Von Sagan nach Spremberg gegen Moskau? Wie ein Gedenkmarsch ein Kriegsbündnis schmiedet

Die Ausgrenzung der Russen beim Kriegsgedenken fällt nur wenigen Bundesbürgern noch auf. Im Gedenkjahr 2025 wird die Erinnerung an das Kriegsende 1945 instrumentalisiert ‒ im aktuellen Konflikt gegen Russland, den Rechtsnachfolger der Sowjetunion.

Von Astrid Sigena 

Die 1940er Jahre zeichneten sich durch einige besonders kalte und lange Winter aus, fast so, als ob die Natur die Grausamkeit der Menschen noch übertrumpfen wollte. Dies traf besonders die Bewohner des belagerten Leningrads, denen zusätzlich zum von den Deutschen und ihren Verbündeten verhängten Hunger auch noch eine arktische Kälte (bei Heizungs- und Stromausfall!) zusetzte. Das traf aber auch 1944/45 die Flüchtlinge aus den deutschen Ostgebieten und im Winter 1946/47 das verwüstete Nachkriegsdeutschland.

Zu den weniger bekannten Opfern von Krieg und unwirtlichen Witterungsverhältnissen gehören Kriegsgefangene aus der englischsprachigen Welt (USA, Großbritannien, Kanada, Neuseeland), die Anfang 1945 von den nationalsozialistischen Behörden zu Evakuierungsmärschen gezwungen wurden. In der anglophonen Militärhistorie ist von einem "death march" die Rede, häufiger jedoch von "the long march".

Dieselbe Oder-Weichsel-Operation der Roten Armee, die das Konzentrationslager Auschwitz befreite, brachte die sowjetischen Soldaten auch in Reichweite des niederschlesischen Sagan (heute Żagań auf der polnischen Seite der deutsch-polnischen Grenze). Damals befand sich in Sagan das Kriegsgefangenenlager Stalag Luft III. Der Beiname weist schon darauf hin, dass dort abgeschossene Piloten der Alliierten interniert waren (neben tausenden Angelsachsen auch 200 Polen). Berühmt wurde dieses Kriegsgefangenenlager durch die Flucht einiger Gefangener im März 1944 aus ihrem angeblich ausbruchssicheren Gefängnis mithilfe eines Fluchttunnels. Die meisten der Ausbrecher wurden allerdings bald wieder gefangen, mehr als die Hälfte von ihnen durch die SS oder Gestapo entgegen der Haager Konvention erschossen.

Sollten ihre überlebenden Kameraden angesichts des Nahens der Front auf eine Befreiung durch die Rote Armee gehofft haben, so sahen sie sich darin bitterlich getäuscht. Sie wurden bei minus 20 Grad auf einen dreitägigen Evakuierungsmarsch ins brandenburgische Spremberg gezwungen. Fast hundert Kilometer in drei Tagen – normalerweise für trainierte Soldaten zu bewältigen, aber nicht bei Eiseskälte, Hunger und Luftalarm. Wie viele Kriegsgefangene ums Leben kamen, ist nicht bekannt, auch nicht, wie viele deutsche Zivilisten (die ja ebenfalls evakuiert wurden) dabei umkamen.

Das US Department of Veterans Affairs (Quelle Nr. 11 der englischsprachigen Wikipedia) geht insgesamt von 3.500 Kriegsgefangenen aus den Vereinigten Staaten und dem Commonwealth aus, die hauptsächlich infolge dieser Zwangsmärsche (nicht nur aus Sagan, sondern auch aus anderen Lagern) starben, bei insgesamt 94.000 gefangenen US-Amerikanern und 180.000 Kriegsgefangenen aus dem Commonwealth. Von diesen 274.000 Kriegsgefangenen sollen rund 80.000 von den Zwangsmärschen betroffen gewesen sein (ob ausschließlich US-Amerikaner, Polen und Commonwealth-Soldaten, verrät die Quelle nicht). In Spremberg angekommen, wurden die überlebenden Kriegsgefangenen dann auf andere Lager verteilt, die weiter entfernt von der Front lagen.

Das Besondere an dem Marsch nach Spremberg liegt unter anderem auch darin, dass einerseits deutsche Zivilisten an der Wegstrecke den alliierten Gefangenen mit Wegzehrung halfen und es andererseits angesichts der mörderischen Wetterbedingungen zu gewissen Verbrüderungstendenzen zwischen Bewachern und Bewachten kam.

