Deutsche Mythen: Die Brigade Litauen, tot mehr wert als lebendig?

Warum propagiert man den Litauen-Einsatz der deutschen Soldaten samt ihrer Familien so vehement? Dazu liefern unsere Autoren eine schaurige Vermutung: Mit dem Untergang der Brigade Litauen könnte im Konfliktfall das nächste Kapitel eines altbekannten deutschen Totenkults aufgeschlagen werden.

Von Wladislaw Sankin und Astrid Sigena 

Den Deutschen kann man einen gewissen sakralen Kult um ihre Niederlagen nicht absprechen. Das war schon im Ersten Weltkrieg der Fall. Schon bald, nachdem in der (letztlich erfolglosen) Ersten Flandernschlacht die Blüte der deutschen Jugend auf dem sogenannten "Feld der Ehre" verblutet war – angeblich mit dem Lied "Deutschland, Deutschland über alles" auf den Lippen –, bildete sich ein Mythos um den Tag von Langemarck, der weit über eine (menschlich angebrachte) Totenehrung hinausging. Der 10. November galt als "Ehrentag der deutschen Jugend" und wurde auch in der Weimarer Republik weiterhin begangen. Die Nationalsozialisten machten sich diesen Mythos nach der Machtergreifung zunutze. Auch heute noch sind zahlreiche Plätze und Straßen in (West-)Deutschland sowie eine Bundeswehr-Einrichtung in Koblenz nach dem Ort benannt, wo über 2.000 Deutsche im "Opfergang der deutschen Jugend" einen militärisch sinnlosen Tod fanden.

Aber eigentlich muss man noch viel weiter in die Geschichte zurückgreifen, wenn man den deutschen Kult um Tod und Untergang verstehen will. Gerade im Deutschen Reich bezog man sich – klassisch gebildet – auf das antike Griechenland. Besonders beliebt war der Rückgriff auf die 300 Spartiaten, die den Engpass bei den Thermopylen verteidigten und dabei allesamt fielen.

Ihr Schicksal hatte der altgriechische Dichter Simonides in dem berühmten Distichon Ὦ ξεῖν’, ἀγγέλλειν Λακεδαιμονίοις ὅτι τῇδε / κείμεθα, τοῖς κείνων ῥήμασι πειθόμενοι gefeiert, kongenial vom Dichter Friedrich Schiller als "Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest / Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl."

Besonders in der Zeit des Nationalsozialismus wurde der blinde Gehorsam der spartanischen Krieger trotz offensichtlicher militärischer Nutzlosigkeit als "richtungsweisendes Beispiel" gesehen. Kein Wunder, dass Hermann Göring in seiner "Leichenrede" vom 30. Januar 1943 anlässlich der kurz bevorstehenden deutschen Niederlage in Stalingrad Bezug auf die Thermopylen nahm: Damals wie zum Zeitpunkt der Rede hätten "nordische Menschen" "dem Ansturm aus dem asiatischen Osten" in ihrer Aufopferung standgehalten (dass die Russen – wie die antiken Griechen – in ihrem eigenen Land kämpften, schien Göring nicht weiter beachtenswert). Göring weiter:

"Es wird auch einmal heißen: Kommst Du nach Deutschland, so berichte, du habest uns in Stalingrad liegen sehen, wie das Gesetz – das heißt: das Gesetz der Sicherheit unseres Volkes – es befohlen hat!"

Noch deutlicher wird diese Tendenz bei dem deutschesten aller mittelhochdeutschen Epen, dem Nibelungenlied. Die deutschen "Landser" in Stalingrad litten ja nun eher nicht unter Hitze und Flammen, sondern vielmehr unter Hunger und Kälte in den Wintermonaten. Und dennoch fiel Hermann Göring kein naheliegenderer Vergleich ein als der mit dem Untergang der völkerwanderungszeitlichen Burgunder (ab Minute 4:20):

"Wir kennen ein gewaltiges Heldenlied von einem Kampf ohnegleichen, es hieß 'Der Kampf der Nibelungen'. Auch sie standen in einer Halle voll Feuer und Brand, löschten den Durst mit dem eigenen Blut, aber sie kämpften bis zum Letzten. Ein solcher Kampf tobt heute dort, und noch in tausend Jahren wird jeder Deutsche mit heiligem Schauer von diesem Kampf in Ehrfurcht sprechen und sich erinnern, dass dort trotz allem Deutschlands Sieg entschieden worden ist."

