Das Rätsel um den Magdeburger Attentäter

Dieses Ereignis passt erst einmal in kein Schema. Und das sollte motivieren, Fragen nach den Auslösern zu stellen, statt eilig nach dem passenden Etikett zu suchen. Denn das war nur eine kleine Eruption aus einer großen Magmakammer.

Von Dagmar Henn

Gerade wird eifrig daran gearbeitet, aus dem Terrorangriff auf den Magdeburger Weihnachtsmarkt eine politisch nützliche Geschichte zu machen. Etwa, der Täter sei AfD-Anhänger gewesen. Aber in Wirklichkeit passt auf den Mann, der gestern Nacht festgenommen wurde, keines der vorhandenen Etiketten. Und das ist in sich bereits ein Teil der Antwort auf die Frage, wie es dazu kommen konnte.

Ein fünzigjähriger Psychiater saudi-arabischer Abstammung, der in der forensischen Psychiatrie tätig war, Flüchtlingsaktivist, vehement antiislamisch, da scheitert die Sortiermaschine der deutschen politischen Debatte. Er definierte sich erst vor wenigen Tagen als "Linker", teilte aber dennoch Aussagen der AfD. Dann war er offenbar auch noch Zionist. Und warum verübt so jemand dann einen Anschlag auf Deutsche, in einer Weise, mit der er sich genau jenen angleicht, die er so erbittert bekämpfen will?

Ja, natürlich kann es sein, dass das eine Art "False Flag" hätte werden sollen, die aus irgendeinem Grund schiefgelaufen ist. Dass das Ziel des Täters darin bestand, einen islamistischen Anschlag zu simulieren, weil das eine Wirkung ausgelöst hätte, die seiner Überzeugung entsprach, und er nur vor Vollendung des Plans aufgehalten wurde. Aber selbst wenn dem so gewesen sein sollte, gibt es immer noch die Seite des persönlichen Motivs.

Denn selbst wenn die Konflikte eines anderen Landes immer im Koffer der Migranten mitreisen – nach achtzehn Jahren in Deutschland, im Fall des Verdächtigen mehr als ein Drittel seines Lebens, ist dieses Gepäck nur dann noch von derart großer Bedeutung, wenn auf der anderen Seite der Mensch selbst eben nicht wirklich angekommen ist.

Selbstverständlich kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass da eine externe Kraft das Angebot genützt hat, das ein derart tief beschädigter Mensch darstellt. Auch dafür gibt es reichlich Beispiele, bei denen Motiv und Absichten der genutzten Person nicht wirklich etwas mit Motiv und Absichten der Nutzer verbindet, weil das Ziel das Chaos an sich ist.

Und man wird nicht umhin können, zu fragen, warum ausgerechnet in einer Psychiatrie keiner der Arbeitskollegen bemerkt hat, dass da etwas gewaltig aus dem Ruder läuft. Wo, wenn nicht dort, ist man versucht zu fragen. Vor allem, wenn die Warnung der saudischen Behörden nicht in der Bürokratie versumpft sein sollte.

Aber dennoch ist es wichtig, nachzuverfolgen, wie es dazu kommen konnte, dass dieser Mann sich ein Auto mietete, um damit in eine Menschenmenge zu fahren. Tatsächlich ist das die wichtigste Frage, wenn es darum geht, wie sich derartige Schrecken verhindern lassen könnten.

Auf seinem Twitter-Account lässt sich ungefähr eine Geschichte nachverfolgen, die sich bereits vor einigen Jahren zugetragen hatte. Der Mann hatte sich bemüht, Frauen die Flucht aus Saudi-Arabien zu ermöglichen und in Deutschland Asyl zu bekommen. Dabei hatte er wohl mit einigen Personen zusammengearbeitet, mit denen es zu einem Konflikt gekommen war. Drei Schwestern waren bei einem seiner Verbündeten untergebracht gewesen und hatten von sexueller Belästigung berichtet.

Wie weit das tatsächlich sexuelle Belästigung gewesen war und wie weit eine Kollision unterschiedlicher Kulturen, lässt sich anhand seiner Darstellung nicht klären. Die Frauen jedenfalls hatten sich beklagt, ihr "Gastgeber" sei spärlich bekleidet oder gar nackt durch die Wohnung marschiert, sie hatten den Verdacht geäußert, er habe sich im Nebenzimmer befriedigt, außerdem habe er sie berühren wollen und ihnen Drogen angeboten.

