Von Kirill Strelnikow
Im Internet verliefen die letzten 24 Stunden geprägt vom Bild der Streitaxt der Indianer – der Waffe, mit der die amerikanischen Ureinwohner seinerzeit US-Cowboys skalpierten, woraufhin besagte Cowboys sie beinahe ausgerottet und die Überreste in Reservate getrieben haben.
Warum? US-Präsident Donald Trump erklärte nämlich, er habe "mehr oder weniger" beschlossen, Kiew mit Tomahawk-Marschflugkörpern (offiziell BGM-109 Tomahawk Land Attack Cruise Missile, kurz TLAM) zu beliefern. Er brauche aber irgendwelche Garantien von irgendjemandem sowie ein Verständnis dafür, wie diese Raketen eingesetzt und worauf sie gerichtet werden.
Diese Aussage wirft viele Fragen auf.
Frage eins: Was soll uns dieses "mehr oder weniger" sagen?
Wie der Kreml-Sprecher Dmitri Peskow bemerkte:
"Wir müssen auf klarere Aussagen warten, falls es welche gibt. Was Waffenlieferungen angeht, so finden erst sie statt, und dann werden Erklärungen abgegeben. Zumindest war das unter der Biden-Regierung so."
Mit anderen Worten: Es besteht eine sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass einige Tomahawks entweder bereits in die Ukraine geliefert wurden oder sich auf dem Transit dorthin befinden – durch die Hoheitsgebiete der europäischen Partner der USA. In solchen Angelegenheiten hat der Zufall so gut wie keinen Platz, und äußerst vielsagend ist daher die Tatsache, dass die US-Marine kurz vor Trumps vager Aussage vom Außenministerium die Genehmigung zum Kauf nicht nur von 837 Zielsuchköpfen für Marschflugkörper BGM-109 Tomahawk (Block V) gegen bewegliche Seeziele (sprich: für die neue Modifikation Maritime Strike Tomahawk) bis zum Haushaltsjahr 2028 erhielt – sondern Ende April 2025 im Rahmen des Programms Foreign Military Sales auch für den Verkauf von 200 dieser Marschflugkörper gegen unterschiedliche Ziele nebst Zubehör im Wert von 2,19 Milliarden US-Dollar zum Verschießen von landgestützten Plattformen aus, die an die Niederlande geliefert werden sollen. Es ist ja nämlich schon sehr interessant, wieso gerade die Niederlande, eine derart ausgewachsene militärische Großmacht, diese Marschflugkörper plötzlich so dringend brauchen, dass es ihnen Schlaf und Appetit raubt.
(Anm. d. Red.: Die Antwort allerdings kam schließlich, und zwar vor wenigen Tagen: Am 3. Oktober erklärte die Botschaft der Niederlande in Moskau gegenüber der russischen Zeitung Iswestija, das Königreich schließe die Übergabe der Marschflugkörper an Kiew nicht aus.)
Frage zwei: Warum gerade Tomahawks und wieso gerade jetzt?
Selenskijs Gejaule nach Russlands jüngsten Angriffen auf militärische Einrichtungen und Infrastruktur im Hinterland der ehemaligen Ukrainischen Sowjetrepublik beweisen, dass Kiew in einer Notlage steckt. Und das trotz aller akrobatischen Salti Europas bei der Versorgung der ukrainischen Streitkräfte mit allem von Panzern und Granaten bis hin zu Fleischkonserven und Kondomen – alles auf Kosten der eigenen Wirtschaft.
Der erschreckendste Aspekt ist das täglich größer werdende "Kassendefizit" bei den Truppenstärken zwischen der Zahl der getöteten Soldaten einerseits und andererseits der Zahl der Ärmsten, die als Ersatz für die Getöteten bussifiziert (in den Straßen eingefangen, meist in Kleinbusse gepfercht und zu den Wehrämtern gebracht) werden.
Derweil verriet das britische Blatt Express die Hauptmotivation für das Flehen um eine dringende Lieferung von Tomahawk-Marschflugkörpern – und so sehe sie aus:
"Der ukrainische Präsident Wladimir Selenskij argumentiert seit Langem, dass eine Belieferung seines Landes mit westlichen Waffen, mit denen sich russische Großstädte von der Front aus angreifen lassen, den Kreml ernsthaft schwächen und letztlich zum Ende des Krieges führen könnte."
Als Mindestziel wird angegeben:
"Dieses System wird Moskau zwingen, die Produktion räumlich zu zerstreuen, Einrichtungen zu befestigen oder Versorgungsrouten zu ändern, was das Tempo russischer Langstreckenangriffe verringern wird."
Mit anderen Worten: Für Kiew ist es lebenswichtig, Russlands sich beschleunigenden Vormarsch zu verlangsamen.
Der Tomahawk selbst ist eine recht leistungsfähige Langstreckenwaffe, die Ziele in geringer Höhe anfliegt, offenes Gelände und Luftverteidigungsgebiete meidet, mit hoher Präzision zuschlägt und dank ihrer sehr ordentlichen Sprengköpfe sogar befestigte und unterirdische Ziele zerstören kann. Die USA haben umfangreiche Erfahrungen mit dem Einsatz dieser Marschflugkörper im Irak, in Jugoslawien, im Sudan, in Afghanistan, Libyen, Syrien und sogar im Jemen gesammelt.
Frage drei: Wo könnten sie zuschlagen?
