Anteil bereits jetzt kontinuierlich. Die Differenz, die 2013 noch 18 Prozent betragen hatte, ist auf 3 Prozent geschrumpft ‒ China beliefert inzwischen über 10 Prozent des globalen Marktes.

Dabei stehen die massivsten Auswirkungen der EU-"Klimaschutz"-Bestimmungen noch aus, die den Anteil weiter einbrechen lassen dürften. Zusammen mit dem Maschinenbau bedeutet das, zwei entscheidende Sektoren, die über Jahrzehnte die deutsche Volkswirtschaft getragen haben, sind dabei, abzuschmieren, und der dritte, der bei den pharmazeutischen Produkten im Spiel ist, die chemische Industrie, hat zu großen Teilen schon ihre Bereitschaft bekundet, die Produktion zu verlagern. Was soll dann zur Grundlage der deutschen Volkswirtschaft werden?

Und nein, die Perspektive, das zu tun, was die USA und Großbritannien nach der Deindustrialisierung getan haben, nachzuvollziehen, ist eine Illusion. Niemand braucht ein weiteres globales Finanzzentrum. Ohnehin ist dieser ganze Sektor nur deshalb noch vorhanden, weil er seit 2008 immer wieder mit unzähligen Milliarden aufgepumpt wurde. Damals hatte die Finanzmarktkrise erstmals die Frage auf den Tisch gelegt, wie das Verhältnis zwischen realen Gütern und vorhandenem Geld wieder normalisiert werden soll. Aber schon die Andeutung einer Korrektur löste derartige Panik aus, dass dann über viele Jahre hinweg durch Zinssätze nahe null und massive Aufkäufe von Aktien und Schuldpapieren durch die Zentralbanken eine Erholung fingiert wurde.

Nur, dass inzwischen die Voraussetzungen andere sind als 2008. Die Gewichte im Bereich der realen Produktion haben sich verlagert, und die Staatsschulden sind in allen westlichen Kernländern so hoch, dass eine weitere Runde Bankenrettung nicht finanzierbar ist. Viel wichtiger ist allerdings noch ein anderer Faktor: Der Schwerpunkt der realen Wirtschaft hat sich verlagert. Der Anteil Chinas an der globalen Wirtschaft hat sich seit damals mehr als verdoppelt und liegt inzwischen bei etwa einem Fünftel. Aber auch andere asiatische Länder haben aufgeholt, ob Indonesien oder Vietnam. Interessanterweise waren es die westlichen Sanktionen des letzten Jahrzehnts, die die Entwicklung alternativer Zahlungssysteme und damit auch eine, wenn auch noch nicht vollständige, Entkopplung von den noch 2008 unangefochten dominierenden westlichen Märkten beschleunigt haben. Ein neuer Krisenschub wie 2008 hätte dementsprechend noch massivere Folgen für den Westen, aber deutlich geringere für Asien und den Globalen Süden...

Nach 2008 hatte die deutsche Industrie wie ein Schwamm Marktanteile der Nachbarländer aufgesogen, die derweil an industrieller Potenz verloren hatten. Die Agenda 2010, also Hartz I-IV, waren die Grundlage dieses Spiels. Bei damals relativ hoher Produktivität und dem Druck auf die Löhne ergab sich geradezu eine Exportwalze, die dazu führte, dass die Erholung in Deutschland wesentlich schneller stattfand als in den Nachbarländern. Allerdings war das eine Erholung, die sich für die abhängig Beschäftigten nicht bemerkbar machte, die seit Jahrzehnten vom Wachstum des Bruttoinlandsprodukts abgeschnitten sind.

