Selenskijs neuer Chuzpe-Weltrekord

Als Antwort auf die ukrainischen Angriffe auf Erdölraffinerien in Russland fährt das russische Militär aktuell eine effektive Kampagne gegen die ukrainische Energieinfrastruktur. Offenbar so erfolgreich, dass Selenskij um einen Waffenstillstand in der Luft flehte. Allerdings: um einen "einseitigen".

Von Alexej Danckwardt

Chuzpe, lässt uns die Künstliche Intelligenz wissen, ist ein Begriff aus dem Hebräischen und Jiddischen, der für Dreistigkeit, Unverschämtheit, Frechheit oder Anmaßung steht. Was die KI noch nicht über Chuzpe weiß, ist, dass sie antrainiert werden und durch ständige Übung in gigantische Ausmaße wachsen kann. Letzteres hat der ukrainische Machthaber Wladimir Selenskij neulich eindrucksvoll bewiesen. 

Nicht, dass er bislang nicht schon dreist, unverschämt, frech und anmaßend gewesen wäre. Er war es in atemberaubender Weise, und der Erfolg, den er damit hatte (er braucht nur etwas zu fordern, und schon liefern ihm westliche, vor allem europäische Führer das Gewünschte), ließ seine Chuzpe ins Unermessliche wachsen. Wäre Chuzpe olympische Disziplin, wäre Selenskij spätestens seit dieser Woche unangefochtener Allzeit-Weltrekordträger. 

Keinen Monat ist es her, da prahlte Selenskij mit dem Erfolg der ukrainischen Drohnenkampagne gegen Erdölraffinerien in Russland. Ein wenig noch, posaunte er, und ob der Schlangen an den Tankstellen empörte Russen würden "Putins Regime" stürzen. Er sagte, dass die Ukraine in der Lage sei, Russland mit schweren Schlägen zu treffen, drohte Moskau mit einem Blackout und so weiter. Er klang so überzeugend, dass selbst Donald Trump sich von Selenskijs Euphorie anstecken ließ, etwas Ähnliches murmelte und nun erwägt, mit Tomahawk-Marschflugkörpern Russland selbst anzugreifen. 

Russland antwortete darauf, indem es die selbst auferlegte Zurückhaltung (im März hatte Wladimir Putin ein einseitiges Moratorium für Angriffe auf die ukrainische Energieinfrastruktur verkündet, das seitdem weitgehend eingehalten wurde) ablegte und nun wieder die Stromnetze der Ukraine unter Beschuss nimmt. Systematisch und, wie es von Experten heißt, sehr effektiv.

Jetzt dämmerte es auch Selenskij, dass Russland es dieses Mal ernst meinen und der Ukraine tatsächlich in zwei bis drei Monaten systematischer Angriffe auf die Energieinfrastruktur das Licht abdrehen könnte. Der Ton änderte sich und wurde beinahe schon flehend. Der Anzahl der dem Thema gewidmeten Posts in seinem Telegramkanal nach zu urteilen, herrscht in Selenskijs Verwaltung inzwischen Panik. Wäre höchste Zeit, zu Verstand zu kommen und sich ernsthaft auf die Verhandlungsangebote Moskaus einzulassen, oder? 

Oder. Lassen Sie sich auf der Zunge zergehen, um was genau Selenskij da fleht: 

"Ein einseitiger Waffenstillstand in der Luft ist möglich, und genau das könnte den Weg für echte Diplomatie ebnen. Amerika und Europa müssen handeln, um Putin zum Einlenken zu zwingen."

"Ein einseitiger Waffenstillstand in der Luft ..." – was meint der Ex-Komiker damit wohl? Mit Sicherheit nicht die Einstellung der ukrainischen Drohnen- und Raketenangriffe auf Russland. Dafür bräuchte es keinen Druck auf Putin, sein eigener Befehl würde reichen. 

