Abtreibung à la Brosius-Gersdorf: Scheindebatten und schwindende Menschlichkeit

Im Hintergrund der Debatte um Brosius-Gersdorf scheint es um den Paragrafen 218 StGB zu gehen, also um die Frage der Abtreibung. Aber letztlich ist das, was die Kandidatin fürs Verfassungsgericht dazu sagt, eine Antwort, die zur heutigen Frage gar nicht mehr passt.

Von Dagmar Henn

Hat die als Verfassungsrichterin vorgeschlagene Frauke Brosius-Gersdorf nun eine angreifbare Position zum Thema Schwangerschaftsabbruch vertreten oder nicht? Nachdem vor der gescheiterten Wahl vor allem ein Satz zirkulierte, der aus ihrer Stellungnahme im Rechtsausschuss zu einem Gesetzentwurf zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs vom 10.02.2025 stammt (der es übrigens nicht bis zur Befassung im Bundestag schaffte). "Dabei sprechen gute Gründe dafür, dass das verfassungsrechtliche Lebensrecht pränatal mit einem geringeren Schutzstandard gilt als für den geborenen Menschen."

Und ja, die vielen Artikel, die in den letzten Tagen verfasst wurden, um diesen Satz der Juristin in den richtigen Zusammenhang zu setzen, haben insofern recht, als diese Aussage nicht ganz so radikal ist, wie sie auf den ersten Blick klingt. Der Gesetzentwurf, auf den sich diese Stellungnahme bezog, ist auch nicht wirklich radikal. Er entspricht, was den Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen betrifft, in etwa der Regelung, wie sie in der DDR bis 1990 üblich war; die Beratung vor einer Abtreibung bleibt erhalten, darf auch nicht durch den Arzt durchgeführt werden, der den Eingriff vornimmt, aber die dreitägige Wartezeit zwischen Beratung und Eingriff entfällt und die Krankenkassen sollen künftig dafür zahlen (was sie bisher nicht tun, weil eine Schwangerschaftsunterbrechung unter den bisherigen Regelungen zwar straffrei, aber eben nicht legal ist).

Schon zu Zeiten der Weimarer Republik war der § 218 des Strafgesetzbuches, der Schwangerschaftsabbrüche seit 1871 unter Strafe stellt, im Mittelpunkt politischer Auseinandersetzungen. In der Bundesrepublik gab es ab Anfang der 1970er eine starke Bewegung für die Legalisierung. Wobei der entscheidende Punkt war, dass die Illegalität von Schwangerschaftsabbrüchen nicht einfach nur die Entscheidungsmöglichkeiten von Frauen einengt, sondern vor allem, dass die Abbrüche trotzdem stattfanden, aber unter lebensgefährlichen Bedingungen, zumindest für die Ärmeren. 1974 gab es einen ersten Anlauf, eine Fristenregelung einzuführen, also genau jene Freigabe eines Abbruchs in den ersten zwölf Wochen, die auch der Kern des derzeitigen Gesetzentwurfs ist. 1975 wurde dies vom Verfassungsgericht gekippt.

Der letzte Versuch einer offeneren Neuregelung des § 218 StGB im Jahr 1992, der durch den Anschluss der DDR ausgelöst wurde, scheiterte 1993 an einem Urteil des Verfassungsgerichts. Das liegt inzwischen 30 Jahre zurück. Insofern ist auch die von Brosius-Gersdorf getroffene Aussage, es sei dem Gesetzgeber nicht verboten, eine einmal vom Verfassungsgericht aufgehobene gesetzliche Regelung erneut zu beschließen, korrekt – schließlich geht es im Kern seit einhundert Jahren um dieselben Fragen.

Und trotzdem wirkt die ganze Auseinandersetzung, die nun um die Aussagen dieser Juristin entstanden ist, etwas, das wie in der Zeit verrutscht wirkt. Denn die Welt drumherum ist nicht dieselbe.

Eine Abtreibung als Kassenleistung ändert für viele der betroffenen Frauen gar nichts, weil bisher für Bedürftige die Bundesländer die Kosten übernehmen, aber womöglich sehr wohl für die Ärzteschaft. Die zwar einerseits von der latenten Drohung, sich doch irgendwie strafbar zu machen, befreit wird, andererseits aber womöglich in dem Moment, in dem es sich um eine Kassenleistung handelt, zur Durchführung verpflichtet werden kann, wenn auch nicht formell, weil der Gesetzestext es eigentlich ausschließt (praktisch heißt das einfach, die Frage, ob die Bereitschaft besteht, alle Kassenleistungen zu erbringen, wird Teil von Einstellungsgesprächen und Zulassungen).

Das mag man sinnvoll finden oder nicht (eines der Probleme in Deutschland ist, dass die Praxen, die tatsächlich eine Abtreibung vornehmen, dünn gesät und auf dem Land nicht zu finden sind), aber man sollte es zumindest offen aussprechen, wenn man auf diesen Punkt zielt – und nicht die Schwangeren als Rechtfertigung nutzen, wenn es bei der Frage Kassenleistung oder nicht gar nicht wirklich um die Finanzierung geht.

