Propaganda: Wie der Donbass plötzlich superwichtig wird

Auf einmal heißt es in der deutschen Presse, ohne den Donbass könne die Ukraine nicht leben. Aber natürlich geht es nur um das Gebiet. Um die Menschen ging es nie. Die wollte Berlin immer so sehr loswerden wie Kiew. Sonst wäre die Geschichte anders verlaufen.

Von Dagmar Henn

Wenn man die Berichterstattung der deutschen Medien im Jahr 2014 noch im Ohr hat, dann wirkt es sehr eigenartig, wie auf einmal über den Donbass geschrieben wurde. Ja, das war schon immer eine Gegend, die sehr viel mit dem deutschen Ruhrgebiet gemein hatte, von der Allgegenwart von Kohle und Stahl über die ineinander verschmolzenen Städte bis hin zur Mentalität der Bewohner. Aber plötzlich, und nur, weil gerade auch in der EU zumindest die Möglichkeit nicht mehr verleugnet werden kann, dass der Donbass komplett aus der Ukraine ausscheidet, wird diese Region bedeutend und geradezu unverzichtbar, wenn man den Meldungen glauben soll.

Damals, als sich die Donbassbewohner gegen den Maidan-Putsch in Kiew stemmten, klang das ganz anders. Da waren das die Modernisierungsverlierer, die der Sowjetunion nachtrauerten, die Watniks, also die Träger wattierter Jacken, wie sie in der Roten Armee einst üblich waren, oder, wenn man auf die ukrainischen Seiten blickte, gar die Kartoffelkäfer, nach den orange-schwarzen Streifen der Georgsbänder. Es gab im Frühjahr 2014 einen Artikel der ZDF-Journalistin Katrin Eigendorf (der leider nicht mehr online verfügbar ist, weil solche Texte nur ein Jahr lang online bleiben), den könnte man in Journalistenschulen als Musterbeispiel des Klassendünkels verwerten. Eigendorf, die Hamburger Tochter aus besserem Hause, lästerte völlig ungehemmt über die ihrer Meinung nach ungebildeten, rückständigen, schmutzigen und alkoholisierten Proleten des Donbass, die nun einmal die vornehmere europäische Freiheit in Kiew nicht verstünden. Aber eigentlich, so der Tonfall nicht nur bei Eigendorf, könne die Ukraine froh sein, diese Proleten loszuwerden.

Als dann die Demonstrationen begannen ‒ im März, große Demonstrationen übrigens, nicht nur in Donezk oder Lugansk oder Mariupol, auch in Charkow ‒ und eine föderale Verfassung für die Ukraine gefordert wurde, war jedenfalls die Reaktion eine völlig andere als auf den Maidan. Immerhin, die Krim war schließlich schon dabei, die Ukraine zu verlassen, und führte Ende März ein entsprechendes Referendum durch. Im Donbass griffen die Demonstranten Anfang April zu einem Mittel, das in genau dieser Weise wenige Monate zuvor von der Gegenseite in der West- und Zentralukraine eingesetzt worden war: Sie besetzten Verwaltungsgebäude. Sogar die Anleitungen, wie man Barrikaden baut, waren identisch ‒ auch hier wurden Altreifen per LKW herangekarrt, zu Barrieren aufgeschichtet, mit Baustahl stabilisiert und bei Bedarf mit Molotow-Cocktails in Brand gesetzt. Nur berichtet wurde darüber in Deutschland ganz anders.

Während die Proteste in Kiew selbst dann noch als "friedlich" verkauft wurden, als mit einer ziemlich bösartigen Version des Molotow-Cocktails aus aufgelöstem Styropor und Alkohol Polizisten in Brand gesetzt wurden (das Zeug wirkt wie Napalm), waren die Besetzer in Donezk und Lugansk sofort gleichzeitig Terroristen und russische Agenten. Schließlich: Von den Großdemonstrationen zuvor wurde nicht berichtet, für das Publikum im Westen hatten sie nicht stattgefunden. Ebenso wenig wie Vorfälle wie der Überfall des Rechten Sektors auf eine dieser Demonstrationen in Charkow, mit Schusswaffen. Was dann selbstverständlich nach dem 2. Mai 2014 in Odessa weiterging, mit dem Schweigen über das Massaker, das die ukrainische Nationalgarde am 9. Mai in Mariupol anrichtete ‒ mit einer Ausnahme: Zwei westliche Reporter waren an diesem Tag vor Ort. Einer vom britischen ITV und einer vom deutschen RTL. Beide berichteten, aber beide Berichte verschwanden sehr schnell wieder aus dem Angebot...

