Wer hat Interesse am Chaos in Nepal?

Das ging schnell. Bereits einen Tag nach dem Rücktritt des nepalesischen Premierministers Oli am 9. Septembers wurde ein gewisser Balendra Shah als einziger potenzieller Nachfolger präsentiert. Überraschenderweise hat er sehr gute Beziehungen zum US-Botschafter in Kathmandu.

Von Rainer Rupp

Der 34-jährige Balendra Shah, der als Jugendlicher schon als erfolgreicher Rapper in ganz Nepal unter seinem Künstlernamen Balen bekannt wurde, gewann im Jahr 2022 als politischer Außenseiter die Bürgermeisterwahl in Kathmandu. Ironischerweise ist er aktiver Unterstützer der "Generation Z" Bewegung, deren Aktivisten in den letzten Tagen aus Protest gegen die Regierung in Kathmandu ganze Ministerien abgefackelt haben. Kein Wunder, dass es für die Generation Z-Bewegung und für die Mächte, die die Proteste der urbanen, westorientierten Jugendlichen für eigene Ziele ausnutzen wollen, nur einen Kandidaten für das Amt des Premierministers gibt, nämlich Balen.

Hoffnung auf Veränderung oder eine politische Fata Morgana?

Balendra Shahs Name steht seit den von der Generation Z angeführten Protesten im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Ausgelöst durch ein umstrittenes Verbot von 26 sozialen Medienplattformen, darunter Facebook, Instagram, YouTube, TikTok und X, folgten die äußerst gewaltsamen Proteste in Nepal einem bekannten Muster der sogenannten "Farb-Revolutionen": Sie entwickelten sich zu einer breiteren Bewegung gegen die mutmaßliche Korruption der Regierung – ein bewährter taktischer Schritt, um eine breitere Wirkung zu erzielen und noch größere Massen zu mobilisieren.

Das bisherige Ergebnis der Gewaltorgien und Brandschatzungen waren mindestens 19 Todesopfer und über 300 Verletzte. Der Rücktritt von Premierminister Oli am 9. September, gepaart mit dem Rücktritt seines Innenministers Ramesh Lekhak, der die Verantwortung für das Verbot der sozialen Medien übernahm, hat ein politisches Führungsvakuum in Nepal geschaffen, das leicht von entschlossenen und skrupellosen "Revolutionären" in Kombination mit Hilfestellung externer Akteure ausgenutzt werden kann.

Die aktuellen Social-Media-Kampagnen der "Generation Z" zeigen Werbeanzeigen wie "Balen For PM (Premierminister)", die den Rapper als einen Führer beschreiben, der "nur zum Wohl des Landes ohne persönliche Interessen arbeitet" und ihn als "Symbol für Veränderung" preisen.

Allerdings ist Balens Weg zum Amt des Premierministers alles andere als gesichert. Nepals politisches System sieht vor, dass der Premierminister vom Präsidenten ernannt wird, in der Regel aus der Führung der Mehrheitspartei oder einer Koalition im Parlament kommt oder, bei fehlender klarer Mehrheit, von jemandem, der die Unterstützung des Parlaments gewinnen kann. Als unabhängiger Bürgermeister ohne Parteizugehörigkeit fehlt Balen allerdings die traditionelle politische Maschinerie, um die komplexen parlamentarischen Dynamiken zu navigieren.

Balens Unterstützungsbasis, obwohl bei der Jugend stark, ist auf nationaler Ebene ungetestet, und sein konfrontativer Stil hat mächtige etablierte Kräfte, einschließlich Olis Kommunistischer Partei Nepals (UML), verärgert. Zugleich will sich Balen keiner der existierenden Parteien anschließen und beschwört immer wieder vehement seine Unabhängigkeit und seine Ablehnung politischer Parteien.

Andererseits könnte Balens Status als Außenseiter und sein Image als Anti-Korruptionspolitiker ihn zu einem starken Symbol für Wandel machen. Nepals Geschichte politischer Instabilitäten – geprägt durch den Sturz des Rana-Regimes, die Abschaffung der Monarchie und maoistische Aufstände – hat in Teilen der Bevölkerung das Misstrauen gegenüber traditionellen Parteien geschürt. Balens Wahlsieg als Bürgermeister 2022, bei dem er gegen gestandene Kandidaten der Nepali Congress und der CPN (UML) Parteien gewann, zeigte seine Fähigkeit, den Status quo zu durchbrechen. Dennoch dämpfen sein Mangel an nationaler Regierungserfahrung und das Fehlen einer formellen Kandidatur die Erwartungen.

