Von Wladislaw Sankin
Was weiß der durchschnittliche Europäer über Moldawien, das kleine Land zwischen der Ukraine und dem Balkan, auch als Moldova oder Moldau bekannt? Die einen haben vielleicht etwas über die berühmten moldawischen Weine gehört, die anderen, die Geschichte studiert haben, darüber, dass es das Fürstentum Moldau schon im Spätmittelalter gab und dessen Woiwod Stephan der Große den Eroberungsplänen seiner mächtigen Nachbarn über Jahrzehnte trotzte. Aber ansonsten: weit weg, trist, arm, unbedeutend. Warum sollten wir etwas über Moldawien wissen? Wir sollten es, weil dieses Land uns am eindrücklichsten zeigt, was Demokratie nach heutigem Brüsseler Zuschnitt bedeutet.
Zunächst einmal: Es ist schwer, sachlich zu bleiben, wenn man beschreibt, wie der heute zu Ende ausgezählte, vermeintliche Sieg der Regierungspartei PAS überhaupt zustande kam. Aber wir versuchen es und fangen damit an, dass zuerst daran erinnert werden muss, dass die Präsidentin des Landes, Maia Sandu, im Landesinneren über sehr eingeschränkte Legitimität verfügt. Sie wurde nämlich von den Staatsbürgern Moldawiens, die auf seinem Staatsgebiet im vorigen Jahr ihre Wahl trafen, nicht gewählt. Ohne Rücksicht auf die Auslandsdaten bekam ihr Rivale Alexander Stoyanoglo bei der Stichwahl am 3. November 51,19 Prozent der Stimmen, Sandu nur 48,81 Prozent.
Die Besonderheit Moldawiens besteht nun darin, dass bis zu eine Million moldawische Bürger wegen der niedrigen Löhne dauerhaft im Ausland leben und arbeiten. Das ist fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Viele Moldawier haben mehrere Pässe – vor allem rumänische, russische, bulgarische und ukrainische. Sehr viele arbeiten in Italien oder Spanien, wo ebenfalls romanische Sprachen gesprochen werden, aber auch in Deutschland. Die meisten der Auslandsmoldawier befinden sich dauerhaft in der Russischen Föderation, Schätzungen zufolge sind es ca. 350.000.
Ausgerechnet ihnen wurde ihr Wahlrecht von Sandu verwehrt. Nur zwei Wahllokale in Moskau wurden bei den Präsidentenwahlen geöffnet, in denen wiederum nur 10.000 Stimmzettel zum Ausfüllen zur Verfügung standen. Für ein Riesenland wie Russland – zwei Wahllokale in Moskau! Es war die Beraubung einer großen Wählergruppe ihrer Rechte – ein beispielloser Akt der Diskriminierung. Denn im westlichen Ausland, wo nach Meinung von Sandu Moldawier mit ihrem prowestlichen Kurs eher einverstanden sind als in Russland, öffneten demgegenüber 234 Wahllokale ihre Türen. Allein in Deutschland waren es 26, in Italien 60.
Viele dieser Wahllokale standen am Wahltag die meiste Zeit leer. Auch fehlte es dort an Wahlbeobachtern. Was dort geschah, blieb meist im Verborgenen. Jedenfalls konnte Sandu wie nach dem Wink mit dem Zauberstab ihre Wahlniederlage in Moldawien innerhalb weniger Stunden nach der Auszählung im Westen in einen sicheren Sieg mit einem Vorsprung von elf Prozent verwandeln. Keiner, der die Moldawier kennt, wird glauben, dass diese Wähler sofort zu Sandu-Anhängern und Verfechtern ihres radikal prowestlichen Kurses werden, sobald sie die Grenze zur EU oder zu den USA überschreiten. Sie sind die gleichen Moldawier wie in Chisinau, Belcy oder sogar Moskau, und sie schätzen die politische Lage in ihrem Land nicht wesentlich anders ein als diese. Der Zauber der moldauischen Wahlnacht war eine himmelschreiende Lüge und Manipulation.
