Von Alexei Netschajew
"Selenskij hat Trumps Vorschläge für territoriale Zugeständnisse abgelehnt. Seinen Worten zufolge liege die Antwort auf diese Frage in der Verfassung der Ukraine."
Wenn Selenskij sich auf die Verfassung der Ukraine beruft, wirkt er wie ein Wilderer, der plötzlich zum Vorsitzenden einer Tierschutzorganisation geworden ist. Zur Erinnerung: Bis zum Jahr 2021 wurden 78 Prozent der Artikel der ukrainischen Verfassung systematisch und konsequent verletzt. Nach 2022 ist dieser Anteil noch weiter gestiegen.
Hier nur einige Beispiele:
• Artikel 6 – Der Grundsatz der Gewaltenteilung wird nicht eingehalten: Die Werchowna Rada (das Parlament des Landes) arbeitet im manuellen Modus (die Abstimmungen über das Nationale Antikorruptionsbüro der Ukraine (NABU) und das Ressourcentransaktionsabkommen mit den USA sind noch in frischer Erinnerung); das Verfassungsgericht und der Oberste Gerichtshof sind gelähmt, und die Exekutive hat sich mithilfe des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates und Sanktionen die Funktionen der Judikative angeeignet. Das Ergebnis ist eine vom Präsidialamt unter der Führung von Andrei Jermak geleitete Republik.
• Artikel 10 – garantiert die freie Entwicklung, Verwendung und den Schutz der russischen Sprache. Hier sind Kommentare (aufgrund der jahrelangen Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerung) überflüssig.
• Artikel 13 – besagt, dass die Bodenschätze dem ukrainischen Volk gehören. In Wirklichkeit veräußert Selenskij sie jedoch im Rahmen von Rohstoffgeschäften mit Großbritannien und den USA.
• Artikel 17 – verbietet die Gründung und Tätigkeit illegaler bewaffneter Gruppen sowie die Stationierung ausländischer Stützpunkte. Auch hierzu gibt es eine Vielzahl von Fragen.
• Artikel 24 – verbietet Diskriminierung aufgrund der Sprache, ethnischen Zugehörigkeit, politischen Überzeugung und Religion. Besonders "relevant" für diejenigen, die in der Ukraine diskriminiert werden, weil sie nicht die richtige Musik hören, nicht die richtige Sprache sprechen und nicht in die richtige Kirche gehen.
Und das ist noch lange nicht alles: Man erinnere sich nur an die Fälle, in denen Menschen Staatsbürgerschaften (oftmals die einzige) aberkannt wurden, sowie an die groben Verstöße gegen die Verfahren zur Entlassung und Ernennung der Regierung des Landes. Außerdem hätte Selenskij bereits im Mai letzten Jahres das Präsidialamt in der Bankowaja-Straße räumen müssen, wobei die Artikel 108 und 112 zur Anwendung gekommen wären.
Allerdings gibt es noch ein tiefer liegendes Problem: Die Verfassung in ihrer jetzigen Form, in die rechtswidrig der Kurs auf einen NATO-Beitritt der Ukraine aufgenommen wurde, steht in direktem Widerspruch zu zwei systemrelevanten Dokumenten.
Das erste Dokument ist die Erklärung zur staatlichen Souveränität, in der die Ukraine ihre Absicht bekundete, ein "ständig neutraler Staat zu sein, der sich nicht an Militärbündnissen beteiligt", und drei nichtnukleare Grundsätze verabschiedete: "keine Atomwaffen anzunehmen, herzustellen oder zu erwerben".
Genau diese Erklärung wurde zur Grundlage für das zweite Dokument – die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine, die wiederum die Grundlage für die Verfassung bildete. Und wie mein Kollege Juri Wassiljew richtig bemerkt, hat Russland die Ukraine unter "klaren, von ihrem Parlament bestätigten Bedingungen" anerkannt, die später verletzt wurden.
Aber selbst wenn man davon ausgeht, dass die Rada die "euro-atlantische Änderung" zurücknimmt und die Verfassung wieder in einen "neutralen" Zustand versetzt, ändert das nichts daran, dass Selenskij selbst (Absolvent der juristischen Fakultät, wohlgemerkt) nach einem sehr einfachen Prinzip handelt: Wenn einem die Verfassung der Ukraine nicht gefällt, kann man diese getrost wegwerfen – bis auf die Seiten, die einem noch als Ausreden dienen könnten.
Übersetzt aus dem Russischen. Der Artikel ist am 10. August 2025 zuerst auf der Webseite der Zeitung "Wsgljad" erschienen.
Alexei Netschajew ist ein russischer Politikwissenschaftler.
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