Und täglich grüßt die Anti-Moskau-Propaganda aus Zürich

Die Neue Zürcher Zeitung, einst Aushängeschild bürgerlicher Nüchternheit, pflegt ihre neue Routine: Russland-Bashing im Feuilleton, bevorzugt mit exotischen Stimmen aus dem Berliner Exil. Neuester Fund: ein gewisser Sergei Lebedew, den die NZZ als "bedeutende Stimme der russischen Gegenwartsliteratur" anpreist. Lebedew? Nie gehört. In Russland kennt ihn kein Mensch.

von Hans-Ueli Läppli

Es ist einer dieser Texte, bei denen man sich fragt: Ist das noch Journalismus – oder schon literaturnobelpreiswürdige Propaganda?

Die Neue Zürcher Zeitung, die sich gern als Bollwerk der Seriosität, des Liberalismus und der intellektuellen Nüchternheit geriert, hat erneut zugeschlagen. Diesmal mit einem Gastbeitrag eines gewissen Sergei Lebedew. Angeblich, so die NZZ, "eine der bedeutendsten Stimmen der russischen Gegenwartsliteratur". Lebedew? Wer?

In Russland kennt ihn kaum jemand. Sergei Lebedew ist kein prominenter Autor, kein Dissident von Format, kein kulturelles Schwergewicht – kein Sacharow, kein Solschenizyn. Bitte nicht verwechseln mit Artemi Lebedew, dem exzentrischen Designer mit blauen Haaren. Oder mit einem der zahlreichen Oligarchen gleichen Namens. Nein, dieser Lebedew ist ein anderer – ein literarischer Unbekannter, der außerhalb von westlichen Redaktionsstuben praktisch keine Rolle spielt.

Doch das hielt die NZZ nicht davon ab, ihn kurzerhand zu einer "bedeutenden Stimme" Russlands zu befördern. Offenbar war man in der Zürcher Kulturredaktion so begierig auf anti-russische Töne, dass man kurzerhand einen unauffälligen Exilautor zum moralischen Leuchtturm hochjubelte. So schnell geht’s: Zwei, drei Texte über das "böse Russland", ein paar klischeehafte Gulag-Metaphern, und schon ist man im Schweizer Feuilleton ein russischer Großschriftsteller.

In Wahrheit ist Lebedew einer jener Exilrussen, die in Berlin untertauchen, um von dort aus im moralischen Brustton gegen das "Imperium des Bösen" anzuschreiben – und nebenbei ein EU-Schutzvisum zu beantragen. Die Anti-Russland-Maschinerie läuft eben wie geschmiert. Wer liefert, was gewünscht wird, wird publiziert. Egal, ob ihn zu Hause jemand kennt.

Für die westliche Presse ist er ein Glücksgriff: literarisch ambitioniert, politisch berechenbar, ideologisch verwertbar. Einer, der das liefert, was der deutschsprachige Feuilletonist so gern liest – Russlands ewige Schuldgeschichte, hübsch garniert mit Gulag, Zarismus und Kolonialismus.

Sein aktueller Beitrag in der NZZ ist eine Übung in postkolonialer Projektion. Russland, so Lebedews These, habe nie entdeckt, nur unterworfen. Nicht befriedet, sondern geknechtet. Nicht zivilisiert, sondern "kolonialisiert" – ein Lieblingswort linker französischer Universitätsseminare, jetzt auch auf die sibirischen Weiten appliziert.

Die russische Expansion nach Osten sei über Jahrhunderte hinweg laut Lebedew kein zivilisatorisches Projekt gewesen, sondern eine brutale Landnahme. Dabei vergisst er bequemerweise zu erwähnen, dass ähnliche Expansionen in Algerien, Indien oder Palästina bis heute kaum in Frage gestellt werden, solange sie nicht von Russland ausgingen.