Seit rund 20 Jahren vollziehen nun US-Amerikaner, Polen, Briten, Australier und Neuseeländer das Martyrium ihrer Vorfahren nach, indem sie in einem "Ex Long March" den Weg von Żagań über Bad Muskau (bei der Tagesschau wechselweise als "Moskau" oder "Bad Muskał" verstümmelt) nach Spremberg nachgehen, wie wir aus einem Interview der ARD mit dem Organisator Howard de Lestre erfahren. Es handelt sich zumeist um Armeeangehörige dieser Nationen, aber auch um Nachkommen der damaligen Kriegsgefangenen. Dieses Jahr nahmen erstmals auch "Veteranen der Bundeswehr" an dem Marsch teil. Bei den US-amerikanischen Teilnehmern handelt es sich um in Polen stationierte GIs. In Bad Muskau wurden die tapferen Marschierer mit Bratwurst und Süßigkeiten traktiert.

Gegen all das ist überhaupt nichts einzuwenden, im Gegenteil, es ist angebracht, dass die Nachfahren der Leiden ihrer Vorfahren gedenken. Zweierlei stimmt allerdings bedenklich: Erstens ist anscheinend nicht jedes Gedenken erwünscht. So wurden kürzlich nicht nur auf dem großen Friedhof in Halbe (RT DE berichtete), sondern auch in Spremberg Kerzen abgeräumt, die zum Gedenken an die Weltkriegstoten dort aufgestellt wurden. Wenn Deutsche ihrer Toten gedenken, ist es auf einmal problematisch?

Und zweitens: Die Russen fehlen. Auch wenn es einem an die grassierende Russophobie gewöhnten BRD-Bürger nicht mehr auffallen mag (und gerade das ist das Schlimme, dass die Ausgrenzung der Russen gar nicht mehr auffällt): Mit Russland als der Nachfolgenation der Sowjetunion fehlt ein wichtiger Akteur der damaligen Ereignisse um Sagan und Spremberg. Die Deutschen als die früheren Kriegsgegner lädt man ein, die Russen als die früheren Verbündeten nicht.

Überhaupt wäre es kaum vorstellbar, dass russische Soldaten in Erinnerung an die Leiden ihrer Vorfahren einen Gedenkmarsch in Deutschland oder Polen durchführen könnten. Es werden gedenkwilligen Deutschen und Russen ja schon die Feierlichkeiten am 9. Mai nach Möglichkeit schwer gemacht. Georgsbänder und Siegesfahnen werden Jahr für Jahr in Berlin verboten, ja nahezu alle Symbole, die auf eine nationale Identität hinweisen könnten. So zum Beispiel auch die russische Fahne.

Nicht nur, dass die Russen fehlen ‒ mit der Politisierung des Spremberger Gedenkmarsches wird sogar eine neue Allianz gegen Moskau geschmiedet: Denn den Aussagen von Initiator Howard de Lestre zufolge geht es nicht nur um die Ehrung der Toten und der Überlebenden des Todesmarsches, sondern auch um die "aktuellen Konflikte in der Welt und insbesondere in der Ukraine" (wer hätte das gedacht!).

Für die US-Soldaten und ihre britischen Kameraden sei es "eine Gelegenheit, um an unsere NATO-Partner in Polen und Deutschland zu denken". Es sei wichtig, zusammenzukommen und über die gemeinsame Zukunft nachzudenken. Man wolle die Partnerschaft zwischen diesen Nationen und das, wofür sie stünden, in einen Rahmen bringen. Es ginge "um die Freiheit und die Einheit Deutschlands, Polens, Großbritanniens, Amerikas. Um das Zusammenstehen, weil wir für ein gemeinsames Ziel stehen." Man wolle das, was heute in der Welt geschehe, in den Kontext dessen stellen, was in der Geschichte passiert sei. Die Russen als die Bösen, vor denen damals Angelsachsen, Polen und Deutsche gleichermaßen fliehen mussten? Und gegen die es sich heute wieder zu wehren gilt?

Hier wird nicht Versöhnung zwischen den Völkern geübt, hier wird ein neues Bündnis geschmiedet. Und das ist gegen Osten gerichtet, wie der Ukraine-Bezug andeutet. Es gilt Acht zu geben, dass der "Ex Long March" nicht zu einem langen Marsch nach Osten, gegen Moskau, wird ‒ Angelsachsen, Deutsche und Polen vereint gegen Russland.

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