Von Alexej Danckwardt
Der rasante Fall des säkularen, laizistischen Syriens, von seinen Feinden und ihren bewussten oder auch nur schlecht informierten Unterstützern im Westen "Assad-Regime" genannt, kam für alle, die auf ein baldiges Ende der erdrückenden westlichen Hegemonie über unseren Planeten hoffen, wie ein Schock. Unter den Gegnern des US-Imperiums dominieren spätestens seit Sonntag, dem Tag, an dem Damaskus in die Hände islamistischer Dschihadisten fiel, deprimierte Reaktionen und Ratlosigkeit.
Das ist verständlich, denn Syrien war der erste Fels, an dem sich die Welle der von den USA inszenierten Farbrevolutionen des sogenannten "Arabischen Frühlings" zerschlug. Das Imperium musste erstmals seit dem Debakel in der Schweinebucht erleben, dass es nicht allmächtig ist, und wir alle schöpften daraus Hoffnung. Sein menschenverachtendes Ziel, eine ganze Weltregion in blutiges Chaos und Barbarei zu stürzen, schien ab etwa 2018 – wenn auch mit viel Kraftaufwendung und großen Opfern – abgewehrt. Widerstand lohnte sich und das machte Halbkolonien und den Völkern, die zum nächsten Opfer der mächtigen imperialen Dampfwalze auserkoren waren, Mut für ihren jeweiligen lokalen und den gemeinsamen, globalen Freiheitskampf.
Die Gewissheit, ein Land und die Vielfalt seines Volkes vor den Begehrlichkeiten der europäisch-nordamerikanischen Räuber und ihres willfährigen kopfabschneidenden Fußvolkes erfolgreich verteidigt zu haben, besteht seit Sonntag nicht mehr. Von Trump und Biden bis Macron und Scholz, die triumphierenden Reden der Sprechköpfe des Imperiums sind heute ebenso ohrenbetäubend wie die "Allahu akbar"-Rufe und das sie begleitende Gewehrfeuer in Damaskus.
Die Aussichten für andere Völker wirken trübe. Donald Trump hat die nächsten Ziele schon benannt: Iran und Russland. Der scheidende US-Präsident Joe Biden nannte sie auch und lobte sich selbst dafür, diese beiden Gegenspieler so geschwächt zu haben, dass sie Syrien nicht mehr helfen konnten. Das Imperium lässt sich von Niederlagen nicht beirren, es verfolgt seine Ziele unbeeindruckt weiter und arbeitet die Liste der zur Zerstörung und Versklavung auserkorenen Länder planvoll und mit großem Geschick ab. Es scheut weder Geld noch Mühen, und seine Strategien gehen auf, und zwar auf atemberaubend beeindruckende Weise. Das ist das vordergründige Fazit der zurückliegenden Tage und Wochen.
Die Niederlage des globalen Freiheitskampfes jetzt zu leugnen oder herunterzuspielen, wäre unaufrichtig, die darauf gerichteten Versuche wirken auch sehr unbeholfen. Es gibt nichts daran herumzudeuteln: Es ist eine schallende Ohrfeige und ein schwerer Schlag mit noch unvorhersehbaren Folgen nicht nur für das syrische Volk. Das Einzige, was hilft, ist eine ehrliche Analyse der Ursachen. Die richtigen Lehren müssen hier und heute gezogen werden, um weitere Katastrophen zu vermeiden.
Das Auffälligste an dem Showdown ist: Syrien ist nicht im Kampf gefallen, es ist gefallen, weil es sich selbst aufgegeben hat. Keine einzige nennenswerte Schlacht wurde geführt, Städte wurden kampflos aufgegeben, die syrische Armee und die Sicherheitskräfte des "Regimes" haben sich jedes Mal praktisch in Luft aufgelöst, in Aleppo, in Hama, in Homs, in Damaskus... Das nährt Spekulationen um Verrat im Inneren, und wir werden früher oder später mit Sicherheit mehr dazu erfahren.
Doch Verrat ist keine ausreichende Erklärung, er allein hätte bei der Vielfalt der Akteure im syrischen Bürgerkrieg nicht das Bild ergeben, das wir uns 14 Tage und Nächte lang ansehen mussten. Erinnern wir uns: Russland ist 2015 der völkerrechtlich legitimen syrischen Regierung zur Hilfe geeilt, weil sich die Syrer bis dahin tapfer, ja heldenhaft geschlagen hatten. Dass der damalige Kampfgeist jetzt nicht mehr vorhanden war, kann nur damit erklärt werden, dass Assad zwar den Krieg gewonnen, wohl aber den Frieden verloren hat.
Der wirtschaftliche Wiederaufbau des Landes kam nicht voran, die Lebensqualität des einfachen Syrers war 2024 vielfachen übereinstimmenden Zeugnissen zufolge schlechter als im schlimmsten der Bürgerkriegsjahre. Auch von grassierender Korruption wird berichtet. Und um die Lösung der politischen Probleme des Landes hat sich Assad ebenso wenig verdient gemacht: Eine das Land zusammenführende Verfassung wurde bis zuletzt nicht ausgearbeitet, Autonomielösungen für Minderheiten wie die Kurden lagen nicht auf dem Tisch, Versöhnungsversuche gab es nicht einmal auf der Ebene von Ritualen. Eine Generalamnestie für die Gegner im Bürgerkrieg hat es erst 2021 gegeben und man sagt, Moskau habe dafür Druck ausüben müssen. Etwas Geschichtsunterricht: In Sowjetrussland war der Bürgerkrieg nicht einmal vorbei, als die "blutrünstigen" Bolschewiki im Jahr 1921 die Generalamnestie für ihre Gegner, die "Weißen", verkündeten und die Todesstrafe im Jahr 1920 abschafften.