Unser Psychiater jedenfalls hat sich daraufhin bemüht, diesen Vorfall vor Gericht zu bringen, und ist gescheitert. Seine Aussagen deuten auch an, dass es offenbar bei Weitem nicht so einfach war, das für die Frauen gewünschte Asyl zu bekommen, wie er das angenommen hatte.

Was in dieser Zusammensetzung einen einfachen Grund hat – in Deutschland wird sehr klar nach nützlichen und nicht nützlichen Flüchtlingen unterschieden, und die nicht nützlichen, die beispielsweise im Widerspruch zu den geopolitischen Interessen stehen, haben ausgesprochen schlechte Karten, offene Grenzen hin oder her. Wie sich im Fall ukrainischer Antifaschisten gut beobachten ließ. Oder derzeit bei Flüchtlingen aus dem Gazastreifen. Und darüber, wovor man aus Saudi-Arabien flüchten wollen könnte, soll eigentlich auch nicht gesprochen werden.

Aber woher sollte der Mann das wissen? Woher sollte er, 2006 nach Deutschland gekommen, wissen, wie sehr die "Willkommenskultur" des Jahres 2015 geheuchelt war? Es ist eines der Probleme, die Migranten haben, an jedem Ort und zu jeder Zeit, die inneren Widersprüche, die das Verhalten in einem Land prägen, nicht erkennen zu können. Wie viele ältere Deutsche widmeten sich damals der Flüchtlingshilfe, um einen jungen Liebhaber an Land zu ziehen? Wie viele Firmen sahen einfach eine gute Möglichkeit, Geschäfte zu machen, von den Anbietern der Unterkünfte über Flüchtlingsanwälte bis hin zu den Veranstaltern von Sprachkursen? Oder suchten nur nach einer Möglichkeit, das eigene Ego an der Hilflosigkeit anderer aufzupolieren und sich selbst damit auf einfache Weise zu bestätigen, ein guter Mensch zu sein?

Er hatte also Frauen nach Deutschland gebracht und jemanden für einen anständigen Verbündeten gehalten, der sich als schäbiger Profiteur erwies. Und er konnte – da erinnert er sogar ein wenig an die sehr deutsche Gestalt Michael Kohlhaas – nicht umgehen mit einem Scheitern am deutschen System, das ihm das verweigerte, was er als Gerechtigkeit hatte einfordern wollen.

Diese Geschichte mit den drei Frauen hatte sich bereits 2019 ereignet. Dass das fünf Jahre lang wohl ein beherrschendes Thema blieb, verleitet dazu, zu vermuten, dass da noch persönliches Leid eine Rolle spielte. Vielleicht hat er eine Schwester, der er nicht helfen konnte. Oder eine schwer traumatisierte Mutter. Dinge, die er theoretisch als Psychiater hätte entschlüsseln können müssen – aber die forensische Psychiatrie ist weitgehend eine Einrichtung zur medikamentösen Aufbewahrung, selbst wenn sie nicht ein solches Horrorszenario bietet, wie es im Fall Gustl Mollath bekannt wurde, und nicht jede psychotherapeutische Schule beschäftigt sich damit, wie Gefühle und Wirklichkeit miteinander zusammenhängen.

Vielleicht lässt sich auch seine vehement antiislamische Haltung aus Überforderung erklären. Die Variante, die er kennt, der Wahhabismus, ist ja nun bei Weitem nicht der ganze Islam, und über Jahrhunderte hinweg war die islamische Welt offener und toleranter als die christliche, schätzungsweise bis zum Ende der Hexenverbrennungen in Westeuropa vor etwa 250 Jahren. Nach den unzähligen Religionskriegen, mit denen die Reformation Europa beglückte, war die Anerkennung einer Gleichwertigkeit, wie sie etwa in Lessings "Nathan der Weise" zu finden ist, auch ein Ergebnis der Ermattung.

Aber dieses heutige Deutschland liebt die einfachen Antworten und verabscheut Differenzierungen. Wenn eines aus den wenigen Informationen zu entnehmen ist, die man sich über den Verdächtigen zusammensuchen kann, dann, dass er auf der Suche nach Verbündeten war. Was sicher nicht nur mit der politischen Geschichte zu tun hatte, damit, dass er es gewissermaßen für seinen Auftrag hielt, saudischen Frauen zur Flucht zu verhelfen, sondern auch mit der privaten Erfahrung der Migration – die eben in der Regel nicht so verläuft, wie das erzählt wird. Vielleicht hätte er zu einer differenzierteren Sicht gelangen können, wäre sie in der deutschen Gesellschaft im Angebot.

