Von Dagmar Henn
Es ist ein wirklich seltsames Interview, das BND-Präsident Bruno Kahl vor einigen Tagen mit der Deutschen Welle führte. Schon an sich eine Seltenheit, weil der Job des Chefs des Auslandsnachrichtendienstes wenig damit zu tun hat, in der Öffentlichkeit aufzutreten, auch wenn Kahl in letzter Zeit öfter als Sprechpuppe zur Verfügung stand, und das auch noch zu Themen, die gar nicht in seine Zuständigkeit fallen.
Aber dieses Interview hatte noch andere Besonderheiten. Das beginnt mit der Interviewerin, Rosalia Romaniec, einer gebürtigen Polin. Die das gesamte Interview mit sehr manipulativen Fragen führte und zum Teil eher eine polnische Sicht vertrat.
Die erste Frage lautete beispielsweise: "Wie besorgt sind sie über die amerikanisch-russische Annäherung?" Ein typischer Fall einer Frage, die bereits die Richtung der Antwort impliziert. An anderen Stellen aber gab sie dann sogar selbst in Polen umstrittene Positionen wieder:
"Ziehen Sie auch in Betracht, dass es da einen Zusammenhang zwischen Russland und dieser islamistischen Gefährdung geben könnte?" ist da noch das harmlose Beispiel, wenn auch himmelweit entfernt von allem, was man über islamistische Terroristen wissen kann, deren große Zeit damals in Afghanistan begann, als die USA Gestalten wie einen gewissen Osama bin Laden als Gegner der Sowjetunion aufbauten und bewaffneten.
Die Passage, die im Mainstream besonders gern zitiert wird – seine Aussage, Russland wolle austesten, ob der Artikel 5 der NATO noch halte –, ist übrigens ein weiterer Fall, bei dem ihm die Interviewerin die Richtung vorgegeben, ja, im Grunde die Aussage geradewegs in den Mund gelegt hat (auf seine Antwort gehe ich weiter unten noch ein). Es geht aber noch irrer:
"Die irreguläre Migration ist aber ein Instrument der Destabilisierung, der politischen Destabilisierung. In Polen wurde ganz klar die Migration zum Beispiel aus Belarus als Teil des hybriden Krieges definiert. Gilt das eigentlich auch für Deutschland?"
Diese Stelle ist der Höhepunkt der Übernahme einer Sicht aus polnischer Propaganda, was ja als Position einer polnischen Journalistin dennoch legitim wäre – nur tritt sie hier als Vertreterin der Deutschen Welle auf, des staatlich finanzierten deutschen Auslandssenders, dessen Aufgabe darin besteht, die deutsche Sicht auf die Welt zu verbreiten. In diesem Zusammenhang wird das eigenartig. Einer der Vorgänger Kahls, August Hanning, hatte Polens Regierung für den Anschlag auf die Nord-Stream-Pipeline zumindest mitverantwortlich gemacht und die Tat als "Staatsterrorismus" bezeichnet.
Nun ist es ein offenes Geheimnis, dass es trotz des polnischen Jubels damals eher die Vereinigten Staaten als Polen waren, die den Anschlag betrieben haben; aber dennoch würde man davon ausgehen, dass der Präsident des BND zumindest eine gewisse Skepsis Polen gegenüber wahrt. Schließlich gibt es außer dem Jubel des heutigen Außenministers Radosław Sikorski nach der Zerstörung von Nord Stream noch diverse andere Punkte, an denen man zumindest festhalten muss, dass das deutsch-polnische Verhältnis zuletzt von der polnischen Seite aus nicht unbedingt freundlich war.
Egal, beide, Romaniec und Kahl, feiern eine Vereinbarung über die engere Zusammenarbeit des BND mit dem polnischen Geheimdienst. Das Problem dabei: Oftmals führt eine derartige Zusammenarbeit dazu, dass man fast ganz auf eigene Erkenntnisse verzichtet und sich auf die Informationen des "Partners" verlässt. Was in diesem Zusammenhang nicht wirklich angeraten wäre. Erst recht nicht zu einem Zeitpunkt, da Polen anstrebt, eine der größten Armeen Europas zu schaffen, und dort noch dazu zuletzt die Vorstellung auftauchte, man wolle eigene Atomwaffen.
Kahl wiederum bedient vollständig die Erzählung von der Bedrohung aus dem Osten, auch wenn ihm die rabiate Polin an manchen Stellen zu weit geht, die unter anderem andeutet, unter einer US-Geheimdienstchefin Tulsi Gabbard müsse man ja eigentlich die Zusammenarbeit mit den US-Diensten einstellen, weil Gabbard zu "russlandfreundlich" sei.
