Von Fjodor Lukjanow
Die bahnbrechende Rede von US-Vizepräsident J.D. Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz am Freitag wurde auf verschiedene Faktoren zurückgeführt. Manche sagen, es sei ein Racheakt gewesen. Jahrelang wurden Donald Trump und seine Anhänger von den westeuropäischen Führern angeprangert, ohne daran zu denken, dass sie eines Tages für ihre Worte einstehen müssten. Nun ist dieser Tag gekommen, aber die EU reagiert darauf fassungslos und fragt sich: "Warum wir?"
Doch abgesehen von persönlichen Kränkungen gibt es auch eine tiefere ideologische Divergenz. In vielerlei Hinsicht spiegelt Vances Kritik an den Europäern dieselben Vorwürfe wider, die die Siedler der Neuen Welt vor Jahrhunderten gegen den Alten Kontinent erhoben: Tyrannei, Heuchelei und Parasitentum. Die Ablehnung der europäischen politischen Traditionen bildete vor dreihundert Jahren das ideologische Fundament des US-amerikanischen Staates. Nun hat sich der Streit darüber, was wahre Demokratie ausmacht, von einem inneramerikanischen zu einem transatlantischen Streit entwickelt, und sein Ausgang wird die Zukunft prägen.
Doch das wichtigste Element von Vances Rede geht über Personalien oder ideologische Streitfragen hinaus. Sie spiegelt eine grundlegende weltpolitische Wende wider. Die Schlüsselfrage lautet heute, ob der Kalte Krieg des zwanzigsten Jahrhunderts endgültig beendet oder auf unbestimmte Zeit fortgesetzt werden soll. Westeuropa beharrt auf Letzterem – nicht, weil es eine umfassende Strategie verfolgt, sondern weil es ihm nicht gelungen ist, seine ehemaligen Gegner friedlich zu integrieren. Die USA hingegen scheinen bereit zu sein, den Blick in die Zukunft zu richten.
Diese Wende ist weder Trump noch Vance zu verdanken, sondern vielmehr den sich wandelnden Prioritäten der Vereinigten Staaten. Die Abkehr von Europa begann unter US-Präsident George W. Bush und wurde seitdem unter jedem US-Präsidenten fortgesetzt. Trump sprach lediglich das laut aus, was seine Vorgänger lieber unausgesprochen ließen.
Für Westeuropa geht es bei dem Festhalten an dem ideologischen und geopolitischen Rahmen des Kalten Krieges ums Überleben. Die Aufrechterhaltung der alten Ordnung ermöglicht es der EU, ihre zentrale Rolle im Weltgeschehen beizubehalten und – was noch wichtiger ist – ihren bereits angespannten inneren Zusammenhalt zu bewahren.
Für die Vereinigten Staaten hingegen eröffnet die Abkehr von den Strukturen des Kalten Krieges die Möglichkeit, sich auf aktuelle und zukünftige Herausforderungen zu konzentrieren – nämlich auf China, den Pazifik, Nordamerika und die Arktis. In keinem dieser Bereiche kann Westeuropa seine unentbehrliche Rolle unter Beweis stellen, aber es kann als kostspieliger ablenkender Reiz auftreten.
Dies führt zu einer unerfreulichen Schlussfolgerung: Die EU hat ein Eigeninteresse daran, die Spannungen so weit zu eskalieren, dass selbst die zurückhaltende US-Regierung nicht mehr länger untätig bleiben könnte. Die eigentliche Frage ist nun, ob die Alte Welt in der Lage ist, die Ereignisse in diese Richtung zu lenken.
Übersetzt aus dem Englischen.
Fjodor Lukjanow ist Chefredakteur von "Russia in Global Affairs", Vorsitzender des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik und Forschungsdirektor des Internationalen Diskussionsklubs "Waldai".
Mehr zum Thema - J.D. Vance in München: Zensur in der EU schadet der Demokratie und schafft Probleme