Am 11. Mai gab es dann zwei Referenden, in Donezk und in Lugansk, mit beeindruckender Beteiligung. Schon vor diesen Referenden wurde mit allen Mitteln versucht, die Durchführung zu behindern ‒ bis hin zur Entführung und Ermordung von Organisatoren. Ende Mai schließlich tobte endgültig ein Bürgerkrieg, und Hubschrauber und Flugzeuge der ukrainischen Armee flogen Luftangriffe, nicht nur auf Stellungen der Milizen, sondern auch auf Straßenkreuzungen in Donezk. Ich sehe immer noch das Bild eines getroffenen Autos vor mir, das quer auf der mehrspurigen Straße zum Flughafen steht ‒ erste zufällige Opfer willkürlicher Gewalt.

Nichts, wirklich nichts davon war für die deutsche Berichterstattung relevant. Stattdessen wurden Geschichten über die russische Armee gesponnen, die über die Grenze hinweg die "Separatisten" unterstützt hätte. Ein Ton, der bereits im Zusammenhang mit der Krim eingeführt worden war, wo so getan wurde, als seien die völlig legal dort stationierten russischen Soldaten völlig Fremde. Übrigens, bei der Krim war der Moment, der die Stimmung dort am deutlichsten zeigte, als sich von den etwa 20.000 ukrainischen Soldaten, die auf der Krim lebten, nur ungefähr 2.000 der ukrainischen Armee anschlossen ‒ der Rest blieb auf der Halbinsel und wechselte den Dienstherrn.

Aber zurück in den Donbass. Die Brutalität, mit der damals der Bürgerkrieg aus Kiew begonnen wurde, war wirklich beeindruckend. Es kam sofort das ganze Arsenal zum Einsatz, Raketen eingeschlossen (Am selben Tag, als in Kiew wieder einmal verkündet wurde, man setze keine Raketen ein, gab es aus dem Donbass ein Foto, auf dem eine Uragan-Rakete in ein Wohnzimmer ragte). Noch etwas, das nicht berichtet wurde. Auf Seiten mit lokaler Berichterstattung aus Städten wie Gorlowka gab es Beschussmeldungen, als wäre das eine besondere Art des Wetterberichts. Die fehlende Hemmung, zivile Ziele zu bombardieren, ließ erkennen, dass das eine ganz spezielle Art von Bürgerkrieg war, in völliger Übereinstimmung mit den Losungen, die auf Seiten der ukrainischen Nationalisten vorherrschten: Koffer-Bahnhof-Moskau, beispielsweise. Und das ist noch die nette Geschmacksrichtung. Nein, an der Art der Kriegsführung war klar zu erkennen, da wollte man das Gebiet, aber nicht die Einwohner.

Übrigens, beim Referendum gab es einen der größeren "Unfälle" der deutschen Berichterstattung: Das ZDF hatte Aufnahmen aus Krasnoarmeisk (richtig, genau dem Ort, der heute als Pokrowsk so umkämpft ist) falsch zugeschrieben und aus einem Überfall des Rechten Sektors auf ein Stimmlokal einen Angriff der "Separatisten" gemacht. Später wurde diese Falschmeldung dann korrigiert, aber wie immer in solchen Fällen nützte das wenig. Ohnehin war man dann dank MH17 längst wieder weiter.

"Kramatorsk zählte vor dem Krieg 150.000 Einwohner, Slowjansk 106.000 Einwohner. Selbst wenn es mittlerweile weniger sind, würden im Gebiet Donezk absehbar mehrere hunderttausend ukrainische Staatsbürger unter russische Besatzung geraten ‒ oder flüchten."

Das stammt aus der aktuellen Berichterstattung von ntv. 2014, als die ukrainische Armee über den Donbass herfiel, flüchteten Hunderttausende nach Russland. Ntv schreibt praktischerweise nicht, ob sich "vor dem Krieg" auf 2014 bezieht oder auf 2022. Eine der Hauptfluchtrouten wurde damals besonders gerne von der ukrainischen Armee unter Beschuss genommen, mit Fliegern und mit Raketenwerfern, gegen die Fahrzeuge von fliehenden Zivilisten. Im Frühjahr 2015, auf dem Weg nach Donezk, kam ich über diese Straße. Es war noch immer eine Fahrt in Schlangenlinien, wegen der Einschlaglöcher in der Straße, und links und rechts standen immer wieder Fahrzeugruinen.