Ist sie aber nicht. Da gibt es die einen, die selbst die Kopfabschneider irgendwie toll finden, und die anderen, die die ganze Religion pauschal ablehnen. Dank der Tatsache, dass nur noch die wenigsten die Geschichte des europäischen Christentums gut genug kennen, um zu wissen, dass sich hinter unterschiedlichen religiösen Strömungen immer auch gesellschaftliche Konflikte verbergen, für die der Glaube letztlich nur die Sprache ist, in der sie sich ausdrücken, man das Gesprochene aber nicht der Sprache zum Vorwurf machen kann.

Auch diese deutsche Polarisierung mag in den politischen Aktivismus hineingespielt haben, der letztlich radikal genug wurde, dass die saudischen Behörden vor dem Verdächtigen warnten (selbst wenn man das bei Saudi-Arabien mit einer Prise Salz zu sich nehmen sollte). Dass sich dieses Deutschland nicht als die erwünschte bessere Heimat erwies, aber für das Leid und das Scheitern an der Migration nirgendwo Platz ist, es nirgendwo ausgesprochen werden darf, auf der einen Seite nicht, weil die bejubelten Migranten nur das Hilfsmittel zur eigenen Erhöhung sind, auf der anderen, weil ebendiese Migranten grundsätzlich abgelehnt werden. Es gibt keine Worte für das Nicht-Ankommen. Nicht in der alten Heimat, weil da das Märchen vom freien Europa im Weg steht, aber auch nicht in der neuen.

In den meisten Fällen führt das zu tiefen Depressionen, in manchen Fällen zu sichtbaren Explosionen von Gewalt. Das passierte übrigens schon ganz ohne geopolitische Verwicklungen, als Ergebnis der eben nicht beglückenden Migrationserfahrung. Man kann sich die US-Serie 1883 dazu ansehen, in der eine größere Gruppe europäischer Zuwanderer versucht, Neuland zu erreichen, und dabei vollständig untergeht – an einer Welt, die sie nicht versteht, an unbekannten Gefahren ebenso wie an den eigenen Erwartungen.

Das ist nicht nur eine Inszenierung einer historischen Situation. Das ist auch eine Metapher auf die Erfahrung der Migration jenseits der Märchen vom reich gewordenen Einwanderer. Selbst die fanatischsten Anhänger der Politik der offenen Grenzen würden, nähme man sie und versetzte sie in ein anderes Land, spätestens nach einem halben Jahr entdecken, dass sie doch Wurzeln haben, die sie weit tiefer mit dem Land verbinden, aus dem sie kommen, als sie jemals geahnt hätten.

Gestern Nacht, als die ersten Gerüchte von einem syrischen Täter sprachen, begann in den sozialen Medien das bereits eingeübte Theater. Da wurde beispielsweise sehr bald jubelnd getwittert: "Die Mitglieder der #AFD verbreiten im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Anschlag erneut zahlreiche Falschinformationen. Unter dem Hashtag #magdeburg habe ich bereits Strafanzeige gegen drei Personen erstattet." Oder es kamen die entsprechenden Kommentare, natürlich werde das jetzt für Hass und Hetze genutzt. Das typische Szenario, das seit der Kölner Silvesternacht vertraut ist, nur in jeder neuen Runde mit mehr Wucht. Aber schon damals wurde etabliert, dass man Rassist sein musste, wenn man darauf bestand, dass dort etwas passiert war.

Wenn das jetzt schlicht umgedreht und erklärt wird, der Anschlag in Magdeburg habe stattgefunden, weil der Verdächtige AfD-Posts geteilt hat, ist das nicht näher an der Wahrheit als die erste Variante. Die Beziehung des Verdächtigen zum Milieu der Migrationsbefürworter ist eher die eines abgewiesenen Liebhabers als die eines Gegners. Aber gleich, was sich die verschiedensten Beteiligten in den kommenden Wochen um die Ohren hauen werden, selbst wenn versucht werden sollte, aus diesem Angriff irgendwie so etwas wie ein Verbot von X oder noch mehr Zensur herauszuschütteln – was es wirklich bräuchte, wäre endlich ein Ansatz von Ehrlichkeit in der ganzen Migrationsdebatte. Ohne zu glorifizieren oder zu verteufeln, ohne die Frage der Menschlichkeit gegen die der Souveränität zu stellen, und ohne dieses grauenvolle Schweigen über das wirkliche Gesicht der Migration weiter aufrechtzuerhalten. Denn dieses Schweigen wird immer neue Gewalt gebären.

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