Die Interessen der wichtigsten externen Akteure

Indien

An dieser Stelle ist die Frage angebracht: Wer profitiert vom aktuellen Chaos im Land und von Balen als Premierminister? Ganz bestimmt nicht Indien, denn neben seiner prowestlichen Orientierung hält sich Balen auch mit Kritik an Indien nicht zurück. Weitaus schlimmer: Er unterstützt nationalistische "Groß Nepal"-Ansprüche auf Kosten von indischem Staatsgebiet. Im Jahr 2023 platzierte er in seinem Büro eine Landkarte von "Groß Nepal", die in Indien Empörung auslöste, weil darauf Balens territoriale Ansprüche auf indisches Staatsgebiet mit Teilen von Uttarakhand und Himachal Pradesh deutlich wurden.

Während Balen in westlichen, vor allem US-Medien als liberaler Freigeist präsentiert wird, hat der Rapper und aktuelle Bürgermeister von Kathmandu mit dem Verweis auf kulturelle und politische Bedenken auch das Zeigen indischer Filme in den Kinos der Hauptstadt des Landes verboten. Dass die Beziehungen zu Indien durch derartige Aktionen weiter belastet wurden, ist selbstredend. Derartige Aktionen unterstreichen nicht gerade seine Fähigkeit als zukünftiger Premierminister, das delikate geopolitische Gleichgewicht Nepals zu erhalten.

China

Bis zu den jüngsten Unruhen hatte Nepals gute und immer enger werdende Beziehungen zu China. Das dürfte Washington ein Dorn im Auge sein. Denn Nepal ist auch ein Dialogpartner in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), und Premierminister Oli nahm erst kürzlich am SCO-Gipfel 2025 in Tianjin teil. China ist auch Nepals größte Quelle für ausländische Direktinvestitionen.

Nepal trat bereits 2017 der chinesischen Initiative "Neue Seidenstraße" (Belt and Road Initiative) bei. Zu den Schlüsselprojekten gehören die internationalen Flughäfen Pokhara und Gautam Buddha, die mit chinesischer Finanzierung gebaut wurden, sowie die grenzüberschreitende Bahnverbindung Kathmandu–Lhasa, die Teil des Trans-Himalayan Multi-Dimensional Connectivity Network ist, das Nepal direkt mit dem chinesischen Bahnsystem verbinden wird. China investiert stark in Wasserkraft (entscheidend für Nepals Energiebedarf) und Telekommunikation, wobei chinesische Unternehmen wie Huawei 5G-Netze ausbauen.

Vor diesem Hintergrund kann die Schlussfolgerung nur lauten, dass angesichts der Pufferlage Nepals zwischen China und Indien keines der beiden Länder an Chaos und Destabilisierung in Kathmandu interessiert ist. Vielmehr dürfte die Aufrechterhaltung des Status quo in Nepal für alle regionalen Akteure von großem Interesse sein, wobei die Betonung auf "regionalen Akteuren" liegt!

USA

Der nichtregionale Akteur USA hingegen hat eine lange Geschichte, in der er mit sogenannten "Farb-Revolutionen" Chaos in ganzen Weltregionen gesät hat. Nepals strategische Lage macht das Land zu einem potenziellen Druckpunkt in der Rivalität zwischen den USA und China. Eine prowestliche oder weniger China-freundliche Regierung könnte die Expansion der BRI einschränken und Nepals Ambitionen in der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) bremsen. Außerdem haben die USA Programme in Nepal finanziert (z. B. USAID, ein 500-Millionen-Dollar-Zuschuss der Millennium Challenge Corporation), um dem chinesischen Einfluss entgegenzuwirken. Zudem sind Hunderte westlicher NGOs im Land aktiv.

In der Vergangenheit war USAID für die Organisation und Finanzierung von Farbenrevolutionen und anderen Arten von US-Regimechange-Operationen in fremden Ländern verantwortlich, entweder direkt oder indirekt über NGOs. Nun wird von interessierter Seite allerdings argumentiert, dass Präsident Trump USAID geschlossen hat. Formal stimmt das zwar, aber es stimmt auch, dass ein Teil der USAID-Aktivitäten ins US-Außenministerium (State Department) hinüber "gerettet" wurde mit der Erklärung, dass dadurch die nun in State Department verankerten restlichen USAID-Funktionen mit der US-Außenpolitik besser, nämlich direkter verknüpft werden können.