In dem mittelalterlichen Epos freilich tranken die Nibelungen nicht das eigene Blut, sondern der düstere Hagen gab den dürstenden Kämpfern den Rat, vom Blut der Gefallenen zu trinken (36. Aventiure, ab Vers 2224).

Eigentlich hätte das Bild von den dürstenden Recken in der Flammenhalle viel besser zu den Verteidigern der Festung Brest im Juni 1941 gepasst. Wie berichtet wird, kämpften sie weiter, obwohl ihnen der Zugang zu Wasserquellen durch die deutschen Schützen abgeschnitten war und sie das wenige noch vorhandene Wasser auch zur Kühlung der heißlaufenden Maschinengewehre benutzen mussten. Aber wahrscheinlich wäre Göring nie im Traum darauf verfallen, (aus seiner Sicht) slawischen Untermenschen könne die Anerkennung eines Vergleichs mit den heldenhaften Nibelungen um Hagen von Tronje zuteil werden. In der Sowjetunion wurde der Widerstand der Brester Garnison heroisiert und mit einer monumentalen Büste eines Verteidigers im typischen Sowjetstil geehrt. Auch die Dauer und das Ausmaß des Widerstands wurde wohl übertrieben dargestellt (im Juli kämpften nur noch einzelne Verteidiger).

Jedoch: Der finstere Pessimismus des (modern interpretierten) Nibelungenmythos vom unaufhaltsamen, aber desto heroischeren Untergang, der in der Figur Hagens in amoralischen Nihilismus zugunsten eines pervertierten Verständnisses von Treue umschlägt, fehlt dem sowjetisch-russischen Gedenken. Eher erinnern die düster inszenierten Trauerzeremonien der ukrainischen Maidan-Bewegung, etwa am 21. Februar 2014 in Kiew, an den deutschen Todeskult. Damals tönte aus den Lautsprechern das düster-schöne Trauerlied "Пливе кача" (Der Strom der Theiß trägt eine Ente), während die Versammelten die Särge der bei einem inszenierten Massaker Gefallenen durch die Reihen reichten. In dieser Nacht wurde die Machtergreifung durch die Maidan-Kräfte beschlossen.

Was das alles mit der Brigade Litauen zu tun hat? Nun, es gibt die beunruhigende Vermutung, die Brigade Litauen sei nur dazu da, in Schönheit unterzugehen. Es ist bekannt, dass der Suwalki-Korridor, den die 5.000 deutschen Soldaten im Verbund mit Polen und Litauern im Ernstfall verteidigen müssten, nur 30 bis 60 Stunden gehalten werden kann. Spätestens dann wären die Russen durchgebrochen, während Nachschub und Unterstützung aus den anderen NATO-Staaten noch lange nicht vor Ort wären.

Der CDU-Politiker und Vorsitzende des deutschen Reservistenverbandes Patrick Sensburg prophezeite gar 5.000 Tote täglich bei einem möglichen Krieg an der Ostflanke. Freilich nicht nur deutsche Gefallene, aber eben auch zu einem erheblichen Prozentsatz Bundeswehrsoldaten unter den Toten, will man Sensburgs Prophezeiung ernst nehmen. Für Sensburg natürlich kein Grund, das deutsche Engagement im Baltikum zu hinterfragen, sondern vielmehr, um eine Erhöhung der Reservistenzahlen zu fordern. Die Toten an der Ostfront – pardon, Ostflanke – müssen schließlich ersetzt werden können, damit die Front nicht einbricht.

Und Militärhistoriker Sönke Neitzel, der nicht mehr ausschließen will, "dass die Bundeswehr kämpfen muss", warnt in der Bild-Zeitung, dass die Brigade Litauen bei einem möglichen russischen Angriff auf Litauen (in der NATO-Gedankenwelt greifen natürlich immer nur die Russen an), keine Chance hätte:

"Sie würde natürlich kämpfen, aber könnte momentan wohl nur beweisen, dass sie mit Anstand zu sterben versteht."

Ob vermehrte Reformanstrengungen in der Bundeswehr, wie sie Neitzel in den Medien nahezu täglich fordert, an diesen düsteren Aussichten etwas ändern würden, bleibt fraglich. Aber vielleicht sind bessere Überlebenschancen für die Brigade Litauen ja gar nicht gewünscht?

