Von Susan Bonath
Der Al-Jazeera-Journalist Anas al-Sharif dokumentierte 22 Monate lang Israels Gräuel im Gazastreifen. Den Tätern war der 28-Jährige schon lange ein Dorn im Auge. Monatelang bedrohten und verleumdeten sie ihn mit einer Rufmordkampagne als "Hamas-Terroristen", bevor sie ihn und seine Kollegen Mohammed Qreiqeh, Ibrahim Zaher, Mohammed Noufal, Moamen Aliwa und Mohammed al-Khalidi am Sonntagabend mit einem gezielten Angriff auf ihr Zelt in Gaza-Stadt ermordeten. Den Vorwurf versucht Israel mit "Belegen" zu untermauern – doch die sind kaum überprüfbar, mindestens zum Teil gefälscht und ein Freibrief für Barbarei.
Alte Selfies
Um eine angebliche Hamas-Mitgliedschaft al-Sharifs zu "belegen", nutzte die israelische Armee alte Fotos im klassischen Selfie-Stil, die ihn mit dem Hamas-Führer Yahya Sinwar zeigen. Israel hatte Sinwar im Oktober 2024 in den Überresten der Stadt Rafah im völlig zerbombten Gazastreifen getötet, nachdem dieser den Posten des zweieinhalb Monate zuvor getöteten politischen Hamas-Chefs Ismail Haniyya übernommen hatte.
Auch die israelische Botschaft in Berlin verbreitete ein solches Bild unter dem Slogan "Die Wahrheit über 'Journalist' Anas al-Sharif" ‒ freilich mit dem Ziel, ihn und seine täglichen Berichte bis kurz vor seinem Tod aus dem von Israel abgeriegelten und zerstörten Gazastreifen unglaubwürdig zu machen.
Ob die Fotos echt sind, ist schwer zu überprüfen, denn mit KI ist einiges möglich. Aber das spielt letztendlich keine Rolle, denn ein Beleg für eine Hamas-Mitgliedschaft sind solche Bilder natürlich nicht – zumal sie offensichtlich viele Jahre alt sind. Selbst eine tatsächliche Hamas-Mitgliedschaft wäre überdies kein Tötungsgrund. Denn völkerrechtlich macht eine bloße Zugehörigkeit oder Meinung niemanden zum aktiven Kombattanten. Wobei es sich im Gazastreifen nicht einmal um einen Krieg im eigentlichen Sinne handelt.
Angebliche "Hamas-Listen"
Die israelische Armee (IDF) verbreitete auch vermeintliche "Hamas-Listen" unter Berufung auf "Geheimdienstinformationen und Dokumente aus Gaza", worauf al-Sharifs Name stehe. Deren Echtheit ist aber anzuzweifeln, zumal dies nicht die erste Lüge der IDF mit Fake-Listen wäre.
So präsentierte die Armee zum Beispiel Ende 2023 eine angebliche "Hamas-Liste", um die Bombardierung des Al-Shifa-Krankenhauses in Gaza-Stadt – die bis dahin größte und wichtigste Klinik im Gazastreifen – zu rechtfertigen. Diese Liste sollte eine behauptete "Hamas-Kommandozentrale" unter dem Areal belegen.
Wenig später entpuppte sich die vermeintliche Kämpferliste als bloßer Kalender – und die angeblichen Namen der "Terroristen" als Wochentage – eine dreiste Lüge, die nur wenige Medien, die dies verbreitet hatten, richtigstellten ‒ darunter france24.
Auch sonstige Beweise für diese "Kommandozentrale" legte die IDF bis heute nicht vor. Es handelte sich um eine Propagandalüge – wie vermutlich auch im Fall al-Sharif.
Gefälschte "Telegram-Nachricht"
Überdies schaffte es ein vermeintlich "ultimativer Beweis" für al-Sharifs "Hamas-Anhängerschaft" bis in große westliche Medien, darunter das deutsche Boulevardblatt Bild der Axel-Springer-Presse: eine angebliche Telegram-Nachricht des getöteten Journalisten vom 7. Oktober 2023, in der er den von Gaza ausgehenden Angriff der Hamas und weiterer Gruppen auf Israel bejubelt haben soll.
Dieser angebliche Screenshot ist allerdings schon auf den ersten Blick als Fälschung zu erkennen. Denn er enthält – neben anderen Auffälligkeiten ‒ am unteren Rand der "Nachricht" ein Veröffentlichungsdatum, während echte Telegram-Nachrichten dort nur die Uhrzeit und die Anzahl der Aufrufe anzeigen. Das Datum ist in Telegram-Kanälen nur über der ersten Nachricht des jeweiligen Tages sichtbar. Über diesen Fake klärte noch am selben Tag die Webseite The Skwawkbox auf. Trotz dieser Offensichtlichkeit zitierte Springers Bild aus dieser Fälschung, als handele es sich um eine Tatsache.
Fischbergers Hasbara-Märchen
Unter die Leute gebracht hat die gefälschte Telegram-Nachricht offensichtlich der bekannte israelische Propagandist Eitan Fischberger. Kurz nach der Ermordung der Journalisten verbreitete dieser das Bild auf X und schrieb dazu: "An alle Journalisten, die mich gefragt haben, ob dieser Screenshot echt ist – ja, das ist er zu 100%." Im Weiteren spann er sich eine Story zurecht, wonach al-Sharif die Nachricht gelöscht, er sie aber im Webarchiv wiederhergestellt habe.
