Kapitalflucht als Krisenreaktion: Warum das den deutschen Imperialismus nicht unbedingt schwächt

Wegen hoher Energiepreise verlagern viele deutsche Großkonzerne ihre Produktion ins billigere Ausland. Immer mehr Arbeiter sind von Entlassung und Arbeitslosigkeit bedroht. Manche deuten das als Zeichen des wirtschaftlichen Untergangs. Aus imperialistischer Sicht ist das zu kurz gedacht.

Von Susan Bonath 

Die deutsche Industrie baut Jobs ab. Viele Beschäftigte fürchten zu Recht, beschäftigungslos und ärmer zu werden. Laut Statistischem Bundesamt arbeiteten im zweiten Quartal dieses Jahres 141.000 Menschen weniger im produzierenden Gewerbe als im gleichen Vorjahreszeitraum. Im Baugewerbe gingen überdies 21.000 Jobs verloren und 6.000 in der Landwirtschaft. Dieser Trend setzt sich fort, immer mehr Ökonomen warnen deshalb vor einer Deindustrialisierung Deutschlands.

National gedacht, ist das natürlich richtig. Ein Untergang des deutschen oder gar des westlichen Imperialismus wird damit aber längst nicht eingeläutet. Denn viele Großkonzerne bauen ihre Betriebsstätten samt Arbeitsplätzen in Ländern wieder auf, in denen sie viel günstiger und profitabler produzieren können. Das nennt sich Kapitalexport. Nimmt dieser zu, spricht das viel eher dafür, dass imperialistische Markt- und Machteinflüsse ausgeweitet werden sollen – ohne Rücksicht auf die eigene Bevölkerung.

Kapitalexport in Profitoasen

Viele Kapitaleigner begreifen die deutsche Wirtschaftskrise gar als Sprungbrett in neue profitablere Gefilde und investieren emsig. "Für Firmen aus Bayern wird Waffen-Produktion in der Ukraine zur einmaligen Chance", titelte kürzlich der Focus. Dies sei "der Einstieg in eine neue Form der militärisch-industriellen Zusammenarbeit zwischen unseren Ländern, die großes Potenzial hat", jubilierte Bundeskanzler Friedrich (BlackRock) Merz dazu.

Die Merz’schen Worthülsen sind bloße Euphemismen aus dem neoliberalen Universum. Tatsächlich meint er: Der Krieg spielt unseren Rüstungsgiganten gigantische Profite in die Taschen – dies auf Kosten der bettelarmen ukrainischen Mehrheitsbevölkerung, die nicht nur auf dem Schlachtfeld verheizt wird, sondern zugunsten der Rendite westlicher Rüstungskonzerne gnadenlos ausgebeutet werden kann.

In diesem Sinne plant auch die schwächelnde Autoindustrie, viele Jobs ins Ausland zu verlagern. Fast 80 Prozent der Unternehmen wollen demnach ihre Belegschaft nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa "deutlich reduzieren". Ob Technologie- und Chemiekonzerne oder Sportartikelproduzenten – wer immer groß und reich genug ist, kann auch woanders produzieren, und das überdies viel lukrativer.

Wirtschaftliche Kolonisierung

Die deutsche Wirtschaftskrise ist somit einerseits zwar ein Verarmungsmotor für Millionen Lohnabhängige im eigenen Land. Auf der anderen Seite ist sie jedoch ein Sprungbrett für das deutsche Großkapital, mehr internationale Märkte zu erobern. Sie ist wie ein Booster für die größten Player, sich an der Unterjochung der Welt noch mehr zu beteiligen – zugunsten des eigenen Wachstums. Man muss es auch so herum denken.

Kapitalexport ist kein Zeichen des Untergangs, sondern ein wesentliches Merkmal des modernen Imperialismus. So mehren Kapitaleigner nicht nur ihre eigenen Gewinne durch billigere Arbeitskräfte. Er dient auch der ökonomischen Kontrolle fremder Märkte und hindert schwächere Länder am Aufbau eigener Volkswirtschaften. Kapitalexport ist de facto der moderne Kolonialismus: Er hält schwächere Länder abhängig von den westlichen Mutterländern der expandierenden Großkonzerne – das nötige Drohpotenzial besorgen bekanntlich die US-Militärbasen in aller Welt.