Der Journalist Ludwig Greven erklärte im Mai, die Stationierung der Brigade Litauen sei keine Garantie dafür, dass Litauen erfolgreich gegen Russland verteidigt werden könne. Dazu wäre sie gar nicht in der Lage. Aber sie stelle sicher, "dass sich Deutschland dann nicht mehr drücken" könne. Denn sie würde "sozusagen als Faustpfand" garantieren, "dass Deutschland dann schon um seiner eigenen Soldaten willen militärisch eingreifen" müsse. Deutlicher kann man es nicht zum Ausdruck bringen, dass der Sinn der Brigade Litauen darin besteht, die Deutschen in einen Krieg mit Russland hineinzuziehen. Der Artikel trägt übrigens den ominösen Titel "Germans to the front" (ein seit der Bekämpfung des Boxeraufstands altbewährter Slogan).

Dazu ist das Überleben der Brigade Litauen gar nicht erforderlich. Im Gegenteil, für das Aufheizen der Stimmung in Deutschland wäre es sogar förderlicher, wenn die dortige Bundeswehrgarnison von der russischen Armee zerrieben würde, natürlich in heroischem Abwehrkampf. Denn noch sind allzu viele Deutsche von der Idee eines erneuten Krieges gegen Russland noch nicht ganz begeistert. Das könnte sich schlagartig ändern, würde man der deutschen Öffentlichkeit ein heldenhaftes Untergangsdrama bieten, an einem historisch konnotierten Ort, wo schon die deutschen Ordensritter gekämpft haben. Bei der Ostkolonisierung, die angeblich die Zivilisation in den Osten gebracht hat. Heute geht es natürlich eher um "unsere Werte", die wir gegen Putin verteidigen müssen. Oder um die Verteidigung "unserer Lebensweise" in einer rauer gewordenen Welt, wie Bundeskanzler Friedrich Merz anlässlich des 35. Jahrestages der deutschen Einheit erklärte.

Besonders bedenklich ist, wie viel Wert darauf gelegt wird, dass die deutschen Soldaten ihre Frauen und Kinder mit ins Baltikum bringen. Die litauische politische und mediale Elite feiert die Einrichtung deutscher Schulen und Kindergärten geradezu als ihre Lebensversicherung und gibt die genaue Lokalisierung dieser Örtlichkeiten bereitwillig öffentlich bekannt (RT DE berichtete). Vergleichbares ist vom französischen Kontingent in Estland und vom kanadischen in Lettland nicht zu berichten. Es sind zwar auch rund 100 kanadische Soldatenfamilien im Rahmen der "Operation Reassurance" nach Lettland umgezogen, viel Aufhebens wie um die deutschen Kinder in Litauen wird allerdings nicht um sie gemacht. Und von eigenen Schulen und Kindergärten ist – zumindest öffentlich – auch nicht die Rede.

Es ist für den Untergang der Brigade Litauen übrigens nicht einmal nötig, dass sie selbst in die Kämpfe eingreift. Ohnehin gelten die Deutschen seit einer Anfrage des Verteidigungsausschusses im Bundestag als unsichere Kantonisten, weil womöglich erst eine Abstimmung des Bundestages einen Kampfeinsatz möglich machen könnte (RT DE berichtete). Es würde reichen, dass eine interessierte Macht im Rahmen einer False-Flag-Aktion einen Beschuss aus Richtung der deutschen Standorte Rukla und Rūdninkai startet, um das russische Feuer auf die Deutschen zu lenken. An einen Beschuss der deutschen Schulen und Kindergärten nach Art des Tonkin-Zwischenfalles gar nicht zu denken… Der Russenhass in Deutschland würde ins Unermessliche steigen.

Niederlagen, sofern sie nur heroisch genug aufgewertet werden, können die Kriegsbereitschaft ins Unermessliche steigern. Das zeigte schon die Schlacht um Fort Alamo 1836. Der Tod sämtlicher Verteidiger führte zu einem ungeheuren Zulauf für die texanische Armee im Unabhängigkeitskrieg. Die Folge: Texas ist heute ein US-amerikanischer, kein mexikanischer Bundesstaat.

