Von Wladislaw Sankin
In Stalingrad wurde während des Zweiten Weltkriegs ein Weltrekord in der Massenvernichtung und -vertreibung der Zivilbevölkerung aufgestellt, und über die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölkerung streiten Historiker bis heute. Von den 600.000 bis 700.000 Menschen, die sich zu Beginn der Kämpfe in der Stadt aufgehalten hatten (viele davon Kriegsflüchtlinge aus den Westgebieten), sind im Februar nur 30.000 geblieben.
Den größten Beitrag zu diesem Generalverbrechen "leistete" die beispiellose Bombardierung der Stadt am 23. August – sie setzte sich auch in den nächsten Tagen fort und war hauptsächlich gegen die Zivilbevölkerung gerichtet.
1.000 Tonnen des abgeworfenen Spreng- und Brandstoffs verwandelten den größten Teil der Stadt in ein derartiges Inferno, dass sogar die Wolga wegen der ausgebombten Öltanks in eine "brennende Schlange" verwandelt wurde. 42.700 Menschen wurden allein an einem Tag Opfer des Angriffs. Insgesamt starben während der Schlacht 131.000 Zivilisten infolge der Artillerie- und Bombenangriffe. Zehntausende wurden in die Zwangsarbeit deportiert, Tausende während der Besatzung getötet. Insgesamt verlor Stalingrad infolge des deutschen Vernichtungsfeldzuges mehr als die Hälfte seiner ca. halben Million Einwohner vor dem Krieg.
Für den Wiederaufbau kamen Hundetausende Menschen aus der ganzen Sowjetunion und besiedelten die Stadt neu. Stalingrad wurde zum "Melting Pot" des Landes. Der Autor dieser Zeilen ist ein Nachfahre der Generation der Zuzügler. Wie fast bei jedem im Land waren meine Vorfahren unmittelbar oder aus der Ferne an dem Krieg beteiligt. Meine Großmutter, aus dem Gebiet zwischen Wolga und Don stammend, konnte sich mit ihrer Familie in die Evakuierung retten und sah nach der Rückkehr die schlimmsten Zerstörungen. Die anderen zogen aus verschiedenen Regionen im Hinterland zu.
Auch in dieser Zusammensetzung der Wiederaufbaugeneration bin ich ein typisches Kind Stalingrads, das heute an diesen unglaublich grausamen Angriff der Deutschen erinnert. Richtig, Stalingrads, denn am 23. August wie auch am 9. Mai und dem 2. Februar, an dem die Schlacht endete, wird Wolgograd in Stalingrad unbenannt. An diesem Tag werden wir alle Stalingrader, denn die Erinnerung an die Opfer dieses beispiellos grausamen Angriffs ist uns heilig.
Und welche Gefühle müssen wir haben, wenn wir an diesem ehrwürdigen Tag des Erinnerns lesen, dass das Wort Stalingrad bei jemandem in Deutschland "ungute Gefühle" hervorrufe, wie etwa bei der Rheinischen Post? Ein liberaler Rabbiner, der sich laut Zeitungsauskunft um den interreligiösen Dialog kümmert, schreibt im Hinblick auf den sogenannten Hitler-Stalin-Pakt, der sich an diesem Tag auch jährt, solange in Luxemburg ein Platz nach Stalingrad benannt sei, wolle er ihn nicht als Ehrung verstehen. Eine "Aufforderung, nach Wahrheiten zu suchen: die Schrecken des Krieges, die Opfer von Hitler und Stalin – und ihr Echo in unserer Gegenwart", wäre ihm lieber.
So als ob die Hunderttausenden Einwohner Stalingrads und dessen Verteidiger, die durch ihre Standhaftigkeit die Wende im Krieg gegen den Menschenfeind Faschismus ermöglichten, etwa keine "Opfer von Hitler" wären. Ja, der Text des liberalen Rabbiners zeigt uns, wie schwülstige Reden über gleich schlimme Tyrannen die wichtigste Warnung aus dem Zweiten Weltkrieg vernebeln – die vor dem Aufkommen des Nazismus.
Im heutigen Deutschland denkt am 23. August niemand an Stalingrad, was auch an der Schulbildung in Westdeutschland liegt, die das Leiden der Sowjetbevölkerung durch deutsche Angriffstruppen und ihre Helfershelfer systematisch ausklammerte. Man denkt nun sogar an diesem Tag vielmehr an Josef Stalin, was ein Bild der Caritas Büren dazu mit einem größeren Stalin als Hitler bildlich darstellt. Und das war der Sinn und Zweck dieses Gedenkens, den Blick Europas an die echten und vermeintliche Opfer Stalins zu richten und die Sowjetunion und damit auch Russland zu dämonisieren.
Wir erinnern uns, wie dieser "23. August" zustande kam: Mit großer Mehrheit nahm das Europäische Parlament am 4. April 2009 eine Entschließung "zum Gewissen Europas und zum Totalitarismus" an. Damit wurde der 23. August zum "Europäischen Tag des Gedenkens an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus/Tag zum Hitler-Stalin-Pakt".
Denn am 23. August 1939 wurde das Ribbentrop-Molotow-Abkommen unterzeichnet, das im Duktus der Verfasser Osteuropa zwischen der sowjetischen und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft aufteilte und den Weg zum deutschen Überfall auf Polen am 1. September 1939 ebnete. Der Tag zum "Hitler-Stalin-Pakt" solle demnach an alle Opfer totalitärer europäischer Diktaturen im 20. Jahrhundert erinnern. Schweden (das etwa von keinen "totalitären" Truppen besetzt war!) sowie die ostmittel- und südeuropäischen Staaten haben das Datum in ihren nationalen Gedenkkalender aufgenommen.
Das Molotow-Ribbentropp-Abkommen, auch Nichtangriffspakt genannt – eines von vielen dieser Art in der Vorkriegszeit – hat es ermöglicht, an der Grenze der Sowjetunion durch einige Gebiete des Zarenreiches plus Ostgalizien, das lange zu Österreich-Ungarn gehörte, eine zusätzliche Pufferzone auf dem Weg des künftigen Aggressors zu schaffen. Ohne diese Zone hätte die Sowjetunion den Krieg womöglich nicht mehr gewinnen können. Andernfalls wäre der Sieg durch weitere, noch schlimmere Opfer errungen worden. Das Abkommen war aus Moskauer Sicht aus strategischen Sicherheitsgedanken erwachsen.
Heute werden in Europa die Sicherheitsinteressen Russlands genauso ignoriert und nicht zur Kenntnis genommen, wie dies rückblickend für die Sowjetunion zur Zeit Stalins gilt. Einer der Grundsteine des Ukraine-Krieges, der bei der Fortsetzung der heutigen Politik ganz Europa in seinen Sog ziehen kann, wurde am 4. April 2009 mit dieser Resolution gelegt, die – der Zahl der Erwähnungen in deren Text folgend – weniger gegen den Nazismus als gegen den Kommunismus und Moskau gerichtet war.
Vor jedem Krieg findet eine Revision der Geschichte statt. Wer am 23. August nicht an die 42.700 Opfer von Stalingrad denkt, sondern oberflächlichen Propaganda-Narrativen über die "gleiche Schuld" der beiden Diktaturen zur Ursache des Zweiten Weltkriegs nachplappert, spielt Bellizisten und Kriegstreibern von heute in die Hände. Leider verstehen das in Europa nur wenige. Geht es so weiter, werden Propaganda und kognitive Kriegsführung die Menschen in Europa endgültig "kriegstüchtig" machen.
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