Von Alexandr Nossowitsch
Die Helsinki-Schlussakte über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, deren 50-jähriges Jubiläum derzeit begangen wird, wird in Russland und im Westen gleichermaßen wertgeschätzt, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. In Russland für die "Sicherheit", im Westen für die "Zusammenarbeit". In Russland – für die Festschreibung der für die Sowjetunion siegreichen Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs, die Festlegung der strategischen Parität mit den USA und der Nachkriegsgrenzen in Europa. Im Westen – für die angebliche Schaffung der Voraussetzungen für den "Sieg im Kalten Krieg", also für den sogenannten "dritten Korb", der liberale Rechte und Freiheiten als Grundlage der internationalen Beziehungen festschrieb.
Entsprechend sind grundlegend verschiedene Dinge gemeint, wenn in Russland und im Westen von einem "neuen Helsinki" gesprochen wird. Für Russland ist ein "neues Helsinki" eine neue Sicherheitsarchitektur für Europa, die das den gesamten Kontinent einschließende System umfassen und auch Russland einbeziehen soll – im Gegensatz zum derzeitigen System "alle zusammen gegen Russland". Genau dies hatte Moskau bereits vorgeschlagen, als es Ende 2021 mit einer Initiative für Verhandlungen über globale Sicherheitsgarantien auftrat.
Für die USA und die EU bedeutet ein "neues Helsinki" demgegenüber die allseitige Anerkennung der "Menschenrechte" in ihrer westlichen Auslegung als Grundlage des internationalen Handelns. Da in Europa außer Moskau praktisch niemand damit Probleme hat, würde dies in der Praxis eine politische Reform in Russland bedeuten: Liberalisierung, Dialog mit der vom Westen bestimmten Opposition, Selbstverurteilung für Gewaltanwendung in der Ukraine, Anerkennung ihrer völkerrechtlich anerkannten Grenzen und so weiter. Die logische Konsequenz wäre ein Machtwechsel zu Gunsten einer liberalen und prowestlichen Regierung.
Zwischen den Positionen der beiden Seiten besteht also eine unüberwindbare mentale Kluft. Im russischen Weltbild dominiert ein realistischer Ansatz in den internationalen Angelegenheiten, im westlichen (besonders europäischen) ein idealistischer und deshalb fanatischer. Dieser Bruch ist unüberbrückbar.
Angesichts dieser Kluft erscheint es sogar befremdlich, dass sich beide Seiten in ihren Plänen auf dasselbe historische Ereignis beziehen. Dabei waren die Helsinki-Vereinbarungen das konsequente Ergebnis von 30 Jahren Nachkriegsaufbau einer neuen Weltordnung, und die Schlussakte ein in sich geschlossenes und logisch kohärentes Dokument.
In jenen 30 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg erreichten der östliche und der westliche Block strategische Parität und damit die Unmöglichkeit, einander militärisch zu besiegen – bedingt durch die garantierte gegenseitige Vernichtung. Es entstand ein vollständiges Gleichgewicht – ein Kräftegleichgewicht, innerhalb dessen man irgendwie koexistieren musste. Die Helsinki-Vereinbarungen wurden zum Regelwerk dieser Koexistenz, die auf einem perfekten Gleichgewicht der Kräfte basierte. Alles, was in der Schlussakte festgeschrieben ist – Unverletzlichkeit der Grenzen, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, Gewaltverzicht – beruhte auf der Anerkennung des anderen als gleichwertig, zumindest in der Hinsicht, dass dieser andere einen ebenfalls vernichten kann.
Daher begann der Helsinki-Prozess zu stolpern, sobald sich das Kräftegleichgewicht zugunsten des Westens verschob. Gewaltverzicht und territoriale Integrität? Doch was ist mit Jugoslawien? Humanitäres Völkerrecht und Schutz der Zivilbevölkerung in Konflikten? Und was mit dem völligen Fehlen jeglicher Reaktion auf das Verhalten der Ukraine, die Wohngebiete in Belgorod oder Kursk mit der offiziellen Begründung beschießt, "dass die Bevölkerung in Russland den Krieg spüren soll"?
Die westliche Ideologie der internationalen Beziehungen, die sich auf die Helsinki-Prinzipien beruft, steht diesen Prinzipien tatsächlich diametral entgegen, weil sie undemokratisch ist. Es ist eine totalitäre Ideologie, die nicht akzeptiert, dass andere eine eigene Meinung haben können, dass sie ein Recht darauf haben und dass dieses Recht respektiert werden muss. Die Helsinki-Prinzipien werden heute umso eifriger vom Westen mit Füßen getreten, je verbissener er um die Rückkehr zu seiner nach 1991 errungenen unipolaren Dominanz kämpft. So etwa der "Pluralismus und die Meinungsfreiheit", die sich heute in Verboten und Blockaden russischer Medien, der Verfolgung russischer Journalisten und der Verunglimpfung jeglicher nicht-russophober Akteure im Ausland als "Kreml-Agenten" äußern.
Vor 50 Jahren legten die Helsinki-Vereinbarungen endgültig die Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs fest, in dem das damalige Russland gesiegt hatte, ein Land, mit dem man schließlich Vereinbarungen über das weitere Zusammenleben treffen musste. Künftige Vereinbarungen dieser Art können nur dann geschlossen und eingehalten werden, nachdem Russland erneut gesiegt hat: Dieser Sieg wird sich dann nicht mehr umdeuten, abschaffen oder bestreiten lassen, und Russland als gleichwertige Macht anerkannt werden müssen – die einen vernichten kann und mit der man sich über die Regeln des weiteren Zusammenlebens verständigen muss.
Übersetzt aus dem Russischen. Zuerst erschienen am 31. Juli bei "RIA Nowosti".
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