Von Susan Bonath
Neue klassenkämpferische Töne gegen das neoliberale Establishment beim Bundeswahlkampf verhalfen der Linkspartei zu unerwartetem Aufschwung. Viele junge Menschen traten ein, die Partei verdoppelte ihre Mitgliederzahl auf 120.000. Nun fordert ihr Jugendverband Solid, der bundesweit inzwischen über 70.000 Mitglieder zählt, das Reformerlager an der Spitze heraus, treibt es mit neuen Beschlüssen vor sich her. Solid zieht eine bittere Bilanz, will zurück zu linken Werten – und "nie wieder zu einem Völkermord schweigen". Das stößt der angepassten Führung sauer auf, lässt Leitmedien toben und die Antisemitismus-Keule zücken.
Zurück zu linken Werten?
Während die Medien vier Beschlüsse, die Solid auf seinem jüngsten Bundeskongress Anfang November fasste – etwa für einen konsequenten Friedenskurs und mehr Widerstand gegen Rüstungslieferungen und die neoliberale Verarmungspolitik – weitgehend ignorierten, bliesen sie das fünfte Solid-Dekret zum Thema Israel gewaltig auf. Unter dem Titel "Nie wieder zu einem Völkermord schweigen" reflektiert sich darin der Verband zunächst in seltener, schonungsloser Offenheit:
"Konfrontiert mit einem Völkermord haben wir als linker Jugendverband versagt."
Versagt habe die Linksjugend unter anderem dabei, "den kolonialen und rassistischen Charakter des israelischen Staatsprojekts, der sich von seinen Anfängen bis heute in der Eroberung neuer Gebiete und Vertreibung ihrer Einwohner ausdrückt, anzuerkennen". Man habe auch versäumt, die Verbrechen Israels "vom Apartheidssystem zum Genozid in Gaza" zu benennen sowie die legitime Forderung der Palästinenser nach Gleichberechtigung anzuerkennen.
Dann analysiert der Jugendverband Israels Verbrechen "motiviert durch imperiale Interessen" des Westens. Er konstatiert ein "historisches Versagen unserer Partei" und fordert diese auf, zu "antiimperialistischen und antirassistischen" Werten zurückzufinden. Dazu gehöre es, "demokratischen und sozialistischen" sowie "antikolonialen" Widerstand gegen Apartheid und Unterdrückung zu unterstützen. Wozu die Aufregung, könnte man fragen. Denn damit vertritt Solid – endlich wieder – klassisch linke Werte.
Antiintellektuelle Propaganda
Mit linken Werten – gemeint ist der Kampf für die Würde und Gleichberechtigung aller Menschen, folglich gegen Krieg, Ausbeutung und Unterdrückung – hat die herrschende Klasse (nicht nur in Deutschland) bekanntlich ein Problem. Ihren Dreck kehrt sie am liebsten unter den Teppich, schwadroniert von "Gerechtigkeit" und "Werten", appelliert an Bauchgefühle und spaltet die Bevölkerung, um ihre Schweinereien gegen diese durchzusetzen. So deutlich nun auf ihre Schandtat hinzuweisen, seit über zwei Jahren den Völkermord in Palästina mit Waffen, Wirtschaftsabkommen und Händeschütteln zu unterstützen, das macht sie rasend.
So überschlug sich der bürgerliche Medienapparat mit Geschrei über vermeintlichen "linken Antisemitismus". Diese Keule zieht noch immer. Öffentlich-rechtlich sowie private Leitmedien bliesen entsprechende Äußerungen von Ron Prosor, Botschafter der rechtsextremen israelischen Regierung, zum allgemeinen Talking Point auf. "Linksjugend bedroht alle, die NICHT Israel hassen", dockte Axel Springers Bild an die Kampagne an und verbreitete Erzählungen, wonach angeblich Delegationen den Kongress aus Angst um ihre Sicherheit vorzeitig verlassen hätten.