"Wir haben hybride Einflussnahmen gesehen, auch während der Wahlen, die in Europa stattgefunden haben, bis hin zu Sabotagehandlungen, auf deutschem Gebiet, auf dem anderer europäischer Staaten, die doch in einer robusten Art und Weise ausgeführt werden, die ohne Beispiel ist in der letzten Vergangenheit."
Wer immer genau betrachtet, was in den vergangenen Jahren alles als "russische Sabotage" gehandelt wurde, hat daran ausgeprägte Zweifel. Sowohl im analogen als auch im digitalen Raum. Beispielsweise die Geschichte mit den so gefährlichen "Doppelgänger"-Seiten, die sich schon rein quantitativ als absoluter Flop erwies. Aber das ist ja noch nicht einmal Kahls Zuständigkeit – das mit dem Ausland in Auslandsnachrichtendienst ist überaus ernst gemeint. Deutschland ist kein Arbeitsgebiet für den BND, Spionageabwehr ebenfalls nicht, obwohl Kahl, auch wenn er sich andernorts zur "Bedrohung" äußert, sich nie auf Erkenntnisse aus dem Ausland bezieht.
Die "russischen Aktivitäten", so Kahl, gingen "über das gewöhnliche Maß von Spionage weit hinaus". Das ist eine interessante Feststellung, vor allem angesichts der Tatsache, dass die Spionage der US-Dienste in Deutschland extrem umfangreich ist, man erinnere sich nur an das abgehörte Handy von Angela Merkel. Eine Geschichte, an die sich auch Kahl noch erinnern können müsste. Was also ist das "gewöhnliche Maß von Spionage"? Das Problem dabei ist nicht nur, dass Kahl selbst dies nur mit weitaus friedlicheren Zeiten vergleichen kann, als noch keine westlichen Raketen auf russisches Gebiet abgeschossen wurden, sondern außerdem in den Zeiten des Kalten Krieges die Zuständigkeiten recht klar verteilt waren: Die Bundesrepublik war das Spielfeld der Hauptabteilung Aufklärung der DDR. Übrigens, in früheren Jahrzehnten hätte jeder Mitarbeiter der Kahlschen Behörde neidlos eingestanden, dass diese ein paar Qualitätsstufen besser war als der damalige Pullacher Laden.
Jedenfalls ist es ein wenig schwierig, dieses "gewöhnliche Maß an Spionage" zu definieren. Immerhin, der BND war Anfang der 1990er massiv daran beteiligt, die Banderisierung der Ukraine einzuleiten. Kein Wunder, da die OUN schon seit Ende der 1950er über den BND und nicht die CIA oder den MI6 geleitet wurde und nicht aus reinem Versehen in München saß. Das sollte Kahl eigentlich wissen können. Vor allem, da er selbst neben seinem Jurastudium in Bonn an der katholischen Journalistenschule in München studiert hat, ihm die Gegend also alles andere als fremd sein dürfte.
Kahl war viele Jahre ein enger Mitarbeiter von Wolfgang Schäuble, und er hat zuvor über einen Mann promoviert, von dem Schäuble bekanntlich sehr angetan war: Das Thema war Elemente des katholischen Denkens in der politischen Theorie von Carl Schmitt, dem staatsrechtlichen Vordenker der Nazis.
Die Journalistenschule übrigens wurde, das nur für jene, die mit innerkatholischen Auseinandersetzungen vertraut sind, von einem Jesuiten gegründet. Was etwas irritiert, da die in dem Interview spürbare Nähe zu Polen dann eher auf Opus Dei verweist, den schärfsten Gegner der Jesuiten (und weitaus kompatibler zu Carl Schmitt).
Da gibt es übrigens noch eine ganz alte Geschichte – die ukrainischen Nationalisten waren in den ersten Anfängen, noch lange vor den Zeiten von Bandera, eng mit dem vatikanischen Geheimdienst verbunden, der sie dann später an die Nazis gewissermaßen abtrat.
Aber zurück zu Kahl. Er hat zwanzig Jahre lang unter Wolfgang Schäuble gearbeitet. Schäuble war ein beinharter Reaktionär, und, wenn man sich an sein Verhalten in der Eurokrise erinnert, historisch gesehen keine angenehme Gestalt. Aber dumm war er mit Sicherheit nicht.
Auch Kahl ist nicht dumm. An den Stellen des Interviews, an denen er der von Romaniec vorgegebenen Richtung ausweicht, wird das erkennbar. Und aus seiner Biografie lässt sich ersehen, dass er Russisch gelernt hat, noch in seiner Zeit bei der Bundeswehr. Wie erklärt sich dann seine Aussage in dieser Passage?
