Der Auschwitz-Prozess und die kurze Öffnung der BRD

Noch Jahre nach diesem Prozess waren sie überall in der BRD zu finden, die ehemaligen Nazigrößen und -helfer, aber ohne dieses eine große Verfahren hätte man sich im Westen nie ernsthaft mit den Naziverbrechen beschäftigt.

Von Dagmar Henn

Für uns BRD-Nachgeborene lag die Zeit vor diesem Prozess immer wie hinter einer dunklen Tür verschlossen, jene beinahe zwanzig Jahre, in denen in den Westzonen und dann in der Bundesrepublik so getan wurde, als sei zwischen 1933 und 1945 nichts Wesentliches geschehen. Als die Ausage "Davon haben wir nichts gewusst" noch unangefochten Bestand hatte und die Wahrnehmung der Verbrechen des Nazismus weitgehend auf Täter und Opfer beschränkt war.

Die Bundesrepublik, wie ich sie kannte, begann danach. Denn der Auschwitz-Prozess, der am 20. August 1965 endete, leitete eine längere Phase des Erwachens ein, in der über all die braunen Kader gesprochen wurde, die in Regierungen und Verwaltungen saßen, und in der es endlich keine Karrierevorteile mehr verschaffte, der braunen Brut getreu gedient zu haben.

Wenn heute darüber berichtet wird, wird gerne umgangen, dass es eine klare Entscheidung des Westens war, möglichst schnell Gras über den Naziverbrechen wachsen zu lassen. "Der deutschen Nachkriegsgesellschaft fehlten lange die Worte, um sich der Verantwortung für die eigene NS-Geschichte zu stellen", schreibt etwa die Tagesschau in ihrem Artikel zum Jubiläum des Frankfurter Urteils. Das ist nicht wahr. Man hatte nur sehr schnell umgeschwenkt und den alten Feind zum neuen gemacht, wieder aufgerüstet und die KPD verboten. Es war kein Zufall, dass im Innenministerium unter Konrad Adenauer mehr NSDAP-Mitglieder saßen als unter Hitler, sondern das Ergebnis des berüchtigten Artikel 131 Grundgesetz, der allen Nazibeamten einen Anspruch auf eine Beschäftigung gab, die ihrem Dienstrang entsprach, während zum selben Zeitpunkt, 1951, alle kommunistischer Sympathien Verdächtigen (die teils in den ersten Monaten auch im Westen von den Besatzungsmächten eingestellt worden waren) aus dem Staatsdienst entfernt wurden.

Fritz Bauer, der hessische Staatsanwalt, dem es gelungen ist, einen (kleinen) Teil der Täter von Auschwitz in der Bundesrepublik vor Gericht zu stellen, ist einer der demokratischen Helden der bundesdeutschen Geschichte. Denn der Justizapparat, in dem er arbeitete, widersetzte sich diesem Ansinnen nach Kräften. Bauer fand wenig Unterstützung in der BRD; dass es ihm dennoch gelang, das Verfahren zu beginnen, war auch Ergebnis der Unterstützung, die er stattdessen aus dem anderen deutschen Staat erhielt. Er ging ein hohes persönliches Risiko ein, das den damaligen Eliten sehr genehme Schweigen zu durchbrechen. Es war dieser Mut, der es der dann heranwachsenden Generation ermöglichte, im Wissen um die historische Wahrheit aufzuwachsen und auch in den Familien die Frage aufzuwerfen: Was habt ihr getan? Was habt ihr gewusst?

Es gibt einen Moment, an dem in den erhaltenen Tonbandaufnahmen des Prozesses erkennbar wird, wie bizarr die Welt hinter jener dunklen Tür gewesen sein muss, beim Auftritt des DDR-Historikers Jürgen Kuczynski, der eigentlich als Gutachter zur "Verflechtung der wirtschaftlichen Unternehmen mit der Leitung der Konzentrationslager" sprechen sollte. Die Verteidiger sprachen ihm jede Glaubwürdigkeit ab, da er Marxist sei; die Richter widerstreben zuerst, brechen aber letztendlich seinen Vortrag ab. Kuczynski war ein herausragender Wirtschaftshistoriker, der seine Forschungsrichtung in der DDR prägte; aber in der Bundesrepublik des Jahres 1964 war es noch nicht möglich, seine Qualifikation anzuerkennen (so, wie es in der Bundesrepublik der Jahre nach 1989 wieder nicht ist). Dieser kleine Ausschnitt des Prozesses, der 183 Verhandlungstage zwischen Januar 1964 und August 1965 in Anspruch nahm, zeigt nur, dass in der ganzen bundesdeutschen Geschichte die Wahrnehmung der Naziverbrechen und der Antikommunismus zwei einander entgegengesetzte Kräfte waren – und bis heute sind.

