Von Susan Bonath
Die staatsräsonalen Leitmedien schäumen oder relativieren, und die Berliner Polizei – scheinbar verärgert, weil sie nicht drauflos knüppeln konnte wie sonst – schwurbelte die Teilnehmerzahlen so klein wie möglich. Doch die Bilder und Eindrücke vom Ort des Geschehens sprechen eine andere Sprache: Die Demonstration "Zusammen für Gaza" zur Kundgebung "All Eyes on Gaza" gegen den westlich gestützten israelischen Vernichtungsfeldzug in Palästina am Samstag in Berlin war der größte Protestzug in Deutschland seit langer Zeit mit wahrscheinlich weit mehr als 100.000 Teilnehmern.
Polizei macht Stress vorab
Die Berliner Polizei erscheint sichtlich auf Krawall gebürstet, als eine gute Stunde vor Beginn der Auftaktkundgebung am Neptunbrunnen nahe dem Alexanderplatz ein Dutzend Aktivisten auf dem Platz zwischen Fernsehturm und Bahnhof sitzt. Auf die Platten haben sie Hunderte von Namen geschrieben, Menschen haben Blumen darauf niedergelegt. Polizisten stehen im Trupp um sie herum, beschimpfen die Sitzenden, zerren und tragen sie nacheinander zur erkennungsdienstlichen Behandlung weg. Unbeirrt verliest einer der verbliebenen Demonstranten weiter Namen ermordeter Kinder aus Gaza.
Passanten, teilweise auf Bänken sitzend, beobachten die Szene. Einige von ihnen wollen ersichtlich zur Auftaktkundgebung, die wenige Meter hinter dem Fernsehturm demnächst beginnen soll. "Warum seid ihr so aggressiv?", fragt einer, und eine Frau ruft: "Die Leute haben doch Recht!" Ich unterhalte mich mit zwei Beobachtern, und wir werden uns darüber einig, dass unterdrückte Völker zunächst einmal das Recht auf Widerstand gegen unrechtmäßige Besatzung und Vertreibung haben. Die Form des Widerstandes könne man dann gesondert kritisieren ‒ es ändere aber nichts an diesem Recht.
Einige Beamte hören grimmig schauend dem Gespräch zu. Seit einer Weile versuchen sie, die Zuschauer zum Ort der noch nicht begonnenen Versammlung abzudrängen. Viele weigern sich und jemand fragt, ob es schon wieder so weit sei, dass man in Berlin nicht auf einer Bank sitzen dürfe. Auch ich versuche einer Traube Polizisten zu erklären, dass ich hier verabredet bin und warten werde, weil man sich kaum wiederfindet inmitten von Menschenmassen. Sie wollen das nicht akzeptieren und bedrängen mich.
Es ist kein Herankommen an die Uniformierten, und ich rechne schon fest mit meiner Festnahme, als meine Begleiter neben mir auftauchen. Irgendwie beruhigt sich die Situation dann doch, als der Platz hinter dem Turm immer voller wird – so voll, dass man kaum noch durchkommt und am Rande stehend nicht mehr versteht, was vom Lautsprecherwagen verkündet wird. Die Organisatoren sind offenbar nicht auf solche Menschenmassen eingestellt. Ihre Lautsprecher sind so leise, dass die meisten nicht wissen, was los ist.
Massen am Neptunbrunnen
So rätseln bald viele, warum sich der Start des Aufzugs verzögert. Von anderen Teilnehmern erfahre ich, dass die Polizei auch selbst mit Schikanen dafür sorgt. Ich habe viel Zeit, mit Demonstranten zu sprechen. Das Spektrum reicht von linken, sozialistischen und kommunistischen über migrantische Gruppen bis hin zur palästinensischen Gemeinde und dem Verein "Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost", dazu jede Menge regionale Friedensbündnisse und einzelne Antikriegsaktivisten, weißhaarige Alt-68er und neue Studentengruppen. Mir fällt auf: Der genozidale Feldzug in Palästina bewegt ganz viele junge Menschen.
