Das Ahrtal und der innere Zerfall Deutschlands

Knapp vier Jahre nach der Ahrtal-Katastrophe sind die Schäden noch immer nicht vollständig behoben. Nach dem Einsturz der Carola-Brücke in Dresden im vergangenen Jahr ist dort kaum etwas passiert. Deutschland zerfällt von innen. Fatalismus und Dekadenz dominieren das Land.

Von Gert Ewen Ungar

Es ist eine unglaubliche Nachricht. Unter dem Titel "Bahnstrecke soll wieder zur Lebensader werden" berichtet die ARD-Nachrichtensendung Tagesschau über den Wiederaufbau der Bahntrasse im Ahrtal. "Nun geht der Wiederaufbau in die entscheidende Phase", schreibt Tagesschau Redakteurin Lucretia Gather ganz unironisch in den Teaser der Meldung und tut so, als wäre alles in bester Ordnung.

Dabei ist die Geschichte von Brisanz. Die eigentliche Meldung lautet, knapp vier Jahre nach der Flutkatastrophe im Ahrtal sind die Sanierungsarbeiten noch immer nicht abgeschlossen. Daran anschließend stellt sich die Frage, ob man in Deutschland denn völlig den Verstand verloren hat? Die Hochwasserkatastrophe ereignete sich im Sommer 2021. 2025 gehen Tunnelarbeiten "in die entscheidende Phase", stehen also bei Weitem noch nicht vor dem Abschluss. 

Ausgehend davon habe ich mich an den Einsturz der Carolabrücke in Dresden im September des vergangenen Jahres erinnert. Ich könnte mal recherchieren, was dort inzwischen passiert ist, dachte ich. Die Recherche brachte eine schnelle Antwort. Sie lautet: nichts. Es wurde eine Firma mit dem Abriss beauftragt, der bis Ende des Jahres durchgeführt werden soll. Die Abrissarbeiten wurden von Blindgängerfunden aus dem Zweiten Weltkrieg verzögert. Ein Neubau der Brücke ist eventuell ab 2027 geplant. Ob die Stadt Dresden es schafft, den Neubau einer 375 m langen Brücke zu stemmen, ist fraglich. Es werden Spenden gesammelt. 

Ich weiß nicht, ob man sich im politisch-medialen Establishment in Deutschland darüber im Klaren ist, aber diese Zustände sind unhaltbar. Sie entfernen die Menschen von der Politik, denn dadurch erodiert jedes Vertrauen. Der Staat hat seine Fürsorgepflicht und seine Schutzverantwortung gegenüber den Bürgern aufgegeben. Die deutschen Zustände entsprechen nicht einem Land, das sich zur ersten Welt zählt. Das sind Zustände, für die sich Entwicklungsländer schämen würden. Sie sind Hinweis auf einen völlig maroden Zustand der staatlichen Struktur, der politischen Kultur. Sie weisen zudem darauf hin, dass der Journalismus seine korrigierende Funktion völlig aufgegeben hat.

Lucretia Gather schreibt für die Tagesschau auf, was in den Bahntunneln des Ahrtals schon alles passiert ist und noch passieren wird. Dort, wo man Empörung lesen müsste, liest man Bewunderung. Deutschland ist inzwischen völlig desolat. So heruntergekommen, dass es ihm selbst noch nicht einmal mehr auffällt. Der desolate Zustand wird einfach hingenommen. Deutschland ist im Zustand völliger Dekadenz angekommen. 

Die großen deutschen Medien, deren Aufgabe es wäre, darauf hinzuweisen, dass es massive Defizite in allen Bereichen gibt, erklären Versagen zur Normalität. Es ist aber nicht normal, wenn vier Jahre nach einer Naturkatastrophe die Schäden noch immer nicht vollständig beseitigt sind. Das Immunsystem der Demokratie, der kritische Journalismus, ist in Deutschland inzwischen funktionsunfähig und selbst schwer krank. Er ist Teil des Problems. Ein unglaublicher Fatalismus beherrscht die zentralen Schalt- und Schnittstellen der deutschen Gesellschaft. Politik profitiert davon, denn sie wird in die Verantwortungslosigkeit entlassen. Sie kann sich inzwischen alles erlauben, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. 

Bei der Flutkatastrophe im Ahrtal starben mindestens 135 Menschen. Zur Verantwortung gezogen wurde dafür bisher niemand, obwohl der Wetterdienst damals frühzeitig gewarnt hatte. Im Gegenteil hat die Staatsanwaltschaft Koblenz die Ermittlungen im April 2024 eingestellt, berichtet die Legal Tribune Online. Angehörige der Opfer wollen das nicht hinnehmen und fordern per Petition, dass das Ermittlungsverfahren weitergeführt wird. Vier Jahre nach dem staatlichen Versagen, das zur Katastrophe geführt hat, herrscht auch juristisch reiner Fatalismus. 

Der ganz große Witz an den herrschenden deutschen Zuständen ist, dass dieses Land, das klar erkennbar von innen heraus zerfällt, sich von außen bedroht sieht, aufrüsten und gegen Russland und am besten auch gleich noch gegen Trump in den Krieg ziehen will. Nichts macht den Realitätsverlust deutscher Politik so deutlich, wie die Aufrüstungspläne der Bundesregierung, die in krassem Kontrast zu den den real existierenden Zuständen stehen, wie sie sich im Ahrtal und in Dresden zeigen. In Deutschland haben die politischen Entscheider und die mit ihnen verbandelten Medien des Mainstreams den Kontakt zu Realität vollständig verloren. Deutschland wird nicht von außen, sondern von der Dekadenz im Innern in seiner Existenz bedroht. 

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