Armut – und wie man sie verschwinden lässt

Ja, hier geht es wieder einmal um Statistik. Aber jede Auseinandersetzung um Statistik ist auch eine um die Gesellschaft, darum, wie ihr Zustand wirklich ist, in welche Richtung sie sich entwickelt und, nicht zuletzt, was zu tun nötig wäre.

Von Dagmar Henn

Es ist selten, dass sich deutsche Medien überhaupt mit Armut und der Armutsquote befassen. Aktuell ist es ein Schreiben von 30 Armutsforschern an das Statistische Bundesamt, das das Thema ausnahmsweise in die Schlagzeilen befördert hat. Sie werfen der Behörde vor, eine Berechnungsmethode gelöscht zu haben.

Nun ist das so eine Sache mit der Berechnung von Armutsquoten. Zu wissen, wie viele Menschen in einer Gesellschaft arm sind, ist eine der wichtigsten Informationen über den gesellschaftlichen Zustand: Wenn die Armutsquote sinkt, dann hat die Politik etwas richtig gemacht und die Lebensverhältnisse der Menschen verbessert. Allerdings interessiert dieses Kriterium in Deutschland schon seit vielen Jahren nicht mehr, und selbst wenn die Armutsquote steigt, rührt es die Politik wenig.

Jeder Mensch weiß, was Armut ist, aber sie zu messen, eine Zahl zu gewinnen, die diesen sozialen Zustand berechenbar macht, ist dennoch nicht einfach. Die Armutsquoten, um die hier gestritten wird, sind nur einer der möglichen Wege, und vor allem deshalb beliebt, weil sie gewissermaßen als Beifang zur gewöhnlichen Bevölkerungsstatistik mit abfallen. Beide Berechnungsmethoden, die alte, MZ-Kern, und die EU-weit einheitliche, MZ-SILC, beruhen auf Daten des Mikrozensus, also der jährlichen Erfassung statistischer Daten der deutschen Bevölkerung durch eine Umfrage, die etwa 1 Prozent der Bevölkerung erfasst.

Der Wert statistischer Daten hängt immer entscheidend von der Größe der Probe ab. Meinungsumfragen arbeiten meistens mit Zahlen um die 1.000 Befragten; das ist ein Bereich, in dem man sich auch Fehler von zwei, drei Prozent leisten kann. Der Zensus ist die Grundlage für eine Menge von Planungen, von Kindertagesstätten bis Autobahnen, für Steuerschätzungen und Finanzflüsse zwischen Bund, Ländern und Gemeinden; also darf die Abweichung nicht groß sein.

Daher gibt es alle zehn Jahre einen Zensus, der die gesamte Einwohnerschaft erfasst und die Fehler, die sich selbst bei einer großen Stichprobe einschleichen können, wieder korrigiert. Der letzte Zensus in Deutschland war 2022. Danach stellten viele Gemeinden verblüfft fest, dass sie kleiner oder größer waren, als sie zuvor angenommen hatten, und einige davon führen gerade Prozesse um Mittel, die ihnen durch die niedrigere Bevölkerung entgehen.

Der Mikrozensus, der in den Jahren zwischen den Volkszählungen stattfindet, umfasst ein Prozent oder etwa 810.000 Personen. Haushalte, die für die Teilnahme am Mikrozensus ausgelost werden, werden bis zu viermal innerhalb des jeweiligen Jahres befragt.

Aus diesen Daten, die mit einem umfangreichen Fragebogen ermittelt werden, werden die statistischen Zahlen errechnet. Viele davon sind online abrufbar, sodass man einzelne Berechnungen sogar nachvollziehen oder eigene erfinden kann. Wenn zwei unterschiedliche Berechnungen auf der Grundlage derselben Daten zu einem anderen Ergebnis kommen, dann kann das nur an der Berechnungsmethode liegen.

Der Vorwurf der Forscher lautet nun, die Armutsquote, die sich auf der Grundlage von MZ-SILC ergebe, betrage für das Jahr 2023 "nur" noch 15,5 Prozent, während die zuvor übliche Methode MZ-Kern auf 16,6 Prozent komme. Das Statistische Bundesamt verteidigt sich damit, Transfereinkünfte wie Kindergeld oder Wohngeld würden besser erfasst, und außerdem sei das eben die EU-weit einheitliche Berechnungsmethode. Die Forscher meinen, die Behörde rechne die Armut gezielt klein.