"Meine Aufgabe ist es ja, aufzuklären, was sich im Ausland tut an Bedrohung, und in der Tat habe ich darauf hingewiesen, dass es in Russland Überlegungen gibt, den Artikel 5 zu testen in seiner Zuverlässigkeit. Und in der Tat hat es in der jüngsten Zeit außerhalb der Nachrichtendienste ganz konkrete Stimmen gegeben, in den normalen Medien, aus Russland, die gesagt haben, der Artikel 5 hält nicht mehr. Wir hoffen sehr, dass das nicht stimmt und dass wir nicht in die Verlegenheit kommen, dass es getestet wird, aber dass es Russland will, uns testen, die Einheit des Westens auf die Probe zu stellen, davon müssen wir ausgehen."
Es hat "Stimmen gegeben, in den normalen Medien, aus Russland"? Das wäre akzeptabel, wenn das irgendein Politiker aus dem, sagen wir mal, niedersächsischen Hinterland sagt, aber ein BND-Chef? Der Kern seiner Aufgabe ist nicht nur das Sammeln, sondern auch die Bewertung von Informationen. Was bedeutet – wenn etwas in einer Zeitung steht, sagt das erst einmal gar nichts, außer, dass es in der Zeitung steht. Welche Rolle spielt diese Zeitung, welche Rolle der Autor, und wie ist die Bedeutung dieser Aussage im Kontext der Gesamtdebatte? In Russland wird weit mehr Bandbreite zugelassen als derzeit in Deutschland; da ist die Bewertung einfach, da ohnehin in so gut wie allen Medien das Gleiche steht, einzig der Grad der Kriegslüsternheit unterscheidet sich noch.
Diese Aussage ist so ungenau, so pauschal, dass es für sie nur zwei Erklärungen gibt. Die erste wäre, der Mann ist dumm und hat keine Ahnung, auch handwerklich nicht. Das ist im Grunde ausgeschlossen. Er ist nicht dumm, er hat mit Sicherheit schon in seiner Zeit an der Journalistenschule gelernt, dass es nicht allein auf das Faktum einer einzelnen Aussage ankommt, sondern auf ihren Kontext, und er wäre sogar imstande, sich selbst ein Bild zu verschaffen.
Damit bleibt nur die zweite Erklärung: Er spricht aus Überzeugung und gegebenenfalls auch wider besseres Wissen. Die Agenda ist wichtiger als die Erkenntnis. Das ist ein Problem, weil das, was der BND liefert, eine Entscheidungsgrundlage für die Politik darstellt. Wenn die Informationen, die ein Nachrichtendienst am Ende liefert, der propagandistischen Vorgabe einer Agenda folgen, sind sie nutzlos, weil sie ihre entscheidende Funktion, Fehlentscheidungen zu verringern, nicht mehr erfüllen können.
Gehen wir jetzt zu der Passage, in der er womöglich mehr verraten hat, als er wollte. Romaniec liefert auch hier das Stichwort, treu den NATO-Vorgaben, und fragt:
"Also sprechen wir von dieser Zeitperspektive 2030, 2029, gehen Sie davon aus, dass das tatsächlich die Zeitspanne ist, über die wir sprechen?"
Diese "Zeitperspektive" entstammt den NATO-Planungen; sie findet sich immer wieder, auch in den zumindest teilweise öffentlich gewordenen Plänen der Bundeswehr (samt all ihren oft extrem unrealistischen Annahmen). Zu diesem Zeitpunkt wird immer wieder behauptet, soll Russland "die NATO" angreifen wollen. Es wird im Grunde nie erklärt, zu welchem Zweck es das eigentlich wollen soll; Romaniec stellt diese Vorstellungen natürlich nicht in Frage, sondern will von Kahl nur eine Bestätigung abrufen. Die Antwort ist allerdings durchaus interessant:
"Diese Zeitspanne ist gegründet auf ganz fundierten Daten, aber sie ist natürlich auch abhängig von zeitlichen Entwicklungen. Also wenn eine kriegerische Auseinandersetzung in der Ukraine früher zum Stillstand kommt, dann sind natürlich all die Mittel, sowohl die technischen wie materiellen Mittel, wie Rüstung, als auch die personellen Mittel, wie Rekrutierung, sehr viel früher in der Lage, eine Drohkulisse gegen Europa abzugeben, und dann kann es auch sein, dass eine konkrete Gefährdung, eine Erpressung vielleicht von russischer Seite gegenüber den Europäern früher stattfindet, als wir das früher berechnet haben. … Ein frühes Kriegsende in der Ukraine befähigt die Russen, ihre Energie dort einzusetzen, wo sie sie eigentlich haben wollen, nämlich gegen Europa."
