Von Gert Ewen Ungar
Anlässlich der Einweihung der Synagoge in München hält Bundeskanzler Friedrich Merz eine Rede. Im Andenken an die Opfer der Shoa bricht der Kanzler in Tränen aus. Ja, der Anlass dazu ist authentisch. "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland", heißt es in der Todesfuge von Paul Celan, in der die nationalsozialistische Judenvernichtung thematisiert wird. Die Erinnerung an die historische Tatsache ist bitter. Und dennoch, der Kanzler ist es in diesem Moment nicht. Ich gebe zu, ich halte die Kanzlertränen für eine gekonnte Inszenierung, für aufrichtig halte ich Merz jedoch nicht.
Ich halte ihn deswegen nicht für aufrichtig, weil er nicht die Bereitschaft zeigt, die notwendigen Lehren aus der deutschen Geschichte zu ziehen. Er fokussiert in seiner Rede auf Judentum und Antisemitismus. Für Antisemitismus sei in Deutschland kein Platz. Er werde sich dafür einsetzen, dass jüdisches Leben in Deutschland möglich ist, bekennt der Kanzler. Dagegen ist nichts einzuwenden. Aber es bleibt aus dem Mund desjenigen, der bereit ist, die schwersten Fehler der deutschen Geschichte zu wiederholen, eine wenig glaubwürdige Floskel.
Deutschland trägt die Verantwortung für den Völkermord an den europäischen Juden. Im Dritten Reich wurden in industriellem Maßstab Menschenleben vernichtet. Wer daraus eine ethische Politik ableiten will, muss glaubhaft gegen Völkermord und Unrecht aufstehen. Genau das tun Merz und die Bundesregierung aber nicht. Deutschland ist völkerrechtlich verpflichtet, Maßnahmen zu ergreifen, die den Völkermord in Gaza verhindern – nicht ein bisschen, sondern ganz. Merz unternimmt in dieser Richtung herzlich wenig. Die Tränen von Merz sind kalt wie Eis.
Eine unabhängige Untersuchungskommission des UNO-Menschenrechtsrats kam zu dem Schluss, dass Israel in Gaza Genozid an den Palästinensern begeht. Vier der fünf UN-Kriterien für Völkermord seien erfüllt. "Gaza brennt" meldet der israelische Verteidigungsminister Katz, und man spürt beim Lesen, dass es ihn mit Stolz erfüllt, den Palästinensern Leid zu bereiten.
Merz verschließt davor nicht nur die Augen, Deutschland verhindert in der EU Sanktionen gegen Israel und liefert weiterhin Waffen. Merz hat die falsche Lehre aus der deutschen Geschichte gezogen. Sie darf nicht lauten: Wir bekennen uns bedingungslos zu Israel. Sie muss lauten: Wir stehen auf gegen Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Deutschland aber ist – im Gegenteil – vor dem IGH aufgrund seiner Waffenlieferung an Israel wegen der Beihilfe zum Völkermord angeklagt. Von Einsicht keine Spur.
Was in Gaza geschieht, wird auch für Deutschland Konsequenzen haben, denn was in Gaza geschieht, wird als Schande der Menschheit in die Geschichte eingehen. Im Gegensatz zu vorherigen Verbrechen ereignet sich dieser Genozid vor den Augen der Weltöffentlichkeit, live, in Echtzeit. Jeder sieht es, jeder weiß, was passiert. Und dennoch wird es nicht verhindert, sondern im Gegenteil relativiert, gedeckt und sogar gefördert. Merz gehört zu den Relativierern und den Förderern. Für Deutschland ist Merz eine Schande.
Aber noch aus einem anderen Grund ist Merz wenig glaubwürdig. Genauso wie Deutschland in Konzentrationslagern Menschen in industriellem Maßstab vernichtet hat, hat es einen Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion geführt. Die Leningrader Blockade war ein Genozid, ebenso wie es die Blockade Gazas ist. Ziel war und ist die Dezimierung der Bevölkerung durch Hunger und Seuchen.
Die deutsche Wehrmacht beging mit ihren Handlangern in der Sowjetunion schwerste Verbrechen und ist für den Tod von 27 Millionen Sowjetbürgern verantwortlich. Ziel war auch, selbst auf dem Rückzug möglichst viele Russen zu töten. Die Lehren, die Merz daraus zieht, lassen sich mit einem Wort zusammenfassen: keine.
Merz will Deutschland zur stärksten Militärmacht in Europa machen, sein Außenminister sieht in Russland den Erzfeind. Das Denken, das zu den Katastrophen des Zwanzigsten Jahrhunderts führte, hat Merz nicht überwunden, er hat es nur ein bisschen verschoben. Zum dritten Mal wiederholt Merz eine politische Strategie, die bereits zweimal ins Desaster geführt hat.
Statt sich der Aufgabe zu stellen, die im 2+4-Vertrag völkerrechtlich verbindlich formuliert ist, und sich für Frieden einzusetzen, setzt Merz auf Militarisierung, lehnt Diplomatie ab und tut alles für den Aufbau des Feindbilds "Russland" im Rahmen der Vorbereitung eines Angriffskriegs.
Merz setzt in der Ukraine klar erkennbar auf eine Verlängerung des Krieges. Dort sterben jeden Tag weit über tausend ukrainische Soldaten. Der Kanzler und seine Minister wollen diesen Zustand nicht beenden, sondern verstetigen. Auch in diesem Zusammenhang zeigt der Kanzler deutlich, dass er die falsche Lehre aus der deutschen Geschichte gezogen hat.
Es ist bitter, aber als Deutscher muss man sich eingestehen: Mit Merz als Kanzler bleibt der Tod ein Meister aus Deutschland. Die Tränen des Kanzlers wirken daher angesichts seines außenpolitischen Handelns wie die Verhöhnung der Opfer deutscher Politik.
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