Ökonom sieht "Deutschlands Zukunft im Kapitalexport"

Kein Wunder, dass der ehemalige Vizepräsident des neoliberalen Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW), Rolf Langhammer, im März dieses Jahres in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) die Energiekrise fast begeistert als Motor für "neue Handelsstrategien" betrachtete, denen sich Deutschland öffnen müsse. "Deutschlands Zukunft liegt im Kapitalexport", blickte er voraus. Darum müsse die Bundesrepublik mehr im Ausland investieren. "Da lässt sich mehr Kapital erwirtschaften als im Inland." 

Kapitalexport ist also der Versuch, die Welt ökonomisch zu unterdrücken, also zu kolonisieren, ohne sie mit hohen Kosten direkt zu überfallen, zu belagern, zu versklaven, so wie in den vergangenen Jahrhunderten. Die auf diese Weise manifestierte wirtschaftliche Not der Massen in den armen Ländern ist Gewalt genug, um dort Lohnabhängige unmenschlich ausbeuten zu können, dies in aller Regel getarnt als "Entwicklungshilfe".

Monopole ersetzen Mittelstand

Nun mag man einwenden, dass die selbstproduzierte Energiekrise nicht nur der Masse der Lohnabhängigen in Deutschland schadet, sondern viele mittelständische Betriebe in die Pleite treibt. Das führt freilich zu weiterem Arbeitsplatzverlust, verschärft die Verarmung und drückt das Bruttoinlandsprodukt (was Deutschland derzeit durch Aufrüstung zu verhindern versucht).

Ein Denkfehler dabei liegt darin, zu glauben, dass der ökonomische Erfolg eines imperialistischen Staats allein am Wohlstand der Gesamtbevölkerung gemessen werden könne. Bereits ein Blick in die USA zeigt, dass dies nicht stimmt: Obdachlosencamps, Hungerlöhner und Elend, wo man hinsieht. Dadurch muss der Staat lediglich etwas mehr Geld für die Folgen ausgeben: entweder mehr Sozialleistungen oder mehr Polizei und Repressionen – die USA haben sich bekanntlich für Letzteres entschieden, Deutschland zieht nach.

Kanonen statt Butter

Der Erfolgsbilanz nach imperialistischen Maßstäben ist es egal, wem das Kapital gehört, das Profite in aller Welt einfährt. Vereinfacht gesagt: Würde ein riesiger Backwarenkonzern 5.000 kleine Bäcker in Deutschland ersetzen, weil diese ihre Stromkosten nicht mehr zahlen können, spielte das keine Rolle für die Rechnung. Genauso irrelevant ist es, ob Rheinmetall die deutschen Waffen in Düsseldorf oder in der Ukraine herstellt.

Kapitalismus strebt ohnehin nach Globalisierung und Monopolisierung. Denn der Rohstoffhunger wächst und Konkurrenz ist darauf ausgelegt, Konkurrenten auszuschalten. Wenn also kleine Betriebe verschwinden und nur wenige große übrig bleiben, ist das blöd für die davon Betroffenen, aber unerheblich für die Bilanz, wenn Großkonzerne ihre Rendite dann entsprechend steigern. Wichtig ist nur, dass sie irgendwo in der Welt Käufer für ihre Produkte finden, auch wenn Kanonen statt Butter übers Fließband rollen.

Aggressiver Imperialismus

Freilich führt all das zu weiteren Problemen: Der Binnenmarkt wird geschwächt, die staatlichen Steuereinnahmen sinken und soziale Verwerfungen nehmen zu. Wie die deutsche Politik das zumindest temporär zu "lösen" gedenkt, hat sie längst gezeigt: mit Sozialkürzungen und Abbau der öffentlichen Daseinsvorsorge auf der einen, Überwachung, Krieg und Aufrüstung von Militär und Polizei auf der anderen Seite – der normale neoliberale Wahnsinn inmitten des globalen Imperialismus mit Akteuren eben, die stets auf der Jagd nach kurzfristiger Rendite sind.

Man kann konstatieren: Der zunehmende Kapitalexport, angetrieben von hohen Energiepreisen, verbunden mit steigender Erwerbslosigkeit, sozialem Elend und einer massiven Schwächung des deutschen Binnenmarktes, ist zwar ein Desaster für den größten Teil der deutschen Bevölkerung. Das Ende des deutschen oder gar westlichen Imperialismus läutet all das noch längst nicht ein. Im Gegenteil: Nicht nur die deutsche Politik agiert für diese Interessen immer aggressiver – und opfert ihre eigenen Bürger.

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