Hass als Staatsprinzip Estlands

Estland trägt selbstbewusst das Halsband des "kleinen Hundes Europas". Ganz im Stil des russischen Fabeldichters Iwan Krylow bemerkt der "Elefant Russland" ihn nicht. Aber in der NATO und der EU besitzt Tallinn eine nicht unerhebliche Rolle: Sobald es erforderlich ist, kann der Hund immer von der Leine gelassen werden.

Von Olga Andrejewa

Sowohl Estland als auch Lettland und Litauen entwickeln derzeit Handlungspläne "für den Fall einer Invasion oder einer groß angelegten Konzentration russischer Truppen an der Grenze". Diese Pläne sehen die Evakuierung von Hunderttausenden Menschen vor. Es liegt auf der Hand, dass es für Russland keinen Sinn macht, die baltischen Staaten anzugreifen. Allerdings werden diese drei kleinen Länder seit langem von den Horrorszenarien eines möglichen russischen Angriffs beherrscht.

Besonders eifrig ist in dieser Hinsicht Estland. Vor einigen Tagen rief das estnische Verteidigungsministerium die NATO-Führung an – am Himmel wurde wieder ein unbekanntes Objekt gesichtet, das sofort als Provokation Russlands eingestuft wurde. Das Land rüstet fleißig auf: Vor kurzem wurde ein Militärvertrag zwischen Estland und Frankreich unterzeichnet. Insgesamt nimmt die Panikmache zunehmend die Züge einer realen Bedrohung an.

Solche Stimmungen sind für Tallinn nichts Neues. Einmal habe ich etwa zwei Wochen in Estland verbracht, um eine Reportage über die Diskriminierung der russischen Bevölkerung vorzubereiten. Das, was ich damals in Tallinn beobachtet habe, hat mich zutiefst beeindruckt.

Üblicherweise richtet sich das Interesse eines Journalisten bei der Ankunft in einem Land nicht auf die Nachrichten, sondern vor allem auf die allgemeine Mentalität, so etwas wie den kulturellen Geist des Ortes. Es geht darum, wie sich die Menschen auf den Straßen verhalten, welche Ansichten sie vertreten und wie sie die Welt betrachten. Aus dieser Perspektive wird deutlich: Jedes Land ist ein eigener Planet. Der "Planet Estland" mit seiner geringen Einwohnerzahl (weniger als 1,4 Millionen Menschen, also etwa so viel wie in Jekaterinburg) hinterlässt einen sehr starken Eindruck.

Für Estland, das seine Staatlichkeit infolge der geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts erlangte, ist die "Russenfrage" nach wie vor von zentraler Bedeutung. Etwa ein Drittel der täglichen Nachrichten befasst sich mit Problemen, die mit Russen in Verbindung stehen. Denn jeder lokale Medienvertreter weiß genau: Wenn man Aufmerksamkeit erregen will, muss man über Russen berichten.

Der Separationsgrad zwischen den beiden Ethnien in diesem kleinen Land ist enorm. Es gibt russische und estnische Straßen, Schulen, Berufe, Städte und ganze Regionen.

In der Industriestadt Narva beispielsweise hört man auf den Straßen hauptsächlich Russisch. Im landwirtschaftlich geprägten Süden hingegen wird fast ausschließlich Estnisch gesprochen. Ich habe Oberstufenschüler einer russischen Schule gefragt, ob sie Freunde unter den Esten haben. Wie sich herausstellte, haben von 30 Schülern nur zwei estnische Freunde. In estnischen Schulen ist die Zahl derjenigen, die mit russischen Gleichaltrigen kommunizieren, noch geringer und tendiert gegen null.

Warum? Der Grund liegt auf der Hand.

Estnische Kinder haben mir ein detailliertes Porträt eines durchschnittlichen Russen gezeichnet: Russen verhalten sich aggressiv, sind geschmacklos gekleidet und tragen stets Jogginghosen mit ausgeleierten Kniepartien. Am Ende unseres kurzen Gesprächs (die Lehrer sorgten dafür, dass es kurz war) haben mich diese estnischen Schüler als Faschistin und Besatzerin bezeichnet. In ihren Augen war unverhohlene Aggression zu sehen. Ich habe höflich zurückgelächelt.