Nein, wenn man statistisch bewerten wollte, was passierte, wenn Kiew aus diesen Gebieten verschwindet, dauerhaft, dann gäbe es sicher auch eine kleinere Bewegung fort, Richtung Westen ‒ aber doch eine weit größere zurück, von jenen Menschen, die zum Teil bereits 2014 die Ukraine Richtung Russland verlassen haben. Die es aber in der deutschen Presse selbstverständlich auch nicht gibt, denn der ganze blutige Bürgerkrieg hat nur fragmentarisch stattgefunden.

Nur deshalb ist es überhaupt möglich, so zu tun, als wollte man im Donbass weiter ukrainisch bleiben. Für die deutschen Medien sind ohnehin ganz andere Dinge wichtig als die Menschen im Donbass. So beispielsweise die Berliner Morgenpost:

"Dort liegen die strategisch wichtigen Städte Slowjansk, Kramatorsk, Druschkiwka und Kostjantyniwka – der sogenannte 'Festungsgürtel des Donbass'. Schon seit 2014 hat die Ukraine in den vier Städten die Rüstungsindustrie und Bunkeranlagen massiv ausgebaut."

Man sollte dazusagen, dass sich dieser Ausbau damals gegen die eigenen Bürger richtete, die eigentlich über die Minsker Abkommen durch eine Verfassungsänderung und eine Autonomie eine Perspektive hätten erhalten sollen, über die ein Verbleib in der Ukraine möglich gewesen wäre. Ja, Kiew bunkerte sich gegen die eigenen Staatsbürger als Besatzungsmacht ein, und der Hauptgrund, warum jetzt in Deutschland so vielstimmig darauf gedrängt wird, die Ukraine dürfe sich nicht aus dem Donbass zurückziehen müssen, ist, dann wäre "für Russland der Weg Richtung Westen frei". Und natürlich, wieder ntv, "im Donbass liegen viele der Bodenschätze, mit denen die Ukraine sich gemäß einem Abkommen eigentlich US-Hilfe erkaufen will".

Der ehemalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko hatte gegen die Bewohner des Donbass besonders deutlich gewettert. Seine Aussage, für jeden getöteten ukrainischen Soldaten müssten "hunderte Separatisten mit ihrem Leben bezahlen", wurde in Deutschland damals (2014) kommentarlos abgedruckt, als sei so etwas die normalste Sache der Welt. Seine Tirade, bei der er, ganz und gar nicht nüchtern, beim WEF in Davos den Donbass-Bewohnern zurief, "unsere Kinder werden in die Schule gehen, eure werden im Keller sitzen", wurde natürlich nicht übermittelt.

Bestimmte Gewohnheiten verschwinden nicht. Wenn ntv jetzt schreibt: "In diesem Sommer gab es in der besetzten Millionenstadt Donezk Probleme mit Trinkwasser, weil die Zuleitung, der Kanal Siwerskyj Donez-Donbass, an mehreren Stellen zerstört ist", und selbstverständlich nicht erwähnt, dass dieser Kanal bereits während der Belagerung von Slawjansk 2014 Ziel der ukrainischen Angriffe war, ebenso wie die Wasserversorgung von Donezk. Ein Kriegsverbrechen, übrigens. Aber in völliger Übereinstimmung mit einer Politik, die von vornherein darauf abzielte, das Territorium zu halten, aber die Menschen zu vertreiben.

Nun, auf einmal ist der Donbass so wichtig. So unverzichtbar. Dabei hätte Kiew ihn haben können, unblutig. Es wäre nur nötig gewesen, die Minsker Abkommen einzuhalten und mit den beiden Donbassrepubliken zu verhandeln. Stattdessen wurde lieber acht Jahre lang weitergeschossen, bis dann im Frühjahr 2022 der große Angriff vorbereitet wurde, der die Region endgültig unterwerfen sollte. Das Ergebnis, das können inzwischen alle sehen, war zum Glück das Gegenteil. Und ja, man hätte im Westen daraus lernen können, dass Diplomatie und die Einhaltung von Verträgen weiter bringt als kriegerisches Auftrumpfen gefolgt von einer deutlichen Antwort. Aber danach sieht es gerade ganz und gar nicht aus. Jedenfalls nicht in Deutschland.

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