Dem Prozess in Frankfurt (und damit Bauer) gelang es, das Schweigen zu durchbrechen und ins Bewusstsein dringen zu lassen, wie ungeheuer die Tötungsmaschine gewesen war, deren Teil Auschwitz war. Es gab auch zuvor Literatur, die zumindest das Lagersystem beschrieb, wie Eugen Kogons "Der SS-Staat", das 1946 erschien, oder, als erste Literatur über die KZs der Nazis überhaupt, "Im Mörderlager Dachau" von Hanns Beimler, der als kommunistischer Landtagsabgeordneter in Dachau gefangen gehalten wurde und von dort flüchten konnte – eine Geschichte, die wiederum Anna Seghers' Roman "Das siebte Kreuz" zugrunde liegt, den sie 1939 im Exil veröffentlichte und der 1944 von Fred Zinnemann mit Spencer Tracy in der Hauptrolle verfilmt wurde ... Aber nichts davon näherte sich dem absoluten Grauen so sehr wie die Details über Auschwitz.

Johannes R. Becher, in der BRD gerne als "DDR-Staatsdichter" bezeichnet, unter anderem, weil er den Text der Hymne schrieb, verfasste 1945 ein Gedicht, das "Kinderschuhe aus Lublin" heißt. Bekannt ist der Ort, um den es dabei geht, unter der Bezeichnung, die das dortige Vernichtungslager trug: Maidanek. Wenn man im Netz nach diesem Gedicht sucht, findet man eine kleine Broschüre aus Dresden, veröffentlicht 1945, mit dem Titel "Tatsachen klagen an! Berichte der Überlebenden". Als Einleitung, vor Zeugenberichten und letztlich auch Bechers Gedicht, findet sich ein Vorwort der ehemaligen Häftlinge:

"Die Welle der organisierten Barbarei hat euer Denken und euer Handeln gelähmt. Ihr habt es gewusst, ihr habt es zumindest geahnt, dass um euch herum schreckliche Verbrechen geschahen. Ihr habt dazu geschwiegen. (...) Wir haben in der Zeit unseres Kampfes und unserer Leiden nach Menschen gesucht, doch wir fanden nur Untertanen. (...) Wir erwarten von euch, angesichts der Opfer, die gebracht werden mussten, dass ihr offen und klar eure Mitschuld erkennt und dass ihr die einzige mögliche Schlussfolgerung daraus zieht. (...) Lasst uns einem besseren Lieben und einer besseren Zukunft dienen!"

Auf diesen 40 Seiten steht genug; aber das war eben Literatur, wie sie im Westen schon sehr früh nicht erwünscht war. Und im Kalten Krieg erwies es sich als praktisch, dass die Akten über die schlimmsten Vernichtungslager wie die Lager selbst zu großen Teilen auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs lagen. Allein die Zeugen zu finden, in Polen, in Österreich, in Deutschland, in Griechenland, Frankreich, der Tschechoslowakei, in Israel ... Viele Jahre, ehe Techniken wie das Internet die Suche nach Personen und grenzüberschreitende Kontakte erleichterten, war eine ungeheure Leistung Bauers.