Das gleiche geschah mit dem Referendum zum Beitritt zur Europäischen Union, das zwei Wochen zuvor zusammen mit der ersten Wahlrunde stattfand. Mit 50,35 zu 49,65 Prozent brachte diese Abstimmung einen Vorsprung der Ja-Stimmen von weniger als einem Prozent. In Moldawien selbst stimmten 26 der insgesamt 37 Wahlbezirke dagegen. Moldawien ist seit Jahrzehnten zerrissen, denn prowestliche Kräfte versuchen, den Weg des Baltikums und der Ukraine zu einem radikalen Bruch mit Russland nachzuahmen.
Nur – es gelingt ihnen hier nicht. In dem Land gibt es eine lebendige Opposition zum prowestlichen Kurs, die Kontakte nach Moskau nicht scheut. Nach den verloren-gewonnenen Wahlen und dem Referendum im Herbst letzten Jahres sah sie sich als moralischer Sieger. Der Verlust der parlamentarischen Mehrheit würde Sandu mit ihrem Kurs in dem parlamentarisch organisierten moldawischen Staat politisch bedeutungslos machen. Das konnte weder sie noch Brüssel zulassen. Der sogenannte Euromaidan in Kiew hat gezeigt: Wenn die EU etwas schnappt, gibt es nie kampflos zurück.
Die Zwischenzeit zwischen den Wahlen nutzte Sandu für die Unterdrückung der Opposition. Kritische Medien wurden gesperrt, acht Parteien verboten, ihre gefährlichste Gegnerin, Jewgenija Gutsul, die Chefin der Gagausischen Autonomie, steckte Sandu für sieben Jahre ins Gefängnis. Für all das hatte sie freie Hand, denn der Zweck rechtfertigt die Mittel. Mehr noch, Sandu wurde für all diese Taten ausdrücklich gewürdigt, denn in nur wenigen Wochen nach der schockierenden Urteilsverkündung für die zweifache Mutter Gutsul und einen Monat vor der Wahl kamen Merz, Tusk und Macron nach Chisinau, um Sandu auf offener Bühne zu unterstützen. Nun durfte am 28. September nichts mehr schiefgehen!
Und es ging auch nichts schief, obwohl die Umfragen der Sandu-Partei eine Wahlniederlage prognostizierten. Noch wenige Wochen vor den Wahlen hieß es, es würden nur 34 Prozent die PAS wählen. Dafür hätte sie 40 Sitze im Parlament bekommen und wäre in der Minderheit gewesen. Die stärkste noch legal verbliebene Opposition vom Bündnis "Patriotischer Block" hätte mit 42 Sitzen knapp vorn gelegen, wobei die verbliebenen Sitze den anderen, gemäßigt oppositionellen Parteien zugefallen wären.
Für einen Sieg musste also die bei den vorherigen Wahlen perfektionierte Fälschungs- und Einschüchterungsmaschine noch reibungsloser laufen. Und das tat sie: Die Anzahl der Wahllokale im Ausland wuchs auf 300 an, während es in Moskau bei zwei Lokalen blieb. Aber auch das Restrisiko musste gebannt werden, und zwar in Transnistrien. Wie es bei der Wahl des Sandu-Vorgängers und jetzigen Rivalen Igor Dodon von der Sozialistischen Partei bei den Wahlen 2016 der Fall war, hätten die mehrheitlich prorussisch eingestellten Einwohner Transnistriens zu den Königmachern werden können, und das galt es zu verhindern. In dem Landesteil leben mehr als 300.000 Wahlberechtigte.
