Von Susan Bonath
Internationalistisch, antifaschistisch, propalästinensisch, antizionistisch – "gewaltorientiert": Mit solchen Attributen belegt das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) in Sachsen-Anhalt seine Erzfeinde – und hat mehr Gruppen als in den Jahren davor ins Visier genommen, die er für antiimperialistisch hält. Seinen Gewalt-Vorwurf belegt der Inlandsgeheimdienst dabei nicht etwa anhand entsprechender Taten. Vielmehr führt er friedliche Demonstrationen, Infostände und öffentliche Kritik an deutschen Waffenlieferungen, Kapitalismus, Kolonialisierung und Völkermord ins Feld.
Das geht aus seinem neuen Bericht für 2024 hervor. Darin stuft er die "antiimperialistische und propalästinensische Szene" in der Landeshauptstadt Magdeburg sogar im bundesweiten Kontext als besonders bedeutsam ein. Die Gründe dafür sind so interessant wie die Sprache, die zunächst einmal verdeutlicht: Wer als braver Bürger gelten will, sollte wohl das Gegenteil der oben genannten politischen Haltung aufweisen: nationalistisch, zionistisch, antipalästinensisch und – es fällt schwer, das direkt auszusprechen – antifaschistisch ohne "anti".
Wie Magdeburg zur "antiimperialistischen Bastion" wurde
Wer schon öfter demonstriert hat, ob für Frieden, gegen Waffenexporte oder die Corona-Politik, der kennt ein deutsches Phänomen: USA- und Israel-Flaggen schwenkende Gegendemonstranten. Das sind sogenannte "Antideutsche", die mit "links" so wenig zu tun haben wie die Grünen. Sie tauchen zwar meist in kleiner Anzahl auf, sind dafür aber um so lauter. In Magdeburg ist nichts davon zu sehen. Den Verfassungsschutz ärgert das sichtlich: Die "Szene" habe dort "Strukturen erhalten" können, die ihren "antiimperialistischen Dogmatismus gegen konkurrierende Strömungen im Linksextremismus durchzusetzen versuchen".
Abgesehen davon, dass Neoliberalismus und Antikommunismus auch nur Dogmen sind: Der Ärger des Geheimdienstes ist aus dessen Sicht so unberechtigt nicht. Ein Blick in die Vergangenheit, die die Autorin hautnah miterlebte, ist hier hilfreich für ein tieferes Verständnis.
Im Sommer 1990 waren wir wenige, die in Magdeburg gegen die westliche Annexion ihres Staates protestierten. Damals war die Realität ziemlich gewalttätig. Schon vor dem endgültigen Ende der DDR hatten sich NPD-Funktionäre aus dem Westen im Osten ausgebreitet. In den Wirren von Zerfall und zunehmender Arbeitslosigkeit rekrutierten sie emsig junge Leute; Neonazi-Kameradschaften schossen wie Pilze aus dem Boden. Oft zu Dutzenden überfielen sie uns regelmäßig. Für Linke war es auf der Straße sehr gefährlich, zumal die Politik, bald übernommen von Kadern aus dem Westen, nur wegschaute, wenn sie uns jagten.
Im Westen hatten sich derweil auch die "Antideutschen" etabliert. Aus ihrem "Antifaschismus" aber wurde bald eine transatlantische Fixierung auf die USA und Israel. Sie machten sich Jahre später ebenso auf, um den "braunen" Osten zu erobern. In Städten wie Halle, Leipzig, Dresden und Berlin gelang es ihnen, sich an Unis und in der PDS, später Linkspartei, auszubreiten. Magdeburg hingegen blieb bis Anfang der 2000er Jahre davon weitgehend verschont. Sie hatten die Stadt an der Elbe wohl schlicht übersehen.
Ab Mitte der Nuller-Jahre unternahm die "antideutsche Szene" dann umso vehementere Versuche der Unterwanderung. In der Linkspartei klappte das sogar ganz gut. Doch längst hatten sich in Magdeburg Strukturen außerhalb des Parlamentarismus etabliert, an denen sich die "Antideutschen" sprichwörtlich die Zähne ausbissen. Sie scheiterten letztendlich kläglich – heute sind sie wie vom Erdboden verschluckt.