Allerdings haben sich die Kinder diese Vorstellung von Russen nicht selbst ausgedacht. Hier ist das so üblich. Alle Schurken und Banditen in estnischen Filmen sprechen immer mit russischem Akzent.

"Er war ein echter russischer Abschaum. Seine Existenz hatten wir schon fast vergessen. Manchmal machte er mit Faustschlägen in dunklen Gassen auf sich aufmerksam, aber bisher hat er nicht viel Schaden angerichtet", schrieb die estnische Tageszeitung Postimees nach der sogenannten "Bronzenen Nacht" 2007, als Russen versuchten, den Abriss des Denkmals zu Ehren der Sowjetbefreier ("Bronzener Soldat") zu verhindern. Aus irgendeinem Grund sind die Russen selbst nicht mit diesem Bild von sich einverstanden.

Während meines zweiwöchigen Aufenthalts in Estland habe ich mehrmals Gruppen aggressiver junger Personen beobachtet, die auf Parkplätzen Autoscheiben zerschlugen. Sie alle sprachen Estnisch.

Der Unterschied zwischen der russischen und der estnischen Mentalität ist natürlich enorm. So erzählte mir eine Beamtin des Bildungsministeriums, eine gebürtige Estin, von der Zeit, als sie an einer russischen Schule unterrichtete. Eines Tages, als sie nach ihrer Erkrankung wieder zur Arbeit kam, wurde sie von ihren russischen Kollegen höflich zu ihrer Genesung beglückwünscht. Die Estin war gerührt und erzählte diese Geschichte ihren Freundinnen. Doch ihre estnischen Freundinnen waren empört – wie unhöflich diese Russen seien! Wie sehr sie die Privatsphäre verletzten! Unsere Gesundheit sollte sie nichts angehen!

Natürlich wird mit einem solchen Ansatz alles Russische hier nicht nur durch Gesetze von oben diskriminiert, sondern auch durch die Volksstimmung selbst. Im Hotel, im Geschäft, in der Apotheke und im Krankenhaus wird man mit Ihnen nicht Russisch sprechen, obwohl diese Sprache hier allgemein bekannt ist. Es werden weder Gesetze auf Russisch verabschiedet noch Rezepte ausgestellt. Im Grunde genommen leben die Russen in Estland in tiefer Isolation. Für die Behörden stellt dies jedoch kein Problem dar.

"Oh! Das wird künstlich zu einem Problem aufgeblasen!", antwortete die Vizepräsidentin des Riigikogu (Parlament), Laine Randjärv, mit einem charmanten Lächeln und einem netten estnischen Akzent auf meine Frage zur Desintegration. "Überlegen Sie mal, wie viele Menschen in diesem Land Estnisch sprechen. Eine Million! Trotz der Fremdeinflüsse Dänemarks, Polens, Deutschlands, Schwedens und Russlands haben wir es geschafft, seit Jahrtausenden zu existieren und unsere eigene Sprache zu sprechen, unsere eigene Universität, unser eigenes Theater und unser eigenes Kino zu haben. Und anstatt sich darüber zu freuen, macht sich ein großes Land [Russland] Sorgen: Was geschieht hier mit der russischen Sprache? Und hier geschieht überhaupt nichts. Ich weiß nicht, woher diese Ängste kommen. Es ist, als hätte jemand Schreckensbilder gemalt und sie mit einem schwarzen Rahmen umrandet."

Laut einer Umfrage des Europäischen Zentrums zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ist Estland offiziell das rassistischste Land der EU. So sind mehr als die Hälfte der einheimischen Esten davon überzeugt, dass die Koexistenz von Menschen verschiedener Rassen, Religionen und Kulturen in einer Gesellschaft dieser nicht zuträglich ist. Wenn man jedoch in einem Einkaufsladen auf Englisch spricht, wird man gern bedient. In dieser Hinsicht unterscheidet sich die Situation in Estland deutlich von der beispielsweise in Lettland. In Riga wird ein Verkäufer, der kein Russisch spricht, seine Kollegen um Hilfe bitten, aber den russischen Kunden höflich bedienen. In Estland wird der Verkäufer einen solchen Kunden einfach ignorieren.