Unabhängig von der Frage, wer mit dieser Argumentation recht hat, steht eines auf jeden Fall fest: Die Vergleichbarkeit der Zahlen hat darunter gelitten. Immerhin wird die einst von der OSZE eingeführte Festlegung von Armut bei 60 Prozent des Medianeinkommens in Deutschland seit Anfang der 2000er-Jahre verwendet; also sind die aktuellen Zahlen bei MZ-Kern immerhin mit einem Vierteljahrhundert vergleichbar. Die Zahlen nach MZ-SILC werden in Deutschland erst seit 2020 abgefragt.

Und natürlich haben die Forscher mit der Annahme recht, dass eine Regierung beziehungsweise ihre Statistikbehörde versucht sein könnte, eine steigende Armut auf die einfachste Methode zu beseitigen – durch Wegrechnen. Selbst wenn es lange her ist, dass ein Anstieg der Armutsquote in Deutschland noch für irgendjemanden ein Skandal war. Allerdings – selbst die Berechnung nach der alten Methode führt eher zu einer massiven Unterschätzung der Armut.

Warum? Weil das Medianeinkommen in Deutschland schon lange real nicht gestiegen ist, die Kaufkraft, die dieses Medianeinkommen darstellt, also von Jahr zu Jahr abgenommen hat. Während die Schwelle für Armut nach wie vor bei 60 Prozent dieses Einkommens liegt, setzt sich dieser Prozentsatz, wie das Medianeinkommen selbst, aber in immer weniger Gütern und Leistungen um.

Vor wenigen Tagen gab es eine andere Schlagzeile, die in diesem Zusammenhang aufhorchen lassen müsste. Die stammte von einer Liquiditätsstudie einer Bank und besagte, dass jeder zweite Deutsche Reserven von weniger als 2.000 Euro hat; jeder Fünfte weniger als 500 Euro und sechs Prozent haben gar nichts. Das sind Zahlen, die für eine andere Methode zur Armutsmessung durchaus relevant wären: die Deprivationsmethode. Sie ist weniger beliebt, weil sie aufwendiger ist, denn es geht darum, in vielen Bereichen konkreten Mangel abzufragen: Können Sie sich einen Urlaub leisten? Können Sie ein kaputtes Haushaltsgerät ersetzen? Können Sie Zahnersatz finanzieren? Neue Kleidung?

Der Kern des Problems: Die Erfassung von Armut über einen Prozentsatz vom Medianeinkommen macht Sinn, solange dieses Medianeinkommen für einen steigenden Wohlstand steht, weil Armut immer auch einen relativen Aspekt besitzt. In einer Gesellschaft, in der niemand in den Urlaub fährt, verursacht es kein Leid, selbst nicht in den Urlaub fahren zu können; wenn alle in den Urlaub fahren, man selbst aber nicht, ist das eine völlig andere Frage, weil daraus plötzlich eine gesellschaftliche Ausschließung wird (diesen Punkt meint der in der Sozialforschung übliche Begriff "Teilhabe"). Armut verschwindet nicht durch ein Ansteigen des durchschnittlichen Wohlstands, sondern nur durch Verringerung der Ungleichheit bei dessen Verteilung.

Im Gegensatz zu dem Zeitpunkt, als die Armutsmessung durch Median eingeführt wurde, sind inzwischen aber nicht nur in Deutschland, sondern in der gesamten EU die Medianeinkommen zurückgegangen, zumindest real, also um die Inflation korrigiert. Das verändert die Aussagefähigkeit einer so berechneten Armutsquote gewaltig, denn neben der relativen Armut gibt es auch eine absolute Armut, den Punkt, an dem das Geld nicht genügt, um Miete, Nahrung und Kleidung zu finanzieren. Je weiter das Medianeinkommen sinkt, desto weiter nähert sich die Schwelle von 60 Prozent, die eigentlich auf relative Armut ausgerichtet ist, einem Zustand absoluter Armut, in dem die verfügbaren Mittel so gering sind, dass es die Existenz gefährdet.