Nun sind seit 2022 die in Deutschland schon zuvor vergleichsweise hohen Energiepreise (die auch mit der Privatisierung der Stromversorger noch unter Helmut Kohl zu tun haben) weiter explodiert und vertilgen aktuell die inzwischen relativ prekäre Marge der Industrie, die nur noch innerhalb der EU einigermaßen wettbewerbsfähig ist. Der Trick des neoliberalen Umbaus war natürlich, Geld, das zuvor in der industriellen Produktion gebunden war, auf die Finanzmärkte zu schaufeln, was auch massiv geschah, insbesondere nachdem Gerhard Schröder es ab dem 1. Januar 2002 ermöglichte, Gewinne aus dem Verkauf von Kapitalbeteiligungen steuerfrei zu kassieren. Diese Gewinne flossen vor allem in die Finanzspekulation, zu der nicht nur so etwas wie die New Yorker Börse gehört, sondern auch die Immobilienmärkte. Die stetige Verschlechterung des Wohnungsangebots für Normalverdiener hat auch etwas damit zu tun, dass dieser Schritt die Menge des freien Geldes, das nach Anlagemöglichkeiten sucht, deutlich erhöht hat.

Alle Tricks und alle Raubzüge zusammen konnten an der grundsätzlichen Lage nichts ändern. Was wurde 2016 versprochen, als die Bundesautobahnen in eine GmbH ausgegliedert und für private Investitionen geöffnet wurden? Sie würden endlich saniert. Das Ergebnis? Bestand im Kern nur darin, dass die Investoren eine garantierte Rendite auf ihre Einlagen erhielten, was wohl der Kern des Unterfangens war. Jetzt sollen schuldenfinanziert endlich die krümelnden Brücken gesichert werden, was aber neue Probleme schafft ‒ es ist nicht einmal sicher, ob es gelingt, derart viele Schuldpapiere zu platzieren, und die Debatte in der EU um die Beschlagnahme der russischen Guthaben bei Euroclear schafft ein enormes zusätzliches Risiko.

Allerdings lassen sich die Probleme, die sich nach bald 40 Jahren "Fahren auf Verschleiß" angesammelt haben, nicht einmal durch einen Haufen Geld beheben. Inzwischen steht fest, dass schon die Sanierungsbemühungen, die begonnen werden sollen, auf noch ganz andere Probleme stoßen: Es gibt zu wenig Bauingenieure, um die Bauanträge zu bearbeiten. Selbst wenn eine Bundesregierung auf die Idee käme, den Wohnungsmangel mit einer großen Baukampagne zu bekämpfen ‒ auch hier fehlt das ausgebildete Personal. Nicht nur bei den Ingenieuren, noch weit stärker bei den Baufacharbeitern.

Immerhin: Von 1,7 Millionen Auszubildenden in Industrie und Handwerk allein in der BRD im Jahr 1980 ist die Zahl auf 1,2 Millionen im Jahr 2024 gesunken. Nicht zu vergessen: In der DDR war eine Berufsausbildung oft Teil der Oberschule. Die Zahlen für die Auszubildenden 1980 sind nicht einfach zu finden, aber für das Jahr 1988 findet sich eine Angabe in einer Leipziger Handwerkszeitung. Dort heißt es: "Ende 1988 waren 26.160 Lehrlinge im Handwerk beschäftigt. Damit bildete das Handwerk lediglich noch 7 Prozent aller Lehrlinge in der DDR aus." Daraus ergäbe sich eine Gesamtzahl von 373.000 Auszubildenden. Für das gesamte Gebiet ergäbe sich also eine Zahl von 2,1 Millionen, die den heutigen 1,2 Millionen gegenübersteht. Allerdings ist die zugrunde liegende Bevölkerung, die 1980 in beiden Staaten zusammengenommen 78 Millionen betrug, durch die Einwanderung inzwischen auf 83,5 Millionen gestiegen. Umgerechnet bedeutet das, die Zahl der Ausbildungsplätze ist in diesem Zeitraum um 46 Prozent gesunken.

Gleichzeitig gab es noch eine weitere Veränderung. Während Berufsausbildungen in den 1980ern noch mit 15, 16 Jahren begannen, hieß es 2023 seitens der Bundesagentur für Arbeit: "Der größte Teil der Auszubildenden (46 Prozent) war zwischen 20 bis unter 25 Jahre alt." Das hätte eigentlich zu einem deutlichen Anstieg der Ausbildungsvergütungen führen müssen, da 15-Jährige noch bei den Eltern wohnen, über 20-Jährige aber eher selten. Aber das ist nicht geschehen, jedenfalls nicht in dem Maße, um eine unabhängige Existenz zu ermöglichen. Abgesehen vom weit geringeren Angebot an Ausbildungsstellen ‒ auch das ist im Kern ein Anreiz, nach Möglichkeit zu studieren.

