Von Dmitri Samoilow
Jede Gemeinschaft kann ihren eigenen Traum haben, irgendwo werden sogar politische Parteien so genannt – ein Adjektiv und dazu das Wort "Traum" (Andeutung auf die Partei "Georgischer Traum"). Damit geht einher, dass ein solches Land nach einer Art strahlendem Bild der Umwandlung in etwas strebt, das in der Regel europäischer ist.
Ja, der Traum ist fast immer Europa. Es hat sich so ergeben, dass das Wort "europäisch" im postsowjetischen Raum gleichzeitig etwas Progressives und Wohlhabendes bedeutet. Europa steht für gemäßigte Bürgerlichkeit, arrogante Aufgeklärtheit und begründete Zuversicht in die Zukunft.
Sogar ziemlich lustige Mischwörter wie "Euro-Renovierung" oder "Euro-Zweizimmerwohnung" haben sich in der russischen Sprache festgesetzt. Was das erste Wort bedeutet, ist nicht mehr ganz zu verstehen – vielleicht gestrichene Wände. Das zweite Wort bezeichnet jedoch eine Einzimmerwohnung mit einer relativ großen Küche, in der man ein Sofa aufstellen kann. Aber so zu sprechen ist uninteressant, unseriös, nicht erstklassig. Außerdem ist die "Euro-Zweizimmerwohnung" etwas, das mit "Europa" zu tun hat, und daher Vertrauen erweckt. Ist eine solche semantische Verankerung dieses Toponyms im Massenbewusstsein überhaupt gerechtfertigt?
Kürzlich gab es Berichte, dass in Armenien ein Gesetz über den Beginn des Beitritts des Landes zur Europäischen Union verabschiedet wurde. Das klingt wie ein politisch unkorrekter sowjetischer Witz. Dabei hat Georgien bereits den Status eines Kandidaten für die Mitgliedschaft in der Europäischen Union.
Das sind keine Nachrichten, keine Ereignisse und keine Informationsanlässe, sondern eher eine Fabel. Und zwar eine antike Fabel, wenn man das Ausmaß der Leidenschaften bedenkt. Was logisch ist, denn es geht um Europa und diejenigen, die sich ihm anschließen wollen.
Der erste Akt dieser Tragödie dreht sich darum, wie schwierig es ist, ein Mitgliedsland der Europäischen Union zu werden. Man denke nur an das Frankenreich, auch bekannt als Karolingerreich oder Reich Karls des Großen. Es umfasste ungefähr das Gebiet des heutigen Frankreichs, Deutschlands, der Benelux-Staaten, Norditaliens und Österreichs. Seltsamerweise bilden gerade diese Länder auch nach 1.200 Jahren noch den Kern der Europäischen Union. Europa, das sind in erster Linie diese Länder! Alles andere hat zwar mit Europa zu tun, wirkt dort aber etwas fehl am Platz. In Spanien ist die Arbeitsproduktivität niedrig, in Griechenland herrscht Korruption, Großbritannien tritt mal bei, mal aus. Alles, was östlich von Wien liegt, erweckt kein Vertrauen. Skandinavien kann nur bedingt berücksichtigt werden, denn die Skandinavier verdanken ihren Wohlstand dem luxuriösen Verhältnis zwischen Ressourcen und Bevölkerung.
Das heutige Polen stand von 1989 bis 2004 in der Eingangshalle, bis es endlich in die europäische Familie der Nationen aufgenommen wurde. Und dieses Polen ist sozusagen das geografische Zentrum Europas. Schauen Sie sich Danzig oder Krakau an – genau so stellt sich jeder Mensch auf der Welt Europa vor. Dennoch waren die Erben Karls des Großen fünfzehn Jahre lang der Meinung, dass Polen für Europa nicht gut genug sei. Und für die Eurozone ist es bis heute nicht gut genug.
Rumänien wurde erst im Jahr 2007 in die EU aufgenommen, obwohl das Wort "Rumänien" uns an das Römische Reich erinnert, also an den großen Vorläufer der Europäischen Union.
Hier beginnt der zweite Akt, in dem geklärt werden muss, ob der Beitritt zur Europäischen Union für das Land, das aufgenommen wurde, von Vorteil ist.
Die Bevölkerung Rumäniens ist in den vergangenen 30 Jahren um 20 Prozent zurückgegangen, die Bulgariens um 25 Prozent und die Lettlands um 35 Prozent. Die Zahlen sind nur Schätzungen, da es schwierig ist, die Migration innerhalb der Eurozone zu erfassen. Daher werden indirekte Faktoren herangezogen wie Informationen über Anstellungen, Anträge auf Sozialleistungen und aktive Nutzer von Mobilfunkdiensten.