Es gibt übrigens noch ein Zahlenverhältnis, das man bei der Betrachtung von Armut und Reichtum immer mit im Blick haben sollte: das Verhältnis zwischen dem Durchschnitts- und dem Medianeinkommen. In der Slowakei und in Tschechien ist der Abstand zwischen diesen beiden Werten deutlich niedriger als in Deutschland. Hier betrug das Brutto-Durchschnittseinkommen 2024 55.608 Euro, das Medianeinkommen aber nur 43.000 Euro, etwa 77 Prozent davon. Die Hälfte aller Beschäftigten verdiente also weniger als besagte 43.000 Euro. Würde man eine Armutsquote anhand des Durchschnitts berechnen, der immerhin den Pro-Kopf-Anteil am gesellschaftlichen Wohlstand benennt, läge die Armutsquote in Deutschland deutlich höher. Was zugleich zeigt, dass, absurderweise, bei zunehmender Ungleichheit die Armut eher unterschätzt wird.

Die Messung des Medianeinkommens selbst berücksichtigt auch nur einen Teil der regelmäßigen Belastungen. Grundlage ist das Nettoeinkommen, was bedeutet, dass die Lohn- oder Einkommensteuer und die Sozialversicherung bereits abgezogen sind. Aber das verfügbare Einkommen verändert sich auch durch die Miete; was dafür gezahlt wird, steht für Nahrung und Kleidung nicht mehr zur Verfügung. Gleiches gilt für die Energiekosten, egal, ob Strom oder Heizung.

Es braucht kein besonderes Genie, um festzustellen, dass seit der Einführung der Berechnungsmethode gerade diese Ausgaben deutlich stärker gestiegen sind als die Realeinkommen. Über die Inflation der Nahrungsmittelpreise in den letzten Jahren muss man da noch gar nicht reden. Daraus erschließt sich schnell, dass eine Person, die heute von den besagten 60 Prozent des Medianeinkommens lebt, deutlich schlechter lebt als eine Person, die im Jahr 2000 von 60 Prozent des Medianeinkommens lebte, selbst wenn die fallenden Preise elektronischer Produkte das etwas kompensieren.

Das Gleiche gilt übrigens für die Armut in Regionen mit vergleichsweise hohen Einkommen. Da dort vielfach nicht nur die Miete, sondern auch andere Güter des täglichen Bedarfs teurer sind, täuscht eine Armutsschwelle, die auf einem bundeseinheitlichen Wert beruht, über wirklichen Mangel hinweg; ganz zu schweigen von der Frage der Mieten. Bei einer Betrachtung auf Grundlage des frei verfügbaren Einkommens oder auf Grundlage des Deprivationsansatzes käme man auf ganz überraschende Armut mitten im Wohlstand.

Ende dieses Jahres wird eine statistische Auswertung erscheinen, die andere interessante Informationen liefert: die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS). Das ist jene Stichprobe, die eigentlich ursprünglich die Grundlage für die Berechnung von Hartz IV liefern sollte, aber deren Zahlen immer verändert wurden.

Warum? Weil darin unter anderem festgestellt wurde, dass bereits 2003 die unteren 15 Prozent der Haushalte ihren Bedarf nur decken konnten, weil sie von irgendwoher, vermutlich von Verwandtschaft, zusätzliches Geld erhielten; es also einen vergleichsweise großen Teil der Bevölkerung gibt, der selbst bei einfacher Bedürfnisdeckung im dauerhaften Defizit lebt. Um diese Tatsache musste irgendwie herumgerechnet werden, und man tat das, indem alle möglichen Bedürfnisse kleingerechnet wurden, Fortbewegung und Kultur beispielsweise. Es wird aufschlussreich sein, was die EVS 2023 ergibt, die Ende dieses Jahres veröffentlicht werden wird; auch daraus lassen sich Informationen gewinnen, wie es wirklich um die Armut im vermeintlich so reichen Deutschland steht.

Bei genauerer Betrachtung führt also selbst die alte Methode MZ-Kern mit den errechneten 16,6 Prozent zu einer Unterschätzung der Armut. Man wird sicher mehr als jeden sechsten Deutschen als arm bezeichnen können. Wie gut also, dass im normalen Alltag niemand hinsieht. Sonst könnte man noch auf den Gedanken kommen, die deutsche Politik mache ihre Sache schlecht.

Mehr zum Thema"Polyworking": Moderne Hungerlöhner im Job-Turbo