Von Susan Bonath
Zwölfstellige Summen sprudeln in den deutschen Rüstungsetat und lassen die Kassen der Großaktionäre expandierender Waffenschmieden wie Rheinmetall klingeln. Dank lukrativer Steuerschlupflöcher explodieren Milliardärsvermögen und Vorstandsboni immer weiter. Doch wer soll das bezahlen? Die Antwort der aus den Reihen der CDU und CSU steht lange fest: die "kleinen" Lohnabhängigen. Schuften bis ins hohe Alter sollen sie gefälligst, nicht murren über miese Löhne und kaputte Knochen, nie arbeitslos und krank werden – und vor allem nie nach oben blicken, sondern einander an die sprichwörtliche Gurgel gehen.
Das Kapital braucht eben seine Sündenböcke, und die kreiert die Politik stets unten, um Sozialkahlschlag zu rechtfertigen. Bürgergeldbezieher und Migranten stehen ohnehin längst auf dieser Liste, nachgerückt sind wahlweise "faule" oder "zu anspruchsvolle" Arbeiter und Rentner. Und diese gingen, so ätzte Bundeskanzler Friedrich (BlackRock) Merz kürzlich, viel zu oft zum Arzt. Er und seine neoliberalen Freunde haben nämlich einen Plan: Kranke sollen blechen, wer das nicht kann, hat eben Pech. Denn die Kassen seien leer.
"Kontaktgebühren" und "Karenztage"
So schlug der Kanzler des Kapitals zu Wochenbeginn auf einer seiner vielen Reden vor seiner Lieblingsklientel, diesmal dem Verband der Maschinenbauer, kräftig auf die lohnabhängige Bevölkerung ein: "Eine Milliarde Arztbesuche in Deutschland pro Jahr (…) sind ein zweifelhafter europäischer Rekord." Unter anderem das Deutsche Ärzteblatt berichtete darüber. So wolle Merz "Anreize" schaffen, um "zu sparen". Damit meint er einen Angriff auf die Lohnfortzahlung bei Krankheit und die Etablierung einer kostenpflichtigen Klassenmedizin, die nur noch bekommt, wer sich das leisten kann.
Dem vorausgegangen waren einschlägige (und bekanntlich immer wieder gern umgesetzte) Vorschläge mächtiger Kapitalgremien. So wirbt der Bundesverband der Deutschen Arbeitgeber (BDA) seit Wochen für die Einführung einer "Kontaktgebühr" bei jedem Arztbesuch. Diese gab es schon einmal unter anderem Namen: Von 2004 bis 2012 mussten gesetzlich Versicherte zehn Euro "Praxisgebühr" für jedes Quartal abdrücken, in dem sie einen Arzt konsultierten. Der BDA will so eine Zuzahlung auf jeden Arztbesuch ausweiten – und stößt in seinen Kreisen auf offene Ohren.
Vor einem Monat warb Jochen Pimpertz vom Institut der deutschen Wirtschaft (IW) überdies dafür, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auszuhöhlen – ein klarer Angriff auf eine lang erkämpfte Errungenschaft. Er forderte, mehrere Karenztage einzuführen, heißt im Klartext: Wenn ein Beschäftigter wegen Krankheit arbeitsunfähig wird, solle das Unternehmen für die ersten Fehltage keinen Lohn oder viel geringere Beträge fortzahlen. Drei Tage Krankheit würden für einen Mindestlöhner dann ein Minus von bis zu 230 Euro netto bedeuten – um Konzerne zu "entlasten".
Großen Zuspruch gibt’s für Merz auch aus den eigenen Parteireihen. Dazu gehört, für viele wohl unerwartet, auch ein aus der Corona-Zeit bekannter Virologe: Hendrik Streeck, nunmehr CDU-Mitglied und Sucht- und Drogenberater der Bundesregierung (ein Blick auf deutsche Großstadtbahnhöfe spricht nicht gerade für seine "Erfolge"). Laut ntv stimmte er Merz vollumfänglich zu und rief nach einer "Eigenbeteiligung" gesetzlich Versicherter bei "überflüssigen Arztbesuchen". Als "überflüssig" gilt danach dann wohl jeder Gang zu Medizinern. Angeblich trage solch eine Gebühr zu einer "gesünderen Lebensführung" bei – was für ein Hohn.
Zu viele Arztbesuche?
Da im Hohen Hause und in großen Wirtschaftsinstituten nun schon viele Wochen darüber debattiert wird, kann man sich denken, dass es wohl ernster werden wird. In Frankreich wären vermutlich längst die Straßen voller Demonstranten, doch in Deutschland bleibt es weiter ruhig. Dabei sind die Folgen absehbar: Beschäftigte, die sich dann mit Infekten zur Arbeit schleppen (und Kollegen anstecken), unversorgte chronisch Kranke, Arme, die ihre Leiden nicht behandeln lassen können, und so weiter.