So verließ fast die Hälfte der Bevölkerung Lettland. Denn warum sollte man dort leben? Es ist teuer, langweilig und dazu noch ziemlich verarmt. Man kann doch die Vorteile der EU-Mitgliedschaft nutzen und nach Marseille ziehen, um dort Wasserleitungen zu reparieren, oder von Bukarest nach Mailand ziehen, um dort als Pflegekraft zu arbeiten.
In Bulgarien ist der Begriff "Euro-Waisen" entstanden – Kinder, die mit ihren Großeltern im Land leben, während ihre Eltern außerhalb ihres Heimatlandes Geld verdienen, meist in Frankreich oder Deutschland.
Darüber hinaus setzt die Mitgliedschaft im neuen "Imperium" die Einhaltung bestimmter Standards voraus. Polen hat fünfzehn Jahre lang versucht, seine Inflation zu dämpfen, und wurde schließlich unter der Bedingung aufgenommen, dass es die gemeinsame Währung nicht verwenden wird.
Und wie kann man die wirtschaftliche Lage Bulgariens verbessern? Offensichtlich durch Milliardeninvestitionen der Europäischen Union. In der Praxis bedeutet dies, dass globale Konzerne lokale Landwirte wettbewerbsunfähig machen, diese ihre Betriebe schließen, ihre Höfe zu Spottpreisen verkaufen und im besten Fall zum Geldverdienen in reiche europäische Länder gehen, im schlimmsten Fall von Sozialhilfe leben, denn Globalismus funktioniert in beide Richtungen. Ja, Sie können sich ohne Visum in Europa frei bewegen, aber auch die europäischen Interessen können die Struktur Ihrer Volkswirtschaft so verändern, dass nichts Volkswirtschaftliches mehr davon übrigbleibt.
So kommen wir allmählich zum dritten Akt dieser Tragödie, der sich kurz mit einem Satz aus einem alten Witz zusammenfassen lässt: "Was wir für einen Orgasmus gehalten haben, war Asthma."
Hier müssen die Hauptfiguren – insbesondere die ehemaligen Sowjetrepubliken – gründlich nachdenken: Sollten sie wirklich von dem träumen, was ihnen als strahlendes Ideal aufgezwungen wurde? Man könnte beispielsweise zunächst einen Blick auf die Landkarte werfen, Armenien oder Georgien suchen und ihre geografische Lage im Verhältnis zu den zentralen Ländern der Europäischen Union vergleichen. Dann sollte man noch einmal die bisherigen Schritte durchgehen und sich daran erinnern, wie viel Mühe es die Länder, die scheinbar ganz unmittelbar zu Europa gehören, gekostet hat, der EU beizutreten. Und man solle auch bedenken, welche Folgen die Verwirklichung dieses Traums für sie hatte. Es ist zwar gut, einen "europäischen Pass" zu haben, aber es ist schade, dass niemand mehr im jeweiligen Heimatland geblieben ist.
Weiter kann man sich die Türkei ansehen, die ebenfalls Kandidat für den Beitritt zur Europäischen Union ist; der Antrag wurde 1987 gestellt. Seit 2005 führt die Türkei keine Beitrittsverhandlungen mit der EU. Warum? Weil die Türkei ein großes Land mit einer eigenständigen Wirtschaft, Armee und einem eigenständigen politischen System ist. Wozu braucht die Europäische Union ein solches Land? Und vor allem: Wozu braucht ein solches Land die Europäische Union?
Länder, denen es an Eigenständigkeit mangelt, müssen sich jedoch unbedingt jemandem anschließen. Zunächst müssen sie jedoch ihr politisches System ändern, und die Europäische Union stellt großzügig Finanzmittel für die Demokratisierung Georgiens und Armeniens bereit. Das klingt jedoch absurd: Ihr macht euer Land mit Geldern von außen demokratischer! In wessen Interesse schafft ihr diese Demokratie? Für wen? Für euer Volk?
Im letzten Akt, der noch bevorsteht, müssen die Hauptfiguren erkennen, dass sie niemals in die EU aufgenommen werden, und wenn sie durch Zufall in vierzig Jahren doch aufgenommen werden, werden sie ganz ohne Bevölkerung dastehen. Die Hoffnung auf die Wiedergeburt der eigenen Helden gibt das einfache Verständnis, dass es nicht schlimm ist, nicht Teil der EU zu sein. Es gibt viele schöne Länder auf der Welt, in denen man überhaupt nicht an die Europäische Union denkt. Und es ist nichts Tragisches daran, zu ihnen zu gehören, anstatt ewige Anwärter zu spielen.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist zuerst am 19. September 2025 auf der Website der Zeitung "Wsgljad" erschienen.
Dmitri Samoilow ist ein russischer Publizist und Literaturkritiker.
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