Mit Polizeilügen die öffentliche Meinung beeinflussen
Zurück zur Gegenwart, zum frustrierten Geheimdienst, zu den Gewalt- und Antisemitismus-Vorwürfen: Die Presse bemüht sich (nicht erst seit dem 7. Oktober 2023) emsig, Palästina-Demonstranten als notorische Gewalttäter darzustellen.So gingen beispielsweise im Mai dieses Jahres Polizeimeldungen durch die deutschen Leitmedien, wonach Palästina-Demonstranten in Berlin "massive Gewalt" gegen Polizisten ausgeübt hätten – was sich wenig später als glatte Lüge herausstellte.
Auch der öffentlich-rechtliche Berliner RBB hatte damals derart berichtet. Fast zwei Monate später kam der Sender aufgrund geprüfter Videobeweise um eine Richtigstellung nicht herum: Die Gewalt ging tatsächlich von der Polizei selbst aus, räumte er ganz vorsichtig mit vielen Konjunktiven ein.
Fazit: Die Polizei hatte – nicht zum ersten Mal – gelogen. Und die Leitmedien hatten diese Lügen – auch nicht zum ersten Mal – ohne jede Gegenrecherche übernommen und verbreitet. Das Problem dabei: So eine Richtigstellung nimmt im Nachhinein fast niemand mehr zur Kenntnis. Der falsche Vorwurf, ein gewalttätiger Mob zu sein, bleibt an den Demonstranten ewig kleben. Das ist so ähnlich wie mit israelischen Hasbara-Geschichten von "menschlichen Schutzschilden" und "Hamas-Kommandozentralen" unter jedem Krankenhaus. Es geht dabei nur darum, die öffentliche Meinung nachhaltig zu beeinflussen.
Tatsachen leugnen für die Staatsräson
Auffällig ist überdies, wie Politiker und Medien seit vielen Jahren an der Verschwörungstheorie vom "linken Antisemitismus" spinnen. Dieser sei geradezu ein Kernbestandteil bei Antiimperialisten, heißt es häufig. Um ihren angeblichen Antisemitismus auszuleben, machten diese sich sogar mit Islamisten gemein. Auch in diesem und anderen Verfassungsschutzberichten finden sich Versatzstücke dieser Erzählung. Dabei widerspricht sich der Geheimdienst sogar selbst. Denn vor einem Jahr erklärte dieser:
"Dennoch basiert die Agitation von Linksextremisten gegen den Staat Israel nicht auf antisemitischen Beweggründen und richtet sich nicht gegen Jüdinnen und Juden als solche. Sie ist vielmehr im antiimperialistischen Weltbild (...) begründet, wonach Israel "Kapitalismus" und "Imperialismus" zugeschrieben wird."
Entgegen seinen eigenen Feststellungen zuvor würfelt das LfV in seinem Bericht dann wieder munter Kritik an Israels Massenmord in Gaza und Juden allgemein zusammen, was selbst einem antisemitischen Klischee entspricht. So begründet er den konstruierten Antisemitismus von Antiimperialisten im Bericht:
"Unter Rückgriff auf antizionistische und antikolonialistische Narrative wurde der Staat Israel wiederholt und pauschal als "Besatzungsmacht" und "Terrorregime" verunglimpft."
Anders ausgedrückt: Man muss in Deutschland also – selbst als Jude – Zionist und für kolonialistische Unterdrückung sein, um nicht ins staatliche Visier zu geraten. Außerdem darf man eine sogar von der Bundesregierung amtlich festgestellte Besatzung nicht Besatzung, die Besatzer nicht Besatzer nennen. Kurz gesagt: Der brave Bürger soll gefälligst Tatsachen leugnen, um sich nicht verdächtig zu machen.
Beobachtete "Beobachtungsverschwörungstheoretiker"
Die widersprüchliche Fantasiewelt des Verfassungsschutzes geht diesbezüglich noch ein Stückchen weiter. So schreibt er zur antiimperialistischen Gesinnung der Beobachteten:
"Zudem wurde eine angebliche systematische und rassistisch motivierte Unterdrückung von Palästinensern und von sogenannten "palästinasolidarischen" Meinungsäußerungen in Deutschland behauptet."