Gemeint ist (natürlich!), dass Russland, wie im Frühjahr und Sommer dieses Jahres, seine Aktionen gegen die ukrainische Infrastruktur einstellt, während die Ukraine weiterhin nach Belieben russische Ziele angreifen darf. Daraus macht Selenskij übrigens keinen Hehl, schreibt nur einen Tag später in seinen sozialen Netzwerken dies: 

"Die Ukraine reagiert und greift militärische Einrichtungen und Energieanlagen an, die Energieressourcen verkaufen. Russland verkauft seine Energieressourcen und verwendet dieses Geld dann ausschließlich für den Krieg. Deshalb unternimmt die Ukraine absolut gerechte Schritte. Wir würden das gerne nicht tun, wir würden uns gerne wünschen, dass es keinen Krieg gäbe, aber die 'Russen' wollen das nicht. Bis jetzt. Und deshalb kann dieser Krieg nur durch Druck beendet werden. Der Druck ist vielschichtig. Der Druck der westlichen Länder reicht heute nicht aus. Und es fehlt auch an Einheit in diesem Druck. Mehr Druck von den USA, mehr Druck von Europa. Den globalen Süden spüren wir bisher noch nicht einmal – ihren Druck auf Russland, damit sie aufhören. Und der zweite Vektor ist die russische Gesellschaft selbst. Sie töten uns. Sie dürfen sich nicht wohlfühlen. Und wenn sie sich nicht wohlfühlen, werden sie beginnen, ihrer Führung Fragen zu stellen."

Selenskijs Traumwelt ist also eine, in der Russland sich einseitig mit Schlägen zurückhält, der Westen (und im Idealfall auch der Süden) einseitig Druck auf Russland ausübt und in der der Ukraine alles erlaubt ist und sie ihre Schläge führen darf, ohne Vergeltung zu fürchten. Und er ist davon überzeugt, dass seine Forderung realistisch ist. 

Das Problem ist, dass wir alle, der Westen, der Süden und auch Russland selbst, ihm jeden Grund zu dieser Überzeugung gegeben haben. Der Westen erfüllte ihm bisher auf Kosten der europäischen und amerikanischen Steuerzahler jeden Wunsch und verschloss die Augen vor seinen Verbrechen wie zuvor vor denen seines Vorgängers. Der Süden setzte Russland mit allerlei "Friedensinitiativen" unter Druck. Und Russland ... Russland übte sich in maximaler Zurückhaltung, brach seine Kampagnen gegen das ukrainische Stromnetz zweimal ab und erklärte, wie schon erwähnt, im Frühjahr jenen "einseitigen Energiewaffenstillstand", auf den Selenskij nun wie auf einen Rechtsanspruch pocht.

Im oben zitierten Post behauptete der Kiewer Machthaber übrigens, die Ukraine töte keine Zivilisten. Nur einen Post später zeigte er Fotos von seinem Treffen mit dem Chef des ukrainischen Geheimdienstes Wassili Maljuk. Jenem Maljuk, der im April letzten Jahres im ukrainischen Fernsehen süffisant damit prahlte, wie sein Dienst Gegner des Kiewer Regimes – alles Zivilisten – in Russland "liquidiert". Die Terrorpraxis geht bis heute weiter, erst vor wenigen Tagen starb ein Stadtratsabgeordneter, Zivilist, bei einem Terroranschlag, zu dem sich der SBU bekannte. Und am Mittwoch starben drei Zivilisten durch einen ukrainischen Raketenangriff auf ein Sportzentrum im Gebiet Belgorod.

Fest steht, dass solange Selenskijs Chuzpe so aufgeblasen ist wie derzeit, ernsthafte Friedensverhandlungen unmöglich sind. Alle Initiativen würden wie bislang auf einseitige Gesten guten Willens aus dem Kreml hinauslaufen, die stets zum Nachteil Russlands ausgingen und Russland sowieso nie zugutegehalten werden. Es bleibt nur ein Weg: Wenn Trump Selenskij nicht den Stecker zieht, wird es die russische Armee tun müssen.

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