Und die Vorgabe war sehr eng. Denn obwohl die SS im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zur verbrecherischen Organisation erklärt wurde, hatte das keine strafrechtlichen Konsequenzen für die Mitglieder (die US-Soldaten haben allerdings in den ersten Wochen jeden, der die Blutgruppentätowierung der SS trug, auf der Stelle erschossen). Für jeden einzelnen Angeklagten musste eine konkrete Tat nachgewiesen werden; Teil der mörderischen Maschine zu sein, genügte erst ab 2016, als die Mehrheit der Täter längst verstorben war. Dabei war Paragraf 129, die kriminelle Vereinigung, bereits seit 1872 Bestandteil des Strafgesetzbuches, und in anderen Zusammenhängen besaß die Bundesrepublik weder Hemmungen, diesen Paragrafen zu nutzen, noch, ihn durch einen 129a und einen 129b zu ergänzen, als es politisch opportun schien. Einzig die größte kriminelle Vereinigung, die es in der deutschen Geschichte jemals gegeben hat, die SS, wurde nie nach diesem Paragrafen verfolgt.

Ja, selbst die Tagesschau vermerkt: "Juristisch war der Auschwitz-Prozess wenig erfolgreich. Zwar wurden 16 Angeklagte verurteilt und es gab auch Folge-Prozesse. Aber die große Mehrheit der SS-Täter von Auschwitz – mehr als 8.000 Mann zählte die Wachmannschaft – mussten sich für ihre Verbrechen nie vor Gericht verantworten."

So wie alle die anderen, in Maidanek, in Buchenwald, in Sobibor, in Dachau, wo das Lagersystem entwickelt wurde. Doch ohne den Auschwitz-Prozess hätte das Schweigen angehalten und die kurze demokratische Blüte der Bundesrepublik nie stattgefunden. Was man heute aber schmerzlich zu spüren bekommt, ist, dass dann letzten Endes dieses Buch wieder zugeklappt wurde, als das Kapitel Holocaust gelesen war, obwohl es danach hätte weitergehen müssen. Ein wenig davon tauchte auf, als aus Griechenland während der Eurokrise mal wieder an die Verbrechen erinnert wurde, die dort begangen worden waren, aber trotz der Wehrmachtsausstellung, die nach 1995 durch Deutschland tourte und viel Material zum Krieg der Wehrmacht im Osten enthielt, wurde dieser Teil der Naziverbrechen nicht in die Wahrnehmung integriert, geschweige denn, als Verpflichtung für die Zukunft gedeutet, obwohl es auch hier um systematische Verbrechen ging und die Zahl der Opfer in die Millionen ging.

Übrigens, gegenüber den politischen Häftlingen, die immerhin als Erste die Konzentrationslager füllen durften, gab es in der Bundesrepublik nie so etwas wie ein Schuldgefühl, oder eine Verpflichtung. Das wäre auch zu kompliziert geworden, als dann in den 1950er-Jahren die ehemaligen Häftlinge wieder Besuch von denselben Polizisten erhielten oder wieder vor denselben Richtern standen, mit denen sie es während der Naziherrschaft bereits zu tun gehabt hatten.

Staatsanwalt Bauer wurde selbst 1933 als Sozialdemokrat im KZ inhaftiert und verbrachte später Jahre im Exil und in Verstecken. Er wurde 1949 Landgerichtsdirektor in Braunschweig, vermutlich, weil er 1933 bereits Landgerichtsrat und nachweislich unbelastet war. Sein Einsatz bei der Strafverfolgung von Nazitätern, der im Auschwitz-Prozess gipfelte, beruhte auch darauf, dass er genau wusste, womit er es zu tun hatte. Er blieb bis zu seinem Tod am 1. Juli 1968 hessischer Generalstaatsanwalt; die Umstände seines Todes wurden nie völlig geklärt. Allerdings hat er mit seinem Handeln genug Reichen und Mächtigen auf die Zehen getreten, als dass ein Mord alles andere als unvorstellbar ist, und sei es aus Rache.

"Wenn ich mein Büro verlasse, betrete ich Feindesland", hat er die Umstände seiner Arbeit einmal beschrieben. Der Prozess war ein Sieg über diese Feinde und für das jüngere Publikum ein Lernprozess, der eine Zeit lang mehr Menschlichkeit ermöglichte. Heute weckt es Sehnsucht, an diesen Prozess und seine Folgen zurückzudenken, der das Schrecklichste benannte, um Anstand und Normalität Raum zu schaffen. Denn ein Satz Bauers ist auch für unsere Gegenwart eine treffende Beschreibung der anstehenden Aufgaben:

"Wir können aus der Erde keinen Himmel machen, aber jeder von uns kann etwas tun, dass sie nicht zur Hölle wird."

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