Mit anderen Worten: Der brave Bürger darf organisierte Unterdrückung Palästinas, wie von Israel betrieben, nicht als systematisch bezeichnen. Die Meinung, dies sei rassistisch motiviert, darf er auch nicht äußern. Dann wird es noch skurriler: In einem Bericht, in dem der Geheimdienst zugibt, Gruppen wegen ihrer "antiimperialistischen" und "propalästinensischen" Gesinnung zu beobachten, deutet er zugleich an, die Beobachteten hätten sich ihre "Behauptung", wegen ihrer Meinung unterdrückt zu werden, nur ausgedacht.
"Gewaltorientierte" Infostände
Doch wie begründet nun der Geheimdienst seine Zuordnung "gewaltorientiert"? Bestimmte Taten belegt er nicht. Man stößt stattdessen auf Adjektive, wie "marxistisch", "antikapitalistisch", "internationalistisch", "antifaschistisch" und "antikolonialistisch", mit denen das LfV die "Agitationsmuster" der Beobachteten beschreibt. Und "ganz schlimm": Die dort verortete Gruppe "Palästina-Solidarität Magdeburg" habe sogar
"regelmäßig sogenannte "Palästina-Infostände" an verschiedenen Orten im Magdeburger Stadtgebiet (organisiert), mit denen sie über den von ihr behaupteten "anhaltenden Völkermord in Gaza" informieren wollte".
Dafür, so heißt es weiter, habe sie tatsächlich eine eigene Broschüre mit "israelfeindlichen Inhalten" erstellt. Für letztgenannte Behauptung stützt sich der Verfassungsschutz unter anderem darauf, dass dort von "israelischer Apartheid" gegenüber Palästinensern die Rede sei. Das ist jedoch, wie der Völkermord, nur eine "Behauptung", wenn auch sogar der Internationale Gerichtshof und viele Menschenrechtsorganisationen diese genauso aufstellen und entsprechend begründen. In Deutschland macht einen das jedoch zum Staatsfeind.
Klassenkampf von oben
Nun hat so eine Beobachtung auch Folgen. Betroffene müssen damit rechnen, von staatlichen Spitzeln wie V-Leuten oder Staatsschutz-Provokateuren unterwandert zu werden. Der Staat zielt damit nicht zuletzt auf die Außenwirkung: Mit Verfassungsfeinden will keiner was zu tun haben. Und wer doch was mit ihnen zu tun hat, vielleicht nur aus Versehen, gerät wahrscheinlich gleich mit ins geheimdienstliche Visier.
So soll der brave Bürger lieber seine Klappe halten. Er soll nicht gegen Krieg und Waffenlieferungen, nicht gegen staatliche Repressionen und Polizeigewalt demonstrieren. Er soll gefälligst schweigend zusehen, wie Israel mit deutschen Waffen und deutscher Unterstützung Menschen im Westjordanland vertreibt und im Gazastreifen massenhaft Zivilisten zerbombt, ja sorgfältig geplant gerade verhungern lässt. Verbrecher und ihre Gehilfen lassen sich nun mal nicht gern in die Karten gucken. Die wahre Staatsräson heißt daher: Duckmäusertum.
Dass Imperialisten also Antiimperialisten politisch verfolgen, obwohl das Grundgesetz freilich niemandem eine proimperialistische Gesinnung vorschreibt, ist nicht verwunderlich. Wo die staatliche Propaganda versagt, greifen Regierende fast immer zur Repression. Die wird in Krisenzeiten oft sogar zum bevorzugten Mittel der Wahl. Das trifft keineswegs nur die verhassten Antiimperialisten, wie man zum Beispiel an der 2021 hinzugekommenen Beobachtungskategorie "Delegitimierung des Staates" sehen kann. Danach kann es praktisch jeden treffen, der staatliches Vorgehen zu laut kritisiert.
Der gemeine Antiimperialist hat dafür sogar einen trefflichen Allroundbegriff: Klassenkampf von oben. Dagegenhalten müsse man mit Klassenkampf von unten. Klar, mit der Rhetorik wird jeder schnell zum Staatsfeind – und unscheinbare Städte wie Magdeburg zur Bastion des Bösen.
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