Fischberger bezeichnet sich auf der Plattform LinkedIn selbst als "Forscher, Autor, Analyst, strategischer Berater aus Jerusalem". Er ist allerdings ein seit langem bekannter Verbreiter israelischer Propaganda-Kampagnen. Erst am 30. Juli, elf Tage vor der Ermordung al-Sharifs und seiner Kollegen, lancierte er die Lüge der israelischen Regierung, wonach es keine Hungersnot im Gazastreifen durch die israelische Blockade gebe. Denn, so die "Argumentation": Einige der vielen gezeigten verhungernden Kinder hätten eine Vorerkrankung gehabt.
Dabei ist Israels Hungerblockade, die Tel Aviv seit Beginn des Völkermordes mal mehr, mal weniger durchsetzte, seit Anfang März dieses Jahres aber massiv verschärft hat, auch von westlichen Hilfsorganisationen und Ärzten gut dokumentiert und belegt, genauso wie deren katastrophale Auswirkungen. Diese Art von Hungerspielen ist übrigens nicht neu: Seit den 1990er Jahren drosselt Israel die Einfuhr von Nahrung und anderen Gütern in die besetzten palästinensischen Gebiete. Seit Beginn der Rundumbelagerung des Gazastreifens 2006 berechnete die israelische Regierung sogar den Kalorienbedarf der Bewohner.
Bullshit-Argumente
Nun der wichtigste Punkt: All diese angeblichen "Hamas-Listen" und "Screenshots" taugten selbst dann nicht als Argument, wenn alles wahr wäre. Das Einzige, was die Tötung al-Sharifs völkerrechtlich rechtfertigen könnte, wäre ein Beweis dafür, dass dieser unmittelbar vor seiner Ermordung an aktiven Kampfhandlungen beteiligt war. Das aber ist auszuschließen, da er noch wenige Minuten vor seinem Tod sein letztes journalistisches Posting auf X absetzte, in dem er über gravierende Luftangriffe Israels auf Gaza-Stadt berichtete und ein Kurzvideo davon teilte.
Die Argumentation Israels ist aber nicht nur völkerrechtswidrig, sondern auch gefährlich und dumm. Danach könnte jede Kriegspartei in jedem Krieg alle Zivilisten töten, denen es eine Nähe zum feindlichen Regime nachweisen könnte: Krankenschwestern in öffentlichen Kliniken, Polizisten, staatliche Behördenangestellte, Mitglieder einer regierenden Partei, Abgeordnete und Journalisten, die über die Regierung berichten.
Ja, nach dieser "Logik" wäre sogar der Hamas-Angriff auf vermutlich alle zivilen jüdisch-israelischen Opfer über 18 Jahren "legitim", denn bekanntlich zieht Israel diese alle mit Beginn ihrer Volljährigkeit ein, mit Ausnahme der ultraorthodoxen Tora-Studenten. So hatten diese Getöteten zwangsläufig in ihrem Leben Kontakt zur feindlichen Armee, haben ihn gegebenenfalls heute noch. Die israelischen Propagandisten sollten ihre "Argumentation" also ein wenig gründlicher durchdenken.
Systematische Morde
Nun sind al-Sharif und seine fünf Kollegen nicht die ersten von Israel ermordeten Pressevertreter. Laut einer Auswertung des Senders Al Jazeera von Namenslisten mehrerer Organisationen tötete Israel im Gazastreifen binnen zwei Jahren bis zu 274 Journalisten, Fotografen und Helfer, die für verschiedene Medien tätig waren – viele davon gezielt.
Die Organisation "Reporter ohne Grenzen" reichte deshalb nach eigenen Angaben bisher vier Strafanzeigen vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) gegen israelische Verantwortliche ein. Fakt ist: Im Gazastreifen, in dem über zwei Millionen Menschen auf inzwischen nur noch 40 bis 70 Quadratkilometern eingepfercht sind, tötete die Besatzungsmacht so viele Pressevertreter, wie in keinem anderen Krieg seit dem Zweiten Weltkrieg ums Leben kamen.
Töten der Wahrheit
Schon vor dem Hamas-Angriff vor knapp zwei Jahren ging Israel systematisch gegen unliebsame Journalisten vor. Am 11. Mai 2022 ermordete ein israelischer Scharfschütze die Al-Jazeera-Reporterin Shireen Abu Akleh mit einem Kopfschuss in der Flüchtlingsstadt Dschenin im illegal besetzten Westjordanland. Auch hier kämpften palästinensische und internationale Ermittler und Medien zunächst gegen eine von Israel initiierte Lügenkampagne. Letztlich räumte die IDF die Tat zwar ein, stellte sie öffentlich aber als "Versehen" dar.
Das Motiv, damals wie heute, liegt auf der Hand: Der Staat Israel, der alle palästinensischen Gebiete einem Gutachten des Internationalen Gerichtshofs zufolge illegal besetzt beziehungsweise belagert hält und dort ein rassistisch diskriminierendes System betreibt, das Palästinenser entrechtet, will Berichterstattung über seine in Dauerschleife praktizierten Gräueltaten eindämmen – indem es Reporter systematisch eliminiert. Aber die Wahrheit lässt sich nicht auf Dauer töten.
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