Diese "Gefahr" bannte die Staatsmacht auf primitive, aber wirkungsvolle Weise: Mehrere Wahllokale in Transnistrien wurden geschlossen und ins Landesinnere verlegt. Da der Grenzübergang zwischen der Moldawischen Republik Transnistrien und Restmoldawien nur über die Nistru-Brücken möglich ist, wurden an den Brücken Reparaturarbeiten angekündigt. Danach wurde ein Teil von ihnen wieder geöffnet, die ankommenden Autos wurden jedoch streng kontrolliert. Schließlich wurden Bombendrohungen an den Brücken und in einigen Wahllokalen gemeldet, woraufhin die wichtigste Brücke über sechs Stunden gesperrt war. All das verringerte die Zahl der transistrischen Wähler um mehr als die Hälfte im Vergleich zum Vorjahr.
Und da reden wir nicht einmal von den mehr als 600 gemeldeten Verstößen und Verdachtsmomenten auf Unregelmäßigkeiten, etwa Wählerkarussellen, dem Einwurf ausgefüllter Stimmzettel und sonstigen klassischen Methoden der Wahlmanipulation. Sandu weiß, ihr droht keine Kritik, weder von der OSZE noch von der EU noch von sonst wem, dessen Stimme in ihrem Koordinatensystem zählt. Im Gegenteil! Sie lieferte das Wichtigste – das Resultat von 50,03 Prozent Stimmen für PAS und 55 statt 40 Plätzen im Parlament. Die wahre Chefin von Sandu, die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, hat den Ausgang der Parlamentswahl ausdrücklich begrüßt. Sie schrieb, dass die Menschen in Moldau ein weiteres Mal deutlich gemacht hätten, wofür sie sich entschieden haben: "Europa. Demokratie. Freiheit. Kein Versuch, Angst oder Spaltung zu säen, hat Ihre Entschlossenheit zerschlagen können."
Der Aufstieg der 53-jährigen Sandu, einer von westlichen Fonds aufgebauten Politikerin wie aus dem Reagenzglas, kam natürlich nicht von ungefähr. Die EU und die NATO haben Moldau vor langer Zeit zu einem strategisch wichtigen Druckpunkt gegen Russland gewählt. Seit Jahrzehnten züchten sie hier eine schmale Schicht an Einflussagenten, die am Tropf der Fondsgelder hängen und westliche ideologische Durchhalteparolen pauken. Sandu beherrscht dies perfekt. Wie auf Knopfdruck kann sie zum richtigen Zeitpunkt eine weitere antirussische Parole ausrufen und ihre Anhängerschaft auf die westlichen "Werte" einschwören. Betrügerisch schmächtig aussehend, ist sie hart genug im Durchgreifen. Was braucht man sonst?
Dabei machten die moldawische Opposition und die einfachen Wähler immer wieder den gleichen Fehler. Sie verharren in der Denkschablone, dass man durch demokratische Wahlsysteme in der heutigen EU und ihrer Peripherie einen Wandel herbeiführen könne, während die Strippenzieher des improvisierten "demokratischen" Puppentheaters die Spielregeln nach Bedarf ändern. Hätte Sandu möglicherweise verloren und (Gott bewahre!) die prorussische Opposition gewonnen, würden die Wahlen von der EU und dem übrigen Westen nicht anerkannt und, wie in Rumänien, annulliert, bis das vom Westen gewünschte Ergebnis erreicht ist. Nur ein entschiedenes und geschlossenes Fernbleiben von solchen Wahlen könnte dieses Szenario noch durchbrechen.
Doch eine Regierung wählen zu können, gehört zum normalen Bedürfnis der heutigen Bürger. Und das nutzen die Aufseher in Berlin, Paris und Brüssel gnadenlos aus. Aber die Sachsen oder Thüringer kann man bei künftigen Wahlen nicht mit Brückensperrungen von ihrer Wahl abhalten, zum Glück nicht. Das Beispiel Moldawien führt jedem in der EU lebenden Bürger vor Augen, welche demokratischen "Wunder" noch möglich sind, sollte er sich bei Wahlen nicht artig verhalten.
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