Es kann nicht oft genug betont werden, dass es "linken Antisemitismus" gar nicht gibt. Wer linken Idealen folgend, alle Menschen für gleichwertig hält, grenzt weder Juden noch andere Gruppen aus. Antisemitismus ist auch dann eine rechte Denkweise, wenn selbsternannte Linke ihr verfallen. Die Mär dient nur ihren Verbreitern – um abzulenken von ihrer eigenen antisozialen und rassistischen Politik. Um zu verschleiern, dass sie Israel nicht aus Liebe zu Juden unterstützen, sondern um westlich-imperialistische Interessen in Nahost durchzusetzen. Und: Wer wie sie einen massenmordenden Staat mit allen Juden gleichsetzt, denkt und handelt selbst antisemitisch – und betreibt stumpfe, antiintellektuelle Propaganda.
"Antideutsche" toben
Dass rechte Solid-Restbestände wütend den Kongress verließen, zeigt zunächst mal eines: Der Flügel der sogenannten "Antideutschen" ist geschrumpft, doch existiert noch. Diese wahnwitzige Strömung tauchte erstmals um 1990 auf. Sie fürchtete, die Annexion der DDR führe unweigerlich in ein "Viertes Reich" und verrannte sich grandios in einer stereotypen Fixierung auf Nazideutschland, Israel und USA. Bald breitete sich die Strömung mit ihren Doktrinen in der Linke-Vorläuferin PDS aus und erklomm Führungspositionen.
Im von jeder Analyse befreiten Denken dieser "Antideutschen" gelten die USA als Befreiungsmacht vom deutschen Faschismus, ihr Imperialismus gar als antifaschistischer Garant und Israel als ihre angebliche Bastion gegen Antisemitismus. Sie stiefeln stramm der deutschen Staatsräson hinterher, sind also deutscher, als ihre Bezeichnung vermuten lässt, verteufeln Kapitalismuskritik als "Antisemitismus", verprügeln zuweilen sogar Linke und wittern Faschismus nicht mehr in der deutschen Politik und Bevölkerung, sondern im Islam. Viele "Antideutsche" frönen heute einem antiarabischen Rassismus, wie man ihn sonst in der bürgerlichen "Mitte" bis weit nach Rechtsaußen findet.
Kein Wunder, dass sich manch "Antideutscher" bald in Nadelstreifen warf und im bürgerlichen Establishment hervorragend Fuß fasste. Sie sitzen heute auf Führungsposten verschiedener Parteien, in transatlantischen Redaktionsstuben, vor allem des Axel-Springer-Verlags, und auch im PR-Apparat diverser NGOs, wie der Amadeu-Antonio-Stiftung. Man kann sagen: Sie sind bestens verschmolzen mit dem bürgerlichen Staat, auch wenn sich manche zuweilen noch ein wenig "radikal" geben.
Die "antideutschen" Kader der Linkspartei sind eine besondere Kategorie. Mal plädieren sie für offene Grenzen, mal schieben sie leidenschaftlich Familien ab, wie Bodo Ramelow es als Ministerpräsident in Thüringen tat. Sie klagen ein wenig über Alters- und Kinderarmut, und schwimmen dann wie SPD und Grüne realpolitisch mit dem Mainstream. Sie klagen über Privatisierung und verscherbeln am Ende selbst Wohnungen an Privatiers. Der Linksruck in der Linken hat sie jetzt aufgeschreckt. Sie fürchten zurecht um ihre Pfründe. Das ist erfreulich und war vor ein paar Jahren noch nicht abzusehen.
Rechte Anschlussfähigkeit
Wer wie die rechten "Spitzenlinken" zugleich für "links" gehalten wird und dem bürgerlichen Establishment als möglicher Koalitionspartner gefallen will, der rudert hin und her, wie man nun sieht. Siebzehn Bundestagsabgeordnete, darunter die selbst ernannten "Silberlocken" Gregor Gysi und Bodo Ramelow, verschickten als Reaktion auf den Solid-Beschluss einen "Brandbrief". Dieser stehe "außerhalb des Konsenses unserer Partei", wetterten sie, auch wenn das wahrscheinlich nicht mehr stimmt.