Nun klingt die populistisch in den Äther geblasene Zahl von einer Milliarde Arztbesuche – gut zehn pro Jahr und Kopf – tatsächlich nach sehr viel. Doch selbst wenn sie stimmen sollte, ist hier ein wenig Kontext zu beleuchten. Zunächst einmal wird die Gesellschaft älter, und wer älter ist, ist meistens weniger gesund und muss somit häufiger zum Arzt. Hinzu kommt, dass Beschäftigte bei jeder Erkältung zum Arzt müssen, wenn sie nicht die gesamte Belegschaft anstecken wollen. Schließlich brauchen sie den "gelben Schein".
Auch gehen ein bis zwei Besuche pro Person und Jahr schon für die Vorsorge beim Zahnarzt drauf. Ansonsten reicht oft schon eine einzige Erkrankung außerhalb der saisonalen Grippe, um locker auf zehn Arztbesuche zu kommen. Erstens muss man für jeden Facharztbesuch zuerst den Hausarzt zwecks Überweisung konsultieren. Zweitens sind Fehldiagnosen gar nicht selten. Wer gravierende Beschwerden hat, rennt oft von Arzt zu Arzt, um überhaupt herauszufinden, woran das liegt.
So gelangt ein Kranker schnell vom Allgemeinmediziner zum Orthopäden, von dort zum Neurologen und landet am Ende vielleicht beim Chirurgen. Zusammen mit Überweisungs- und Nachsorgeterminen, so man überhaupt welche bekommt, ist das von Merz kritisierte Durchschnittsbudget von zehn Besuchen pro Kopf schnell übererfüllt, vor allem, wenn man Zahn- und Kinderarztbesuche hinzuzählt.
Nun stelle man sich vor, für jeden dieser notwendigen Termine würden zehn Euro fällig. Da wäre ein Hunderter dann ruckzuck weg, bei chronisch Kranken und Senioren noch viel mehr. Dazu die ohnehin fällige Zuzahlung für Medikamente und anvisierte Lohneinbußen durch die geforderten "Karenztage": Wer soll das bezahlen? Freuen dürften sich darüber vor allem wohlhabende Privatversicherte: Für diese überschaubare, ohnehin schon privilegierte Gruppe dürfte es zumindest schön leer in den Praxen werden.
Klassenmedizin und Hackordnung nach US-Vorbild
So wird schnell klar, woher der Wind weht. Merz und seine Unionsparteien CDU und CSU trommeln für die Vollendung der Zweiklassenmedizin nach hyperneoliberalem US-Vorbild: alles für Reiche, wenig bis nichts für Ärmere bis in die Mittelschicht hinein, inklusive früherem Ableben Letzterer. Man weiß ja: Dank digitaler Revolution benötigt das Kapital in naher Zukunft ohnehin immer weniger Arbeitskräfte. Und wer dann bettelarm ist, lässt sich vermutlich auch viel leichter vom Kriegsdienst überzeugen.
Ein weiteres kalkuliertes Ziel der Werbeagenten fürs Kapital ist ganz sicher auch Gehorsam. Es ist eine neoliberale Binse, wie man Lohnabhängige am leichtesten dazu bringt: Man kürze Arbeitslosengeld sowie diverse Sozial- und Krankenleistungen, schüre so die Angst vor Arbeitsplatzverlust und unerwarteten Schicksalsschlägen und entfache auf diese Weise Konkurrenz, Neid und Missgunst nach dem Recht des Stärkeren. So sorgt man dann dafür, dass Kollegen ihre Kollegen überwachen und Arbeitsplatzbesitzer nicht in den Konzernetagen und der Politik, im Kreise "fauler" Erwerbsloser ihren Erzfeind wittern.
Merz, der Heuchler
Damit das alles auch gut funktioniert, liefern diverse Medien umfangreiche Propaganda zur Ablenkung. Nicht nur die Springerpresse lobt Merz für seine in Dauerschleife produzierten sozialdarwinistischen Ideen über den grünen Klee. Ein Beispiel der besonderen Art für theatralische Überhöhung lieferte am Mittwoch das liberale Verkündungsorgan für die gehobene Gesellschaft DIE ZEIT. Mit viel Gefühlsduselei trug sie das Boulevardstück "Merz, der Mensch" vor: Ganz ergriffen habe der (gottgleiche?) Kanzler dicke (Krokodils-)Tränen bei der Wiedereröffnung einer Münchner Synagoge vergossen.
Und zack, hatte Merz seinen "Naziopa" (Zitat der taz), der einst für die heute von ihm beweinten Opfer mit gesorgt hatte, beim "Tränenfluss" vergessen – genauso wie die Tausenden ganz aktuell zerbombten kleinen Kinder in Gaza, von irgendeinem Mitgefühl für Arme, Alte, Kranke und sonstige Unterprivilegierte im eigenen Land gleich ganz zu schweigen. Schon vor Jahrzehnten war Merz der Inbegriff für vermögende Nachuntentreter, zum Beispiel, als er 2008 verlangte, Hartz-IV-Bezieher mit 132 Euro verelenden zu lassen.
Ein Schelm, wer denkt, dass ein Artikel über Merz, den Heuchler, angemessener wäre als so ein Propagandastück aus dem Hause des ZEIT-Verlages Brucerius? Wahrer wäre das wohl allemal.
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