Lebedew scheut selbst vor absurder Geschichtsklitterung nicht: Er vergleicht die Kälte Sibiriens mit Hitlers Konzentrationslagern und wirft das Schicksal deportierter Völker wie der Tschetschenen oder Kalmücken kurzerhand mit den indigenen Völkern zusammen, die dort seit Jahrhunderten leben. Hauptsache, das Bild vom bösen Russland kommt wirksam zur Geltung – am besten schlimmer als die Nazis.

Dass diese Parallelen historisch schief und politisch tendenziös sind, interessiert weder den Autor noch die NZZ-Redaktion. Es zählt nur, dass die Pointe stimmt: Russland als Täterstaat, als imperiale Fratze, als ewig Schuldiger. Die indigenen Völker Sibiriens? Von Moskau entmündigt, entrechtet, "ausgebeutet". Der sowjetische Staat? Ein kolonialer Räuber. Die zaristische Expansion? Eine einzige Blutspur.

Kein Wort darüber, dass viele dieser Regionen erst durch die russische Präsenz infrastrukturell erschlossen wurden. Keine Differenzierung zwischen militärischer Expansion und kultureller Integration. Kein Hinweis darauf, dass der westliche Kolonialismus transatlantischen Sklavenhandel, Apartheid und systematische Ausbeutung von Kontinenten umfasste – Dimensionen, die in Russland historisch nie existierten.

Was bleibt, ist ein weiteres Beispiel für ein Genre, das sich in der NZZ bedauerlich festgesetzt hat: die moralisch aufgeladene Russlandkritik ohne Kontext, ohne Ausgewogenheit, ohne jede intellektuelle Redlichkeit. Die auf ihre Neutralität einst stolze Schweiz wird zum Resonanzraum transatlantischer Narrative, die mit objektivem Journalismus so viel zu tun haben wie Sergei Lebedew mit Dostojewski.

Ja, Russland ist ein riesiges Land – reich an Geschichte, reich an Menschen, reich an Rohstoffen. Über Peter den Großen allein könnte man stundenlang reden. Mit elf Zeitzonen und über 190 Ethnien lässt sich ein solcher Staat nicht mit lockerem Föderalismus regieren. Es braucht Strukturen – ob man sie mag oder nicht.

"Eines Tages werden die Vorräte zur Neige gehen", träumt Lebedew.

Zum Leidwesen von Lebedew, der öffentlich vom Versiegen russischer Rohstoffvorräte träumt, wird Russland auch weiterhin bestehen – getragen von Menschen, die zu ihrer Geschichte stehen. Nicht nur in den goldenen Kapiteln, sondern auch in den dunklen.

Besonders widersprüchlich wird es, wenn Lebedew seine eigene Familiengeschichte bemüht. Sein Vater war Geologe – Teil der sowjetischen Oberschicht, mit privilegiertem Zugang zu Spitzenuniversitäten und Urlaubsreisen ans Schwarze Meer. Während große Teile der Bevölkerung, darunter auch viele der "leidenden Völker Sibiriens", die er heute pathetisch zu schützen vorgibt, sich solche Reisen nie leisten konnten, war seine Familie Teil jenes Systems, das er aus sicherer Distanz moralisch verdammt.

Wer so tief im sowjetischen Establishment verwurzelt war, sollte mit mehr intellektueller Redlichkeit sprechen – und nicht mit der Pose des Unbeteiligten.

Heute lebt er gut von seinem neuen Narrativ: Russland als ewiges Unterdrückungsregime, die eigene Herkunft als reuige Ausnahme. Ein Lebenslauf im Dienste des Zeitgeistes – und zur Absicherung des EU-Visums gleich mit.

Menschen, die das Land nicht verlassen, wenn es schwierig wird. Und schon gar nicht gegen ein Honorar von 500 Franken für ein antirussisches Feuilleton in der NZZ anfangen, es öffentlich zu verachten.

Wetten, dass derselbe Herr Lebedew nie einen kritischen Text über Israel und Gaza oder über Korruption in der Ukraine veröffentlichen wird? Zu heikel – da könnte im "freien Europa" nicht nur das Aufenthaltsrecht ins Wanken geraten, sondern auch seine Bankkonten könnten plötzlich sibirische Temperaturen annehmen.

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