Zugegeben, manche Berufe sind in diesem Zeitraum sehr selten geworden, Uhrmacher beispielsweise oder Schriftsetzer. Aber es kamen auch neue hinzu, wie Mechatroniker. Was bleibt, ist die Wahrnehmung, dass gesamtgesellschaftlich an der Ausbildung gespart wurde ‒ ein vorübergehender Gewinn, weil er insgesamt auch das Potential verringert.

Übrigens findet sich im Bereich der universitären Ausbildung durchaus Ähnliches. Besonders deutlich ist das im Fach Medizin, in dem auf der einen Seite nach wie vor ein Numerus Clausus den Zugang beschränkt, und auf der anderen Seite geklagt wird, dass in den kommenden Jahren 50.000 Ärzte fehlen werden ‒ die dann wohl von irgendwoher importiert werden sollen. Es ist nicht so, als wäre die Altersstruktur etwa bei den Hausärzten (von jenen auf dem Land ganz zu schweigen) all die Jahre nicht bekannt gewesen. Es ist nur in Deutschland gewissermaßen längst Routine, in solchen Momenten zu erwarten, dass man ausgebildetes Personal rund um die Welt abschöpfen könne. Auch das dürfte aber inzwischen Illusion sein, da der Lebensstandard in Deutschland sinkt und schon längst nicht mehr mit anderen Ländern wie China mithalten kann.

Die Einbußen im Bereich der Bildung sind besonders fatal, weil ein vergleichsweise hoher Bildungsstand der Bevölkerung ‒ auch und gerade in den Naturwissenschaften ‒ einst die Voraussetzung für die industrielle Entwicklung war und auch die Voraussetzung sein würde, wollte man wieder auf den grünen Zweig kommen. Stattdessen führt die Katastrophe, die sich aus der Nichtreaktion auf die Migration entwickelt, zu einem allgemeinen Absinken. Was durchaus mit der alten Strategie des Lohndrückens verbunden ist ‒ aber in einer Phase, in der die Wettbewerbsfähigkeit droht, völlig verloren zu gehen, ist das eine Entwicklung in die falsche Richtung. Denn auf diese Weise verschwinden auch die bestehenden Strukturen des Wissens, die nicht nur aus Büchern und formellem Wissen bestehen, sondern auch aus informellem.

Übrigens, die Rüstungsindustrie ist keine Rettung, wenn die Automobilindustrie verschwindet ‒ der Verband der Rüstungsindustrie spricht von 100.000 Beschäftigten in Deutschland, die Automobilindustrie beschäftigte im August 2025 noch 716.000 (das sind schon 51.500 weniger als ein Jahr zuvor, also gewissermaßen eine halbe Rüstungsindustrie). Im Maschinenbau, der gerade ebenfalls einbricht, waren es Ende vergangenen Jahres 952.000 Beschäftigte. Auch die chemisch-pharmazeutische Industrie ist mit 480.000 Beschäftigten deutlich größer.

Anders ausgedrückt: Es gibt keinen erkennbaren Ersatz, selbst wenn sich die ganze Rüstungsindustrie verdoppeln würde (was von sehr begrenztem Nutzen wäre). Und man konnte in den letzten Jahren sehen, dass ein höheres Niveau industrieller Produktion einen breiten Sockel braucht, auf dem es aufsetzen kann ‒ das belegten die Probleme, die Boeing vorexerzierte. Es ist weder möglich, Spitzenprodukte nur mit einer kleinen Handvoll verbliebener Facharbeiter zu produzieren, noch lässt sich ihr Fehlen im Handumdrehen beheben, wenn die Weitergabe der Fertigkeiten einmal unterbrochen wurde.