Die Argumente, die Brosius-Gersdorf für den Gesetzentwurf vortrug, sind nicht wirklich neu. Kernpunkt ist, dass der Embryo außerhalb des mütterlichen Körpers nicht lebensfähig ist. In diesem Zusammenhang muss man allerdings sagen, dass seit 1993 der Zeitpunkt, ab dem das nicht mehr gilt, deutlich weiter nach vorn gerutscht ist – inzwischen überleben Frühgeburten bereits ab der 21. Schwangerschaftswoche. (Übrigens, als kleine historische Absurdität – Anfang des 19. Jahrhunderts sah die Kirche den Beginn des menschlichen Lebens teils erst am 80. Tag nach der Empfängnis, und es waren die Mediziner, die ihn weiter nach vorn verschoben).

Es gibt auch andere Entwicklungen, die man sich damals, 1993, beim letzten Anlauf einer Neuregelung, noch nicht vorstellen konnte. Leihmutterschaften gegen Bezahlung beispielsweise. Oder andere Dinge, die in Deutschland illegal sind, aber andernorts praktiziert werden – wie eine Auswahl zwischen mehreren befruchteten Eizellen nach unterschiedlichen Kriterien …

Gleichzeitig hat sich auch das Umfeld für Schwangerschaften geändert. Alle Möglichkeiten für Frauen, die Kontrolle über Schwangerschaft und Geburt zu behalten, wie Hausgeburten und Geburtshäuser, die einmal mühsam erkämpft wurden, wurden seit der Veränderung der Haftpflichtregelungen für Hebammen zunichtegemacht. Zudem sorgt der zunehmende Mangel an Geburtsstationen für eine noch stärkere technische Regulierung – in weiten Teilen des Landes haben werdende Mütter keine Entscheidungsfreiheit mehr, wie sie ihr Kind zur Welt bringen, sondern müssen froh sein, wenn sie irgendwo unterkommen.

Seit Juli 2022 sind nichtinvasive Pränataltests eine Kassenleistung. Diese Tests, die aus dem Blut der Schwangeren die Information ermitteln, ob beim Kind eine Trisomie vorliegt, haben deutliche Konsequenzen: "Durchschnittlich entscheiden sich neun von zehn Frauen und Paaren bei der Diagnose Trisomie 21 für einen Schwangerschaftsabbruch", teilte die Behindertenbeauftragte Baden-Württembergs im Jahr 2024 mit. Aber im Gegensatz zur zumindest in den 1980ern und 1990ern geradezu allgegenwärtigen Debatte rund um den § 218 gab es nichts dergleichen bezogen auf die Frage, ob Kinder mit Trisomie 21 abgetrieben werden sollen. Auch wenn unter diesen Bedingungen die zeitlich unbegrenzt mögliche Abtreibung aus medizinischen Gründen den Menschen noch weit mehr als Objekt, als Produkt behandelt als ein aus sozialen Gründen durchgeführter Abbruch zu Schwangerschaftsbeginn.

Und dann gibt es noch Beratungsziele und Lebensbedingungen. Auch im neuen Gesetzentwurf hieß es, die Beratung umfasse "das Angebot, die schwangere Frau bei der Geltendmachung von Ansprüchen, bei der Wohnungssuche, bei der Suche nach einer Betreuungsmöglichkeit für das Kind und bei der Fortsetzung ihrer Ausbildung und Berufstätigkeit zu unterstützen, sowie das Angebot einer Nachbetreuung". In der Formulierung liegt der Hauptunterschied darin, dass die Beratung nicht mehr auf eine Fortsetzung der Schwangerschaft abzielen soll. Aber "bei der Wohnungssuche (…) zu unterstützen"?

Das ist aktuell in Deutschland nicht mehr als ein schlechter Scherz. 1993, als das Verfassungsgerichtsurteil fiel, gab es in Deutschland noch 2,9 Millionen Sozialwohnungen. Inzwischen sind es höchstens noch 1,1 Millionen. Was soll also die Beratung als Perspektive anbieten, vor allem, wenn längst selbst für Menschen mit gutem Einkommen (und ohne Haustiere oder gar Kinder) die Wohnungssuche schwierig ist?

Die Betreuungsmöglichkeiten unterscheiden sich regional extrem. Und die Lebensbedingungen mit einem Neugeborenen würden in vielen Fällen für Frauen, die einen Grund sehen, eine Schwangerschaft abzubrechen, von Grundsicherung definiert. Ob diese nun Hartz IV oder Bürgergeld oder wie auch immer heißt – ist jedenfalls nichts, was man mit gutem Gewissen empfehlen könnte.

Womit wir uns langsam dem Punkt nähern, der diese ganze Debatte so absurd macht. Wobei Brosius-Gersdorf in diesem Zusammenhang nur belegt, dass ihre Wahrnehmung der Wirklichkeit, wenn es um Schwangerschaftsunterbrechungen geht, ebenso eingeschränkt und undifferenziert ist wie in der Frage der Corona-Impfungen. Man würde sich jemanden wünschen, der nicht aus dem juristischen Elfenbeinturm argumentiert, der Menschlichkeit, nicht Prinzipienreiterei bietet.