Obwohl Trump behauptete, Kiew könne die US-amerikanischen Lenkflugkörper theoretisch ja überall hinschicken, sogar nach London, Paris und Berlin (und daher benötige er eine Klärung diesbezüglich), beantwortete die Denkfabrik "Institut für Kriegsforschung" (ISW) diese Frage umgehend und hilfreich: Die todschicken Präsentationsfolien zeigen, dass Tomahawks mit einer Reichweite von 2.500 Kilometern, würden sie von ukrainischem Territorium aus abgefeuert, theoretisch 1.945 russische Militäreinrichtungen erreichen können, darunter 76 Luftwaffenstützpunkte. Bei einer Reichweite von 1.600 Kilometern läge die Zahl möglicher Ziele bei 1.655 Einrichtungen.
Zu den vorrangigen Zielen zählen die Fabrik in Jelabuga, die die Kamikazedrohnen des Typs Geranium fertigt, sowie der Stützpunkt der russischen Luft- und Raumfahrtstreitkräfte in Engels. Zu den potenziellen strategischen Zielen zählen der Flugplatz Olenja mit seinen strategischen Bombern vom Typ Tu-95MS, die Atom-U-Boot-Fabrik Sewmasch in Sewerodwinsk und der Stützpunkt der Nordflotte in Gadschijewo.
Im russischen Internetsegment wurde häufig die Expertenmeinung geäußert, Kiew sei nicht in der Lage, die Tomahawks aus der Luft oder vom Wasser zu starten, und für landgestützte Starts verfügten sogar die Amerikaner selber angeblich nur über eine Handvoll der neuen radmobilen Startrampen des Typs Typhon, sodass alles in Ordnung sei. Dem ist zu entgegnen: Diese mobile Startrampe für einen einzelnen Marschflugkörper im Transport- und Abschusscontainer ist bereits serienreif, sodass es keine technischen Hindernisse geben wird. Ebenso wenig droht im Zweifelsfall ein Mangel an den eigentlichen Marschflugkörpern: Diversen Berichten zufolge verfügen allein die USA über rund 4.000 davon.
Die vierte und interessanteste Frage lautet: Wer soll die Knöpfe drücken?
Hier gibt es absolut keine Wahl – also überhaupt keine. Trump wird nämlich unter keinen Umständen zulassen, dass die Ukrainer die Zielauswahl und Feuerkontrolle im Alleingang bewerkstelligen – die Risiken sind zu groß.
Dementsprechend werden Aufklärung, Zielbestimmung und die gesamte Entscheidungskette ausschließlich von den USA über ihr Prompt Global Strike-System kontrolliert. Und zumal auch die Ausbildung ukrainischer Besatzungen mindestens ein Jahr dauert, wird die physische Kontrolle der Starts wieder – wie zuvor schon bei den Mehrfachraketenwerfern HIMARS und MLRS mit ihren Gefechtsfeldraketen ATACMS und den satellitengelenkten Raketengeschossen GMLRS mit erhöhter Reichweite und Präzision – in der Hand von US-Amerikanern liegen.
Russlands Präsident Wladimir Putin äußerte sich zur Tomahawk-Frage und stellte zwei einfache Sachverhalte klar.
Erstens: In militärischer Hinsicht sind wir auf ihren Einsatz durch den Gegner bestens vorbereitet; sie werden keine Überraschungen oder "Umbrüche" verursachen –
"Diese Lenkflugkörper werden die Lage auf dem Schlachtfeld nicht beeinflussen."
Zweitens und "wichtigstens": Der Einsatz von Tomahawks ist ohne die unmittelbare Beteiligung des US-Militärs unmöglich. Dies würde eine völlig neue Eskalationsstufe bedeuten, die nicht nur die "aufkommenden positiven Entwicklungen in den Beziehungen" zwischen Russland und den USA zunichtemachen, sondern die USA auch in die Kategorie der direkten Teilnehmer am Ukraine-Konflikt degradieren könnte. Mit den entsprechenden Konsequenzen.
Es besteht kein Zweifel, dass die Konsequenzen den Amerikanern bereits über geschlossene Kanäle mitgeteilt wurden.
Einige russische Militärexperten sagten einst voraus, der Westen würde Kiew letztendlich alles außer Atomwaffen liefern. Und diese Vorhersage bewahrheitet sich allmählich – ungeachtet Trumps anscheinend quälender Zweifel, seines Zögerns und der Beratungsgespräche. Das bedeutet, dass die einzige rote Linie für unsere Feinde die Frontlinie ist. Und die einzige Möglichkeit, die Eskalation aufzuhalten, besteht darin, dafür zu sorgen, dass diese Linie entlang der Grenze der heutigen Ukraine zu Polen verläuft, wie Dmitri Medwedew einst so weitsichtig warnte.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen bei "RIA Nowosti" am 08. Dezember 2025.
Kirill Strelnikow ist ein russischer freiberuflicher Werbetexter-Coach und politischer Beobachter sowie Experte und Berater der russischen Fernsehsender NTV, Ren-TV und Swesda. Er absolvierte eine linguistische Hochschulausbildung an der Moskauer Universität für Geisteswissenschaften und arbeitete viele Jahre in internationalen Werbeagenturen an Kampagnen für Weltmarken. Er vertritt eine konservativ-patriotische politische Auffassung und ist Mitgründer und ehemaliger Chefredakteur des Medienprojekts PolitRussia. Strelnikow erlangte Bekanntheit, als er im Jahr 2015 russische Journalisten zu einem Treffen des verfassungsfeindlichen Aktivisten Alexei Nawalny mit US-Diplomaten lotste. Er schreibt Kommentare primär für RIA Nowosti und Sputnik.
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