Eine Zeitspanne, die auf "ganz fundierten Daten" beruht? Und jetzt ist da das Problem, dass diese Zeitspanne nicht mehr stimmt? Wer hat diese Berechnungen durchgeführt, auf Grundlage welcher Daten, und vor allem, wann haben sie stattgefunden?
Für jeden, der den Beginn des Ukraine-Kriegs im Jahr 2014 kennt und nicht an das Märchen vom "unprovozierten russischen Angriffskrieg" glaubt, sondern weiß, dass – von westlicher Seite – der Angriff auf den Donbass für einen Zeitpunkt im Frühjahr 2022 geplant und vorbereitet war, ist das keine unwichtige Frage. Die vergleichsweise schnelle und uniforme Reaktion des Westens im Februar/März 2022 wie auch die Sabotage der Verhandlungen in Istanbul im April 2022 deuten darauf hin, dass die Planungen mit langem Vorlauf stattgefunden hatten. Nichts an dieser Reaktion war spontan, das war ein Drehbuch. Inzwischen wurde ja sogar eingestanden, das Ziel des ganzen Gemetzels sei nie ein Sieg der Ukraine gewesen, sondern immer eine Schwächung Russlands; eine Berechnung, in der einige gravierende Fehler nicht mehr verleugnet werden können.
Jedenfalls ist die Bemerkung, der Krieg in der Ukraine sollte eigentlich bis 2029 oder 2030 andauern, ein weiteres Eingeständnis. Das mit der Erpressung ist Quatsch, da liefert er Propaganda; aber der Zynismus dieser Planungen, der sich in Kahls Aussage zeigt, ist wirklich atemberaubend. 2029 oder 2030, das hieße tatsächlich "bis zum letzten Ukrainer", und vermutlich müsste dann noch nachgelegt werden, mit Rumänen beispielsweise. Und dann kommt der böse Donald Trump und bringt den ganzen Zeitrahmen durcheinander, den man sich so schön ausgedacht hatte, in dem man in einer ersten Angriffswelle die Slawen verheizt, um dann …
Das ist das große Problem dabei. Es gibt unzählige Hinweise darauf, dass die russische Position grundsätzlich defensiv ist, angefangen mit der Architektur sowjetischer Anlagen. Auch die starke Betonung der Luftabwehr ist ein Beispiel für eine im Kern defensive Orientierung. Die alte Legende des Kalten Krieges, die Sowjetunion wolle den Westen überfallen, hatte nie einen wahren Kern.
Kahl müsste als BND-Chef die Geschichte seiner eigenen Behörde kennen und wissen, dass die Unterlagen, die einst ein gewisser Reinhard Gehlen des Nazi-Militärgeheimdienstes Fremde Heere/Ost den Amerikanern andrehte (womit er sich und tausende Kriegsverbrecher ans sichere Ufer beförderte) Fälschungen waren. Die Bedrohung durch die Sowjetunion, die als Begründung für den Kalten Krieg diente, war eine Erfindung.
Weshalb jemand, der dem Apparat vorsteht, den ebendieser Reinhard Gehlen in der Folge aus vielen dieser Kriegsverbrecher geschaffen hat, derartigen Erzählungen gegenüber besonders skeptisch sein sollte. Außer natürlich, da ist eine eigene Überzeugung, die dazu drängt, unpassende Wahrheiten zu ignorieren. Um die Rettung eines Haufens von Kriegsverbrechern kann es diesmal jedenfalls nicht gehen.
Kahl kann es nicht nur, er muss es besser wissen. Er lügt aus Überzeugung. Vielleicht hat ihm ja Schäuble, immer ein entschiedener Vertreter von Deutschropa, den Floh ins Ohr gesetzt, und er folgt nur weiter einem Plan, der auf eine deutsche Dominanz in Westeuropa abzielt; allerdings dürfte sich auch der erledigt haben, wenn die Industrie weiter in diesem Ausmaß geopfert wird, woran selbst der irrwitzige Rüstungsplan des Herrn Merz wenig ändert. Woher er auch immer seine feste Überzeugung nimmt, Russland habe nichts Besseres zu tun, als Westeuropa anzugreifen, für die derzeit eigentlich lebenswichtige Aufgabe, den Wahn vieler Politiker durch nüchterne Fakten zu korrigieren, ist er unübersehbar völlig untauglich. Nicht mangels Fähigkeit, sondern mangels Willen. Ein Nachrichtendienstchef, der auf diesen Wahn noch einen drauflegt und auf mehr Krieg in kürzerer Zeit drängt, ist der falsche Mann an dieser Stelle, sofern man die Interessen der Deutschen im Blick hat.
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