Parteichefin Ines Schwerdtner hatte sich im Spätsommer von der linken Solid-Basis noch dazu treiben lassen, auf der großen Demonstration "All Eyes on Gaza" besorgt ins Mikrofon zu rufen: "Wir stehen hier für die gesamte Partei, weil wir sagen: Wir haben zu lange geschwiegen, ich habe zu lange geschwiegen, es ist ein Genozid!" Vermutlich wusste sie jedoch, dass die rechten Granden an ihrer Seite sie argwöhnisch beäugen. Nach dem Solid-Kongress, den Medienkampagnen und dem "Silberlocken"-Aufschrei war es vorbei mit ihren Kampfesreden.
Der Parteivorstand traf sich zu einer Sondersitzung. Schwerdtner und ihr Ko-Parteichef Jan van Aken beschwichtigten daraufhin öffentlich, eine derartig (vermeintlich) "einseitige Perspektive bringt niemandem etwas". Der vom Jugendverband verabschiedete Beschluss sei "nicht mit den Positionen der Linken vereinbar" und verhindere "jede Anschlussfähigkeit", wetterten die beiden, ohne zu klären: anschlussfähig an wen? Man ahnt es: an die Parteirechten, die "Antideutschen", das politische Establishment bis hin zur CDU. Immerhin hatten Linkspartei-Politiker sogar Friedrich (BlackRock) Merz zur Kanzlerschaft verholfen.
Nach all den Angriffen durch Medien und ihre eigene Partei rudert auch der Jugendverband zurück. In einer weiteren Stellungnahme geht er auf vermeintliche "Missverständnisse" ein und erklärt langatmig, was für Linke kaum erklärungsbedürftig sein dürfte:
- dass Kritik an einem Nationalstaat kein Hass auf Menschen, sondern eine Analyse sei,
- dass Linke Kolonialismus und Imperialismus nicht gutheißen dürfen,
- dass man die fiese Unterstellung, Hamas-Unterstützer zu sein, von sich weise,
- und dass sich Solid für die Rechte aller Menschen einsetze, wo immer sie bedroht seien.
Kampf um die Köpfe
In der Linken tobt der Kampf um die Köpfe. Das rechte Pro-Israel-Lager ist verunsichert. Es appelliert an eine "Geschlossenheit", die es nie gab in der Partei. Es sieht seine Felle wegschwimmen, weil es seine Mehrheit im Jugendverband verloren hat. Dabei geht es nicht nur um die Haltung zu Israel, sondern um eine Rückbesinnung auf eine antikapitalistische und antiimperialistische Opposition, die Solid einfordert: gegen Hochrüstung, Krieg und Waffenexporte, gegen Sozialabbau und Ausbeutung, gegen Wehrpflicht und "Klassenjustiz". Als echte Fundamentalopposition schwindet der Anschluss ans Bürgertum und die Aussicht aufs Mitregieren. Kurzum: Der rechte Linke-Flügel bangt um seine lukrativen Posten im Apparat.
Ob die neuen Linken im Jugendverband sich am Ende durchsetzen werden, steht in den Sternen. Es hängt von vielen Faktoren ab, zum Beispiel von der politisch-ökonomischen Bildung der Neumitglieder, um entsprechend analysieren und argumentieren zu können. Von ihrer Fähigkeit, sich selbst und damit Mehrheiten gegen den konformistisch-reformistischen Kurs der Parteiführung zu organisieren, von ihrer Zielgruppenpolitik auf der Straße und von ihrem Mut, den Beißreflexen rechter Parteigranden, hetzerischen Medienkampagnen, staatlichen Repressionen und parlamentarischen Verlockungen zu widerstehen.
Die Zeit für eine echte linke Fundamentalopposition ist überfällig. Die Entwicklung lässt hoffen, aber der Kampf hat gerade begonnen. Zum Nulltarif ist eine solche nicht zu haben.
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