Erst als sich gegen halb vier nachmittags der Protestzug zum Losgehen formiert, bekomme ich, auf einer Bank stehend, einen ersten Eindruck von den Massen, die nicht nur vom Treffpunkt, sondern aus allen möglichen Seitenstraßen herbeiströmen und sich einreihen, während die ersten längst losgegangen sind.
Rote und Palästina-Flaggen sowie die lilafarbenen Fahnen der "Jüdischen Stimme" wehen über dem Menschenmeer, dazu Kufiyas, also Palästinensertücher, und viele Transparente mit Aufschriften wie "Stoppt den Völkermord", "Keine Waffen in Kriegsgebiete" oder "Deutschland ist Mittäter". In den Blöcken werden unterschiedliche Parolen gerufen, von "Free Palestine" über "Hoch die internationale Solidarität" bis "Deutschland finanziert, Israel bombardiert" oder schlicht "Kriegstreiber abtreten". Nach 20 Minuten des Beobachtens reihe auch ich mich ein, ein Ende des Zuges habe ich da immer noch nicht absehen können.
Kilometerlanger Aufzug
Später erfahre ich, dass die Polizei nicht nur versucht haben soll, den Start zu verzögern, sondern auch die letzten Blöcke des Demozuges aufzuhalten, teils abzudrängen. Immer wieder bleibt der Marsch stehen. Von vorn heißt es, die Staatsgewalt stoppe ihn ständig. Als die Mitte des Zuges, in der ich mich befinde, noch nicht in die Straße des 17. Juni direkt am Brandenburger Tor eingebogen ist, verkünden meine Begleiter, dass die ersten Demonstranten bereits am Kundgebungsort, der sogenannten Siegessäule am "Großen Stern", angekommen seien. Die Entfernung vom Tor bis dahin beträgt etwa zwei Kilometer. Sie sagen auch, dass behelmte Polizeitrupps einzelne Teilnehmer herausziehen und in den Großen Tiergarten schleppen und dass andere Beamte Demonstranten abzudrängen versuchen, die ihnen folgen.
Derweil zieht der mittlere Teil der Demo an einer Gruppe von bestenfalls etwa 100 proisraelischen Demonstranten hinter einer Polizeisperre am Lustgarten vorbei. Diese zeigen, wie gewohnt, israelische und US-amerikanische Flaggen. Dabei spielen sie laute Musik ab, die übertönt wird von "Kindermörder-Israel"- und "Free-Palestine"-Rufen. Ich bekomme ein paar verbale Beschimpfungen von beiden Seiten mit. Die Polizei versucht das zu unterbinden – verhält sich dabei aber deutlich weniger rabiat, als man es gewohnt ist. Ich denke, sie wären wohl viel härter vorgegangen, wären es nur ein paar Tausend Teilnehmer gewesen.
Ich steige ein paar Meter entfernt davon auf eine Betonplattform und hoffe, das Ende des Aufzugs sehen zu können. Es gelingt mir nicht. Die Massen erinnern mich an eine Großdemonstration vor zehn Jahren gegen das Freihandelsabkommen TTIP, die in etwa den gleichen Weg nahm. Damals zählte die Polizei etwa 150.000 Teilnehmer, die Veranstalter sprachen von 250.000.
Diesmal spricht die Polizei letztendlich "nur" von "bis zu 60.000 Teilnehmern" ‒ die Veranstalter sagen, es seien "deutlich mehr als 100.000" gewesen. Leitmedien wie die Tagesschau (ARD) übernehmen die Polizeiversion als gesetzt. Aber jedem, der dabei war, dürfte klar sein: Die 60.000 sind auf jeden Fall massiv unterschätzt.
"Siedlerkolonialismus für westliche Interessen"
Schließlich abgebogen in die Straße des 17. Juni wird es schon kurz nach dem Brandenburger Tor schnell enger und immer schwieriger, voranzukommen. Schließlich weiche ich mit einem Begleiter in den ebenfalls von Demonstranten übersäten Tiergarten aus. Wir kämpfen uns auf einem Parallelweg bis zur Bühne an der Siegessäule durch. So hören wir zumindest etwas, aber von der Bühne sehen wir trotzdem nicht viel – es ist unmöglich, durch die dicht gedrängten Massen drumherum hindurch zu gelangen.