Denn 2024 ist nicht 1993 und schon gar nicht 1977. Auch wenn die vorgeschlagene Gesetzesänderung nicht grundsätzlich schlecht ist – wenn man darüber nachdenkt, wo die Entscheidungsfreiheit von Frauen im Zusammenhang mit dem Bekommen oder Nichtbekommen von Kindern eingeschränkt wird, geht es längst nicht mehr primär um die Frage, ob ein Abbruch gefahrfrei möglich ist. In Wirklichkeit ist die Änderung, die Brosius-Gersdorf so vehement vertritt, eine alte Antwort auf eine alte Frage.

Heute gibt es ein ganz anderes Problem. Wenn man sich wirklich für die Entscheidungsfreiheit von Frauen einsetzen will, dann muss auch die andere Option existieren. Dann muss es möglich sein, Kinder aufzuziehen, nicht nur als Paar, sondern auch alleine, ohne unter beständiger Armut zu leiden. Genau an diesem Punkt ist alles völlig aus dem Gleichgewicht geraten, und selbst die Kirchen empören sich jetzt vielleicht über die Aussagen von Brosius-Gersdorf, aber haben längst vergessen, sich zum sozialen Aspekt der ganzen Frage auch nur zu äußern. Während also die Regelung seit 1993 unverändert ist, haben sich die Voraussetzungen für eine Entscheidung für ein Kind massiv verschlechtert, und während ein Schaukampf ausgefochten wird, in dem es um ein "Recht auf Abtreibung" geht, müsste längst ein Recht auf Mutterschaft verteidigt werden.

Einige Entwicklungen, die Ausgeburten der neoliberalen Ideologie sind, bieten sogar eine Grundlage für die Befürchtung, dass der Druck, eine Schwangerschaft nicht auszutragen, deutlich zunehmen könnte. Denn einerseits gibt es die kanadische Entwicklung rund um das Recht auf assistierten Suizid, bei der bei sozialen Problemen wie Wohnungslosigkeit oder jüngst einer durch die Corona-Injektion ausgelösten Lähmung die Behörden immer öfter auf die Möglichkeit des Todes als "Problemlösung" verweisen; und andererseits gibt es, und das gab es auch 1993 noch nicht, eine Nachfrage nach embryonalen Stammzellen. Die scheinbare Stärkung weiblicher Entscheidungsfreiheit durch die Einführung einer Fristenregelung könnte unter den heutigen Umständen das genaue Gegenteil bewirken.

Und nun zurück zur Ausgangsfrage: Was besagt das alles über die Qualifikation von Frauke Brosius-Gersdorf zur Verfassungsrichterin? Bei jedem öffentlichen Auftritt wirkt sie wie jemand, der erfolgreich mit der juristischen Logik jongliert, aber nie erweckt sie den Eindruck einer mitfühlenden, nachdenklichen, selbstkritischen Person, ganz im Gegenteil. Doch selbst unter günstigsten Bedingungen bleibt jedes Gesetz, jedes Recht ein Versuch einer allgemeinen, abstrakten Regelung, die notwendigerweise immer wieder mit der konkreten Gerechtigkeit kollidiert. Alle klassischen Erzählungen, die das gesellschaftliche Bild von Richtern formen, angefangen mit Salomo, drehen sich um genau diesen Punkt: die Weisheit zu besitzen, diesen Widerspruch zu erkennen, und der Gerechtigkeit ihren Raum zu verschaffen.

Sicher ist jedes reale Rechtssystem von diesem Idealbild entfernt. Aber gerade die deutsche Erfahrung willfähriger Justiz sollte lehren, dass das erfolgreiche Hantieren mit theoretischem Recht mitnichten vor einer völligen Entgleisung bewahrt, sondern sie eher fördert. Die Fragen der Menschenwürde, der Schutz der individuellen Entscheidungsfreiheit vor dem staatlichen Zugriff sind die eigentliche Aufgabe des Verfassungsgerichts, was im Kern besagt, dass es sich zwischen den beiden Antipoden Recht und Gerechtigkeit bewegen muss, mit der gebotenen Vorsicht, die wiederum ein gewisses Maß an Selbstkritik voraussetzt.

Die gesamte Entwicklung der deutschen Justiz in den letzten Jahren ist befremdlich, was sicher auch damit zu tun hat, dass sie eben wieder zu jenem Spielfeld der Vermögenderen geworden ist, das sie in der Weimarer Zeit war. Und dass sich die gesamte deutsche Gesellschaft weiter entmischt hat. Das Verfassungsgericht war immer unter Kontrolle der Parteien, auch wenn sich der Griff in den letzten Jahren verstärkt hat. Doch gerade das wäre ein Grund, ins Gedächtnis zu rufen, welche Art Richter es an diesen Positionen tatsächlich brauchte. Brosius-Gersdorf jedenfalls ist es nicht.

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