Sicher, bei alldem hätte Moskau noch mehr aufpassen und seine Hand am Puls der syrischen Gesellschaft halten müssen. Doch Russland kam nicht als Besatzungsmacht, und einen Oberlehrerton aus dem Kreml hätten die Syrer selbst nicht geduldet. Das ganz abgesehen davon, dass Russland aktuell ganz andere, existenzielle Sorgen hat. Mehr Einfluss hätte Teheran gehabt, aber Iran wusch am Montag seine Hände in Unschuld: Assad soll unbelehrbar gewesen sein, hieß es in einem Leitartikel in offizieller Presse.
Was den Aufbau der syrischen Wirtschaft anbelangt, so waren weder Moskau noch Teheran unter Sanktionsbedingungen in der Lage, mehr zu tun, als sie getan haben. Doch es gab jemanden, der mehr hätte tun können, und zwar spielend: Peking. Die Passivität und Halbherzigkeit der Volksrepublik beim Wiederaufbau Syriens sind auch die größte Enttäuschung der zurückliegenden sechs Jahre, in denen die syrische Chance verspielt wurde. Die chinesischen Genossen scheinen bis heute nicht verinnerlicht zu haben, dass es bei alldem auch um sie geht, und das nicht nur, weil sie die größten Profiteure einer multipolaren Weltordnung wären. Wenn sie weiter den "weisen" Affen aus der Fabel geben wollen, der beim Kampf des Tigers mit dem Krokodil auf einem Baum hockend zusieht, so sollte man sie daran erinnern, was Europäer in der "guten alten" Kolonialzeit so alles aus Affenköpfen zu basteln pflegten.
Das ausgeklügeltste "lange Spiel" endet prompt und unerwartet, wenn der Gegner einem das Spielbrett mit brachialer Gewalt auf den Kopf schlägt. Und das war schon immer der knapp vor dem Schachmatt gespielte "Spielzug" des Kollektiven Westens – haben die Genossen das etwa vergessen?
Im Moment vergießt nur das russische Volk das Blut seiner Söhne im Kampf gegen die Expansion des westlichen Imperiums. Niemand erwartet, dass China seine Soldaten nach Kursk oder Belgorod entsendet, und Russland hat auch keine andere Wahl als zu kämpfen, aber wenn sich das chinesische Engagement weiter auf diplomatisch dosierte Unmutsgesten gegenüber der deutschen Außenministerin beschränkt, muss Moskau schleunigst seine Strategie und seine China-Politik neu justieren. Wenn der Untergang ohnehin unvermeidlich ist, könnte es schon reizend sein, im letzten Atemzug den Deserteur und Blender, auf den man vergeblich zählte, zu bestrafen.
Eine weitere Lehre gibt es zu ziehen: Sowohl das Außenministerium Russlands als auch das offizielle Teheran in dem schon erwähnten Leitartikel deuten an, dass Assad sich zuletzt in Verhandlungen mit arabischen (waren da BRICS-Mitglieder dabei? Wenn ja, gilt es auch da einiges neu zu bewerten) und westlichen Ländern verstrickt hatte. Beide unterstreichen, dass weder Moskau noch Teheran daran beteiligt waren. Der iranische Leitartikel teilt sogar mit, dass man bis zur letzten Minute "hochrangige Berater" in Damaskus vorgehalten habe:
"Dieser Prozess setzte sich bis in die letzten Stunden des Sturzes von Assad fort. Die Anwesenheit iranischer Beamter auf höchster Ebene, die mit ihm zu verhandeln bereit waren, zeigte, dass Iran ernsthaft entschlossen war, Damaskus zu stärken. Doch Assad machte den strategischen – und für ihn selbst fatalen – Fehler, sich auf die Versprechungen anderer arabischer Länder und des Westens zu verlassen."
Und das sind sie, die wichtigsten Lehren aus der syrischen Katastrophe:
1. Ein Krieg, den man gewinnt, muss bis zum vollständigen Sieg oder bis zur vollständigen und bedingungslosen Kapitulation des Gegners geführt werden. Jeder "eingefrorene" Konflikt pflegt – zum für einen selbst ungünstigsten Zeitpunkt – wieder "aufzutauen".
2. Verhandlungen mit "Partnern", die für ihre Täuschungskünste bekannt sind, kann man führen. Man darf jedoch nie auf sie vertrauen und schon gar nicht darf man in Vorleistung gehen.
3. Das eigene Volk muss immer wissen, dass es für seine Zukunft kämpft, nicht für diejenige einer korrupten Oberschicht.
4. Jede Andeutung auf Verrat muss ausgemerzt werden, so früh und so konsequent, wie es nur irgend möglich ist.
Ansonsten gibt es – bis China erwacht – nur eine Erkenntnis, die Mut macht: Widerstand lohnt sich und der Westen ist nicht unbesiegbar. Das hat Syrien in den Jahren 2011 bis 2018 eindrucksvoll bewiesen. Und das hat es durch die Aufgabe des Widerstands im Jahr 2024 eben nicht widerlegt.
Und noch eins: Das russische Volk erlebte 1941 und 1942 bittere Niederlagen, die einen in die Verzweiflung trieben, zur Genüge. Es lernte aus ihnen, es lernte im Kleinen wie im Großen (mancher Befehl Stalins über militärische Selbstverständlichkeiten wirkt heute rührend), es raffte sich immer wieder auf. Erst dann kam Stalingrad.
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