Vom Rapper zum Bürgermeister Kathmandus und jetzt zum Premier Minister?

Hier ist die Frage angebracht, ob Balen wenigstens organisatorisch das Zeug für die Führung seines Landes hat. Ein Blick auf seine Erfolge, bzw. Misserfolge als Bürgermeister der Landeshauptstadt kann uns dazu einen Eindruck vermitteln.

Balen wurde am 27. April 1990 in Kathmandu in einer buddhistischen Familie, als Sohn eines ayurvedischen Heilpraktikers geboren und wuchs inmitten der kulturellen und sozialen Umbrüche der Stadt auf. Er besuchte eine höhere Sekundarschule und erwarb einen Bachelor-Abschluss im Bauingenieurwesen. Bereits in jungen Jahren avancierte er zum erfolgreichen Rapper, einer US-amerikanischen Untergrund-Musikrichtung, in welcher unter anderem auch die Verherrlichung des Gangstertums (Gangster-Rap) ihren Ausdruck fand.

Im Jahr 2022 kandidierte Balen als unabhängiger Kandidat für die Bürgermeisterwahl in Kathmandu und setzte sich dabei gegen die beiden, die Stadt dominierenden Parteien (Nepali Congress und der CPN (UML) durch. Seine Wahlkampagne konzentrierte sich auf Stadtentwicklung, Antikorruption, Abfallwirtschaft, Verkehrskontrolle und den Erhalt der Kultur.

Seit seinem Amtsantritt regiert Balen mit einem direkten, konfrontativen Stil, z. B. ließ er die in der Stadt illegal errichteten, ärmlichen Häuser und Hütten abreißen, wodurch Tausende Familien obdachlos wurden und in der Regel wieder zu Verwandten zurück in die Dörfer zogen. Mit dieser "Säuberung" der Stadt erntete Balen bei Teilen der Oberschicht Bewunderung und in der Unterschicht scharfe Kritik.

Viel Kritik von Organisationen wie Human Rights Watch bekam Balen auch für seine unverhältnismäßige Gewalt gegen Straßenverkäufer, die er aus dem Stadtbild vertreiben wollte. Videos zeigten, wie die Stadtpolizei die Verkäufer verfolgt, verprügelt und ihr Eigentum beschlagnahmt. Dass sich solche Maßnahmen negativ auf den Lebensstandard der städtischen Armen auswirkten, steht außer Frage. Denn fast die Hälfte der nationalen Wirtschaft des Landes hängt von informellen Geschäften ab.

Balen wollte also einen für viele arme Menschen überlebenswichtigen Wirtschaftszweig verbieten, ohne praktikable alternative Lösungen anzubieten. Die Überwindung der Massenarmut in der Bevölkerung scheint ohnehin bei dem neoliberal agierenden Balen ganz unten auf der Prioritätenliste zu stehen. Aber wie steht es um seine organisatorischen Fähigkeiten?

Selbst seine im Wahlkampf deklamierten Prioritäten konnte der Chaot Balen nicht umsetzen. Seine Initiativen zur Abfallwirtschaft, ein zentrales Wahlversprechen, sind schon zu Beginn seiner Amtszeit ins Stocken geraten. Die Arbeiter der Müllabfuhr wurden nicht bezahlt und haben aufgehört zu arbeiten, und Kathmandu erstickt anscheinend weiter im Müll.

Auch Balens Bemühungen, die Folgen der jüngsten Überschwemmungen in Kathmandu zu beseitigen, wurden als total unorganisiert kritisiert. Balen war offensichtlich sogar unfähig, sein Lieblingsprojekt umzusetzen, nämlich seine ambitionierten Pläne für die Internationalisierung von Festen sowie die Umwandlung Kathmandus in eine "24-Stunden-Stadt".

Diese Defizite werfen Zweifel an Balens Kompetenz auf, den wesentlich komplexeren Herausforderungen eines Premierministers von Nepal gewachsen zu sein. Das aber scheint die urbane TikTok-Jugend nicht zu interessieren. Ihnen scheint auch nicht der Gedanke zu kommen, dass ihre Proteste von externen Akteuren instrumentalisiert werden, für Ziele, die nicht im Interesse Nepals und seiner Bevölkerung liegen.

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