Wir hören, wie eine Mitorganisatorin den ellenlangen Katalog mit Polizeiverboten vorträgt und erklärt, was man alles nicht zeigen und aussprechen dürfe, darunter beispielsweise Sympathiebekundungen für irgendeine palästinensische Widerstandsgruppe. Wir hören palästinensische Musik und vernehmen Worte wie "Siedlerkolonialismus" und "westlicher Imperialismus", der den Völkermord finanziere und ermögliche, begleitet von "Alerta, Antifascista"- und "Free-Gaza"-Rufen. Immer wieder skandiert die Menge auch "Hoch die internationale Solidarität". "Israels Völkermord ist der Versuch, die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft von PalästinenserInnen auszulöschen", mahnt wenig später der jüdische Musiker Michael Barenboim zu Beginn seiner Rede, die wir aber nur rudimentär mitbekommen können.
Ich rede derweil im Tiergarten mit einem Palästinenser, der mir sagt, ein großer Teil seiner Familie in Gaza sei bereits getötet worden oder werde vermisst. Er versucht, nicht in Tränen auszubrechen, und spricht ein anderes Thema an: In Deutschland, so meint er, arbeiteten über 4.000 palästinensische Ärzte. Die meisten aus seiner Community seien hochstudiert. "Trotzdem werden wir als weitgehend Staatenlose wie Menschen dritter Klasse behandelt, als wären wir dumm." Dann will er weiter, seine Freunde suchen.
Wir sehen Menschen unterschiedlicher Herkunft, die sich dicht an dicht auf Wiesen niedergelassen haben. Sie reden, manche umarmen sich spontan, beschenken sich mit Obst oder Aufklebern. Als es dunkel wird, ziehen immer mehr Teilnehmer ab, um zum Beispiel mit der maroden Bahn (tägliche Zugausfälle sind an der Tagesordnung) noch nach Hause zu gelangen. Viele sind kaputt und müde, aber auch euphorisch ob der riesigen Demo. Auch wir begeben uns auf den Weg zu unserem Auto.
Medien spulen Polizeimeldungen ab...
Später lese ich mir einige Medienberichte durch. Die Öffentlich-Rechtlichen versuchen sich in distanziertem Abspulen der Polizeimeldungen: 60.000 Teilnehmer, weitgehend friedlich, einige Sachbeschädigungen (wozu sie auch das Aufmalen der Namen getöteter palästinensischer Kinder vor Beginn der Kundgebung am Neptunbrunnen zählte), ein paar "kritische Slogans", circa 30 Freiheitsbeschränkungen und so weiter. Immerhin erfahre ich dort, dass die Polizei eine gesonderte Demonstration mit etwa 1.500 Teilnehmern in Berlin-Kreuzberg (ziemlich brutal, wie mir dann von Beobachtern mitgeteilt wurde) aufgelöst haben soll.
Die nach Selbstverständnis "liberale" Zeit schwadroniert von "verrutschten Tönen", auch die Boulevardblätter des Axel-Springer-Verlags suchen akribisch nach vermeintlich "antisemitischen Ausrufen", die irgendwer irgendwo gehört haben will, aber niemand wohl belegen kann, und trommeln darauf herum.
...und ignorieren jüdische Mitorganisatoren
Erwähnt wird auch das "breite Bündnis" von Organisatoren und Aufrufern, von Amnesty International bis hin zu Medico International und der Linkspartei. Ich denke, das ist sicherlich ein wichtiger Faktor, weshalb die Polizei vergleichsweise zahm geblieben ist.
Ein wichtiger Mitorganisator und Aufrufer wird allerdings, obgleich weithin sichtbar und auf der Bühne vorgestellt, in fast keinem Medienbericht konkret genannt: der Verein "Jüdische Stimme". Darin sind viele "aus Israel vor politischer Verfolgung geflohene Linke und Systemkritiker" organisiert, wie mir eine Frau mit deutlichem Akzent erklärt, die Mitglied der Organisation ist. "Wir sind die unerwünschten Juden in Deutschland", sagt sie. Dem ist wohl nichts hinzuzufügen.
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