Es geht also nicht nur darum, dass die entscheidenden Industrien vor allem dank hoher Energiepreise langsam, aber sicher zusammenbrechen. Es geht auch darum, dass dies auf einer bereits verengten Grundlage geschieht, die das Innovationspotential einschränkt. Dass manche Entwicklungen, wie die gewünschten KI-Projekte, eine Energiesicherheit voraussetzen, die nicht mehr gewährleistet werden kann (übrigens kam vor einigen Tagen die Meldung, es sei gelungen, einen KI-Chip mit wesentlich niedrigerem Energieverbrauch zu entwickeln. Nur dumm gelaufen ‒ die Meldung kam aus Russland). Dass die finanziellen Abflüsse in die EU und vor allem die in die Ukraine stetig steigen, aber für die Bevölkerung, deren Vertrauen in die Regierung so niedrig ist wie nie zuvor, keinerlei Nutzen bringen.

Was sich natürlich noch einmal massiv verschärfen würde, gelänge es, die Ukraine in die EU aufzunehmen. Allerdings kann man die leise Hoffnung hegen, dass das Monster EU der deutschen Industrie zumindest in den Orkus folgen wird, weil es dann nicht mehr finanziert wäre...

Nur, was bliebe übrig? Gesetzt den Fall, es käme weder zu einem weiteren Finanzcrash noch zu dem Krieg, den die politischen Eliten der EU so fanatisch anstreben: Ein Land, dessen Handelsüberschuss sich in ein Defizit verwandelt, weil die zu 80 Prozent importierte pflanzliche Nahrung keinen Exporten von Industrieprodukten gegenüberstünde, mit Zerfall auf allen Ebenen, defizitär und perspektivlos. Überall ist Gelsenkirchen. Und die Migration, die eigentlich kein Wohin mehr hat, weil es keine Arbeitsmöglichkeiten gibt, verwandelt sich in ein großes Reservoir urbanen Lumpenproletariats.

Es gäbe für das vergleichsweise (zumindest, sofern man die Ruhrgebietsbergwerke nicht neu abteuft) rohstoffarme Land dann nur noch den Nutzen der geografischen Lage, am Kreuzpunkt zwischen Ost und West und Süd und Nord. Das ist, was einmal die Fugger so reich machte. Nur ‒ eben diese Handelsverbindungen wurden bereits in den vergangenen Jahren aus politischen Gründen zunehmend beschnitten. Statt des Landwegs über die neue Seidenstraße gibt es zunehmend Zollmauern; Waren, die nicht aus dem Kollektiven Westen stammen, haben es bald schwerer, die Grenzen zu überqueren, als Menschen.

Währenddessen sind die Zahlen über die Verteilung von Vermögen und Einkommen in Deutschland erschütternd. Der Anteil der reichsten hundert Deutschen am gesamten Bruttoinlandsprodukt beträgt mittlerweile 17,7 Prozent, während im unteren Teil nicht nur die Reserven erschöpft sind, sondern auch das berüchtigte Heizgesetz fatale Folgen zeitigen wird.

Also bereits ohne Krieg oder Crash sind die Aussichten düster, aber die Wahrscheinlichkeit, dass beides vermieden werden kann, ist gering. Dafür müssten entweder die gesamten EU-Eliten ausgetauscht oder die EU selbst zerlegt werden, samt dem Mutterschiff NATO. Und das im Kern seit 2008 brüchige Finanzsystem dürfte weder auf die Rekordschulden noch auf Manöver wie jenes der Beschlagnahmung russischer Guthaben reagieren. Die Folgen? 1929 gibt so ungefähr eine Idee.

Das größte Problem ist jedoch, dass selbst das Unwahrscheinliche, eine völlige politische Kehrtwende samt Wiederaufnahme ökonomischer Beziehungen zu Russland, wahrscheinlich zu spät käme. Denn so, wie sich bei einer gut geplanten Industrieentwicklung die einzelnen Teile gegenseitig stabilisieren, so verstärkt sich auch der Zug nach unten. Die Hoffnung wird täglich geringer.

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