Litauen und Ukraine: Konstituierte Märtyrer-Mythen

Manchmal reicht aber auch nur ein Dutzend Toter, um beispielsweise eine Staatsbildungs-Legende zu schaffen. Wichtig dabei ist lediglich, ihren Tod den Kräften einer größeren, aber moralisch angeblich verkommenen Macht in die Schuhe zu schieben, um sie später als Märtyrer ehren zu können. So kamen in der Nacht zum 13. Januar 1991 13 Menschen bei Ausschreitungen in der litauischen Hauptstadt Vilnius ums Leben. Ihr Tod wurde der sowjetischen Spezialeinheit "Alpha" angelastet, die damals wegen den Separatismus-Bestrebungen in der Stadt im Einsatz war. Der Vorfall diente als Vorwand für die endgültige Abspaltung der Republik von der Sowjetunion.

Seit beinahe 35 Jahren wird in Litauen mit dieser Geschichte der Hass auf Moskau geschürt, das Zweifeln an der offiziellen Version wird unter Strafe gestellt. Nur: Beweise, dass diese Menschen von "Alpha" erschossen wurden, wurden nie erbracht. Sowohl forensische Untersuchungen als auch zahlreiche Zeugenaussagen und schließlich sogar das Eingeständnis des "Regisseurs" dieser Ereignisse sprechen für eine andere Version: Die meisten von ihnen wurden von unbekannten Scharfschützen von den umliegenden Gebäuden aus getötet, und der Rest kam unter anderen Umständen ums Leben. Also war ihr Tod das Ergebnis einer False Flag-Attacke und weiterer Manipulationen mit dem Ziel, die Sowjetunion als Aggressor anzuprangern und ein Helden-Pantheon für den Unabhängigkeitskampf aufzubauen.

23 Jahre später wiederholte sich diese Geschichte in Kiew, als mehrere Dutzend Protestler von einem unbekannten Scharfschützen-Kommando in der Gegend um den Unabhängigkeitsplatz (Maidan) erschossen wurden. Sofort wurde ihr Tod Spezialkräften der Polizei in die Schuhe geschoben. Doch wie sich später erwies, handelte es sich dabei um eine False-Attacke der "Aufständischen" selbst, mit dem Ziel, weltweiten Hass auf die Regierung Janukowitsch zu wecken und so den darauffolgenden Staatsstreich moralisch zu legitimieren. Als "Himmlische Hundertschaft" werden die Toten bis heute in Kiew geehrt, die Gedenkstätte mit den Bildern der Gefallenen ist ein Pilgerort für hohe Gäste der Kiewer Machthaber aus dem Westen.

Wird Deutschland den ukrainischen Weg beschreiten?

Litauen und die Ukraine – die zwei postsowjetische Staaten, die einen gefälschten Märtyrer-Mythos zum Fundament ihrer Staatlichkeit machten, sind zufälligerweise auch die besten "Freunde" Deutschlands in Osteuropa. Nach deren Vorbild ist der propagandistische Aufbau schon vorhersagbar: Ein Haufen tapferer deutscher Verteidiger begibt sich in das östliche Sumpfgebiet (wo vor wenigen Monaten vier US-Soldaten ertranken), um einer unberechenbaren und übermächtigen Macht zu trotzen. Und kommt darin um. Natürlich werden daran die Russen schuld sein.

Dabei dürfte ausgerechnet die deutsche Rechte anfällig sein für Mythenbildung dieser Art. Noch gibt es Stimmen der Vernunft, wie die von Björn Höcke, der angesichts des deutschen Engagements im Ukraine-Krieg einer (derzeitigen) Wiedereinführung der Wehrpflicht reserviert gegenübersteht. Auch der bayerische Landesvorsitzende der AfD, Stephan Protschka, warnte vor einem deutschen Kriegseinsatz in Litauen. Ihnen gegenüber stehen jedoch andere AfDler, die für den Kampf gegen Russland geradezu trommeln und deren Stimmen immer lauter werden. Es scheint so, dass ausgerechnet die AfD eine entscheidende Rolle dabei spielt, das Verhältnis der Deutschen zum kommenden Drama im Osten in die eine oder andere Richtung zu beeinflussen. Es ist die Aufgabe der gesünderen Kräfte in dieser Partei, aber auch anderswo, einer Wiederbelebung des deutschen Todeskultes nicht anheimzufallen.

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