In der estnischen Gesellschaft herrschen generell ungewöhnliche Gepflogenheiten. Bevor Ihnen jemand vorgestellt wird, werden Sie über die ethnische Zugehörigkeit und die politischen Ansichten dieser Person informiert. Es gibt Russen, die für die Russen eintreten, und es gibt Russen, die gegen sie eingestellt sind. Es gibt Esten, die sich für die Esten einsetzen, und es gibt solche, die die Russen unterstützen. Es gibt Mischlinge, die sowohl "für" als auch "gegen" sind. Es gibt Russen, die zu einem Viertel russisch sind, und Esten, die zu einem Achtel estnisch sind. Auch sie gehören sowohl zu den "Befürwortern" als auch zu den "Gegnern". Dabei ist die Frage der ethnischen Zugehörigkeit nicht so wichtig. Ein Georgier mit einem georgischen Nachnamen, der auf -schwili endet, wird hier trotzdem als Russe angesehen.

Dieser ganze negative Wirbel um die Russen vermittelt den Eindruck, als sei er das eigentliche Leitmotiv der lokalen Staatlichkeit, Kultur, Geschichte und überhaupt der Existenz der estnischen Nation. Es sieht so aus, als würde Estland ohne seinen Hass auf Russland einfach aufhören zu existieren.

Dieser Hass, der fest in der estnischen Politik verankert ist, bereitet Tallinn nur Probleme. Der Bruch der wirtschaftlichen Beziehungen führte zu milliardenschweren Haushaltsverlusten. Tallinns leerstehender Hafen vermittelt einen düsteren Eindruck. Die Preise hier sind deutlich höher als im Rest Europas, die Nebenkosten sind untragbar hoch und die Gehälter deutlich niedriger. Qualifizierte Fachkräfte wandern massenhaft in andere EU-Staaten aus – denn im Grunde gibt es in diesem Land nichts zu tun und nichts zu verdienen. Dennoch wächst der Militärhaushalt von Jahr zu Jahr, und das Land bereitet sich ernsthaft auf einen Angriff Russlands vor.

Einige kluge estnische Politiker flüsterten mir zu, dass das alles Unsinn sei, dass das Land kein "kleiner Hund" sein sollte, der Moskau anbellt, sondern eine Brücke zwischen Ost und West. "Sie sehen doch, dass wir längst zum Hinterhof Europas geworden sind", seufzte einer der Führer einer zentristischen Partei. Das stimmt natürlich. Doch leider ist keiner dieser Politiker mehr auf der estnischen politischen Bühne zu sehen.

An ihre Stelle sind andere getreten – wie die derzeitige Hohe Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Kaja Kallas, die aus dem gleichen Holz geschnitzt ist wie ihr Volk und die Politik ihres Landes. Sie ist so erzogen worden, dass sie die Russen aufrichtig für Feinde hält. Von welcher vernünftigen Politik der Europäischen Union gegenüber Russland kann hier überhaupt die Rede sein?

Estland verfolgt einen ganz eindeutigen politischen Kurs und trägt selbstbewusst das Halsband des "kleinen Hundes Europas". Ganz im Stil des russischen Fabeldichters Iwan Andrejewitsch Krylow bemerkt der "Elefant Russland" ihn nicht (Fabel: "Der Elefant und der Mops"). Aber in der NATO und der EU besitzt Tallinn eine eigene Stimme, ein eigenes Gewicht und eine nicht unerhebliche Rolle: Sobald es erforderlich ist, kann der Hund immer von der Leine gelassen werden.

Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 17. Oktober 2025 zuerst auf der Homepage der Zeitung Wsgljad erschienen.

Olga Andrejewa ist eine russische Journalistin.

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